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Seminararbeit / Hausarbeit

Wolfram von Eschen­bachs `Giburc`: Ihre Rollen als höfische Frau, Ehefrau und Herr­scherin

7.535 Wörter / ~24 Seiten sternsternsternsternstern Autorin Verena B. im Feb. 2017
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Seminararbeit
Deutsch

Universität, Schule

Bergische Universität Wuppertal

Note, Lehrer, Jahr

1,3, 2012

Autor / Copyright
Verena B. ©
Metadaten
Preis 8.00
Format: pdf
Größe: 0.18 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 62744







Wolfram von Eschenbachs "Giburc": Ihre Rollen als höfische Frau, Ehefrau und Herrscherin

1. Einleitung


In meiner Arbeit „Wolfram von Eschenbachs ,Giburc’ - Ihre Rollen als höfische Frau, Ehefrau und Herrscherin“1 werde ich analysieren, inwieweit Giburc ihre Rollen und die damit verbundenen Erwartungen und Aufgaben erfüllt. Schon beim Lesen der Lektüre fällt auf, dass die Protagonistin eine sehr facettenreiche Persönlichkeit aufweist und für eine Dame am Hofe mitunter ungewöhnliche Handlungen vollzieht.

Das Ziel meiner Arbeit wird es sein, neben der Definierung ihrer Rollen das teils ungewöhnliche, dem literarischen Ideal einer höfischen Frau widersprechende Verhalten Giburcs aufzudecken und zu belegen. Zudem werde ich erarbeiten, ob und inwieweit sich dieses ungewöhnliche Handeln mit ihren Rollen vereinbaren lässt. Aufgrund des begrenzten Umfangs meiner Arbeit werde ich die weitläufige Fragestellung, wie ungewöhnlich das Verhalten Giburcs im Vergleich zur Realität des mittelalterlichen Lebens sowie im Vergleich zu anderen Frauenfiguren des höfischen Romans ist, außer Acht lassen.

Denn auch innerhalb des „Willehalm“ selbst wird deutlich, dass Giburc nicht nur eine ungewöhnlich tapfere, mutige und selbstbewusste Figur darstellt, deren Verhalten nicht immer der mittelalterlichen Norm entspricht, sondern zudem eine Art „Zwischenfigur“ verkörpert. Aufgrund ihrer Konvertierung vom Heiden- zum Christentum und dem Bruch zur ihrer Familie steht sie zwischen zwei Religionen, zwei Heeren und zwei Familien.

Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich auch herausfinden, welchen Einfluss diese Position der Zwischenfigur auf Giburcs Rollen ausübt.

Für die Analyse der oben genannten Rollen werde ich Giburc im Hinblick auf diese zunächst charakterisieren und die Bedeutung dieser Eigenschaften für ihre Rollen herausstellen. Dabei werde ich auch ihr gegebenenfalls normabweichendes Verhalten aufdecken und belegen. Am Ende meiner Ausarbeitung widme ich mich dann Giburcs Position als Zwischenfigur und den Auswirkungen dessen auf ihre Rollen.

Im Schlusswort werde ich meine Untersuchungen dann in einer detaillierten Beschreibung ihrer Rollen als Frau, Ehefrau und Herrscherin zusammenfassen.2

2. Charakterisierung Giburcs und Analyse ihrer Rollen


Wie ich in der Einleitung bereits angekündigt habe, widme ich mich zunächst der Analyse der für Giburcs verschiedenen Rollen wichtigen Charakteristika. Bedeutsam für meine Untersuchungen ist hier das Verständnis von ihrer Rolle als Herrscherin. Giburc als Herrscherin meint hier keine gleichberechtigte, geteilte Markgrafenherrschaft mit Willehalm innerhalb derer sie offiziell an der Entscheidungsgewalt dessen beteiligt ist.

Als Herrscherin bezeichne ich vielmehr ihre Aufgabe der Vertretung Willehalms während seiner Abwesendheit sowie ihre Aufgaben als Markgräfin, beispielsweise beim Empfang von Gästen. Im Vordergrund ihrer Rolle als Herrscherin steht somit die Verteidigung der Stadt gegen die Heiden, nicht das Fällen politischer Entscheidungen.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften ist ihr Mut, der sie in keiner noch so brenzligen Situation verlässt. Er befähigt Giburc nicht nur dazu, sich ihren Mitmenschen konsequent und selbstbewusst entgegen zu stellen und ihre Ansichten und Interessen als Frau und Ehefrau durchzusetzen, sondern trägt auch in hohem Maße zur erfolgreichen Verteidigung der Stadt bei.

So hält sie innerhalb des Geschehens zweimal ohne die Hilfe Willehalms die ihr unterliegende Stadt Orange und verteidigt sie lediglich mit der Unterstützung der anderen Damen sowie mit der des Kaplans Stefan. Beim ersten Mal befindet sich der Markgraf in der Schlacht mit den Heiden und tarnt sich zum Schutz mit der Rüstung und dem Pferd eines besiegten Gegners.

Dies hat zur Folge, dass ihn der Kaplan am Stadttor nicht erkennt und ihm somit der Einlass verwehrt bleibt. Giburc selbst kommt in dieser gefährlichen Situation hinzu und überprüft den angeblich Fremden.3 Nachdem sie seine Identität sichergestellt hat und von Willehalm über die verheerende Schlacht informiert wurde, verzweifelt sie nicht, sondern ist fest entschlossen, ihr Leben und das der Untertanen zu schützen.

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Der Ernst der Lage ist ihr durchaus bewusst, wie ihre Aussage „al kristenlîchiu wer/ mac im niht widerrîten.“4 zeigt, dennoch verzagt sie nicht und ist bereit zu kämpfen. Ihre Entschlossenheit und ihren Mut verdeutlicht sie durch ihre Worte „’ez naehste gedinge ist unser leben, / daz sul wir niht sô gâhes geben: / si mugen wol schaden erwerben, / ê daz wir vor in sterben.“5.

Damit Willehalm Hilfe von seiner Familie erbitten kann, stellt sie sich erneut der Herausforderung, die Stadt zu verteidigen und ist dafür sogar bereit, ihr Leben zu opfern.6 Dass ihr großer Mut nicht selbstverständlich ist, wird durch die Bewunderung des lyrischen Sprechers deutlich, die er mit den Worten „manlîch sprach das wîp, / als ob si manlîchen lîp / und mannes herze trüege.“7 ausdrückt.

Dieses Kompliment wiederholt er an anderer Stelle und spricht ihr dort Unverzagtheit und mannhaftes Verhalten zu. Er geht sogar einen Schritt weiter und sagt eindeutig: „manlîch, ninder als ein wîp, / diu künegîn gebârte.“.8 Einen deutlicheren Beleg für ihr ungewöhnlich mutiges Verhalten, dass weit über das Maß einer höfischen Dame oder sogar das einer Frau überhaupt hinausgeht, gibt es nicht.9

Giburcs Mut und Entschlossenheit offenbart sich jedoch nicht nur in gefährlichen Kampfsituationen. Sie beweist ihn zudem, wenn auch in anderem Sinne als während der Belagerung durch die Feinde, gegenüber Willehalm. Aus Angst vor einer List verwehrt sie ihm den Einlass in die Stadt und fordert trotz der Befürchtung, ihren Gatten zu verärgern, mehrere Beweise für seine Identität.

Für den Leser erscheint diese Handlung völlig selbstverständlich und nachvollziehbar, doch im höfischen Mittelalter unterliegt die Frau den Wünschen und Anordnungen ihres Ehemannes, denen sie Folge zu leisten hat, auch wenn sie in der gesellschaftlichen Ordnung des höfischen Lebens und in der Dichtung weit über den Mann gestellt wird.10 Schumacher erklärt daher Giburcs Furcht wie folgt:

Auch […] Gyburc betrachte[t] ihren Gatten als ihren Herren, obgleich sie seinerseits mit höfischer Ehrerbietung behandelt [wird]. […] In welcher Form die Ehe auch geschlossen worden sein mag, in der Ehe ist die Frau bereit, sich den Wünschen des Gatten zu beugen […].11


Giburc befürchtet also, durch ihr langes Zögern den Unwillen ihres Gatten zu erregen und seine Huld zu verlieren, zum Schutze der Stadt riskiert sie dies aber.12 Um ihn zu besänftigen, verspricht sie ihm, sich in Furcht um seine Huld zu bemühen.13 Diese Untertänigkeit steht jedoch nicht im Widerspruch zu ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Eigenständigkeit, wie Schumacher betont.

Auch wenn sich Giburc in dieser Situation ihrem Mann gegenüber dienstbereit und ängstlich verhält, ist sie sich dennoch ihrer weiblichen Würde und ihren Aufgaben als höfische Frau sehr bewusst.14 Zum Ausdruck bringt sie das mit den Worten: „bî vriundîn vriunt ie ellen vant: / diu wîplîche güete / git dem man hôhgemüete.“15. Untertänigkeit geht somit nicht mit einer Beschneidung des Selbstbewusstseins und mangelnder Selbstachtung der Frau einher.

Bumke erklärt, dass es zwar in der Realität des Mittelalters durchaus kämpfende Frauen gegeben habe, das literarische Ideal von einer vollkommenen frouwe18 hingegen Passivität verlange.19 Offenbart wird diese Ansicht aber auch wieder anhand des Werks selbst durch die Anerkennung ihres Schwiegervaters Heimrich. Ihr Verteidigungskampf wird durch die indirekte Rede mit den Worten „er bat si’z willeclîchen nehmen: / swaz wurde aldâ von in verzert, / daz heten vrouwen hende erwert / gein starker vîende überlast.“20 gewürdigt.

Anhand dieser Formulierung, in der betont wird, dass es gerade Frauenhände waren, die diese Speisen verteidigt haben, wird deutlich, dass Giburcs Kampfbereitschaft nicht selbstverständlich für eine Frau ist. Ein weiterer und eindeutiger Beleg dafür ist die Ohnmacht, in die Giburc vor lauter Erleichterung über die nahende Hilfe fällt.21 Hier wird deutlich, dass Giburc trotz allen Mutes auch ihre weiche, verletzliche und schwache Seite hat.

Die Ohnmacht zeigt, dass Giburc während der Belagerung eine ungewohnte Rolle, nämlich die der Kämpferin, eingenommen hat, die sie viel Kraft gekostet hat. Die Ohnmacht zeigt zudem, in welch starkem Gegensatz diese Rolle zu der der Frau und Ehefrau steht. Es gelingt ihr nicht, problemlos von ersterer in letztere beiden zu wechseln. Wie das Verhalten Heimrichs jedoch zeigt, hat Giburcs normabweichendes Verhalten keineswegs einen negativen Einfluss auf ihre Rolle als vollkommene frouwe.

Im Gegenteil: Offenbar verfügt sie über ein solches Fingerspitzengefühl, dass die Übernahme der Rolle der Kämpferin ihrer Weiblichkeit keinen Abbruch tut, sondern ihren Ruhm und ihre Ehre sogar mehrt. Den Grund erklärt Schumacher folgendermaßen:

Das Waffen- und Rüstungstragen der Frau hatte Wolfram in der Antikonien-Episode des ,Parzival’ grundsätzlich verurteilt als einen Verstoß gegen ‚wîplîchez wîbes reht’ und gegen die dem weiblichen Wesen gebotene Zurückhaltung (kiusche), es sei denn, es geschehe aus triuwe […]. Es kann nicht bezweifelt werden, dass Gyburc aus triuwe gegen Willehalm handelt, wenn sie sich selbst und ihren Jungfrauen Rüstung anlegt, um die Feinde zu täuschen.22


Triuwe-bedingte Kampfbereitschaft ist somit kein Verstoß gegen die Anstandsregeln höfischer Damen und lässt sich sogar mit dem vollkommenen Verhalten solcher vereinbaren, wie Heimrichs Worte deutlich machen: „wir sulen iu immer triuwen jehen, / want wir haben an disen stunden / unverzagetlîch iuch vunden, / daz man Olivier noch Ruolant / nie genendeclîcher vant, / unt ist ouch daz mit kiuschen siten.“23

So gelingt es ihr beispielsweise während des Belagerungszustandes zum Schutze der Stadt, die Sarazenen in die Irre zu führen, indem sie den Toten Helme aufschnallt und sie an den Zinnen der Burg aufstellen lässt, um dadurch eine größere Truppe vorzugaukeln.24 Ihre Pfiffigkeit bekommt jedoch auch Willehalm bei seiner Rückkehr aus der Schlacht zu spüren. Da Giburc sich sorgfältig vergewissern möchte, dass wirklich ihr Gatte vor dem Tor steht, lässt sie sich allerhand einfallen, um ihn zu testen.

Erst nachdem er jede ihrer Prüfungen bestanden hat, ist Giburc von der Identität ihres Gatten überzeugt und öffnet ihm das Tor.25 Obwohl die Markgräfin durch ihre geringe Streitmacht militärisch unterlegen ist, behält sie in beiden genannten Situationen die Oberhand. Dies gelingt ihr allerdings nur, weil sie ihre Schwäche durch Vorsicht und List ausgleicht.

Ein weiteres Zeichen ihrer Intelligenz ist zudem ihr strategisches Wissen und Interesse bezüglich der verschiedenen Truppenverbände und ihrer militärischen Lage. Nachdem Willehalm aus der ersten Schlacht zurückgekehrt ist, steht zunächst nicht die Wiedersehensfreude, sondern vielmehr die Frage nach dem Geschehen auf dem Schlachtfeld im Vordergrund. Anstatt dann über die Toten und besonders ihren gefallenen Neffen Vivianz in Klage auszubrechen, analysiert sie erst ihre militärische Situation und macht Vorschläge, wie die Stadt vor ihrem Vater geschützt werden könne.26 Ihr Wissen und ihr Interesse bekundet sie durch Fragen zu den anreisenden Truppen.27 So beweist sie, dass sie Willehalm als informierte Partnerin auf Augenhöhe zur Seite steht und zudem als kluge, strategisch gebildete Herrscherin in der Lage ist, zum Wohle der Stadt zu agieren.

Willehalm hingegen würdigt dies, indem er seiner Frau geduldig antwortet und sie über die Herkunft und Anführer der Anreisenden aufklärt.28 Dass er sie ernst nimmt und für fähig hält, eine kluge Entscheidung zu fällen, verdeutlicht zudem seine Bitte an sie, zu entscheiden, ob er Hilfe holen oder bei ihr bleiben soll: „vrouwe, nû solt dû sagen mir / belîbens ode rîtens râr: / dîn gebot ietwederz hât.“29.

Besonders eindrucksvoll aber tritt ihre Intelligenz, wenn nicht gar Weisheit, innerhalb ihrer Rede im Fürstenrat zu Tage. Ihr Anliegen, nämlich der respektvolle Umgang und die Schonung der Heiden im Siegesfalle, trägt sie anhand einer ausgefeilten Argumentation vor. Sie fordert die Anwesenden auf, Vivianz und die übrigen Helden zu rächen und somit das Ansehen des Christentums zu mehren, dann aber, wenn die Heiden unterliegen sollten, diese zu schonen, so wie ihre Religion es verlangt.

Warum das im Sinne des Christentums ist, belegt sie mit Hilfe mehrerer Argumente. Das erste Geschöpf Gottes sei ein Heide gewesen und laut der Bibel wurden die Heiden Elias und Enoch trotz ihres „falschen“ Glaubens gerettet. Dann nennt sie weitere Beispiele, in denen Gott sich der Heiden annahm und sie nicht verstieß und geht anschließend sogar so weit, dass sie daran erinnert, dass jeder Mensch als Heide geboren wird, selbst wenn die Mutter getauft ist.30 Sie sagt unmissverständlich: „wir wâren doch alle heidnisch ê.“31 Auch erinnert sie mit den Worten: „swaz iu die heiden hânt getân, / ir sult si doch geniezen lân, / daz got selbe ûf die verkôs, / von den er den lîp verlos.“32 an Gottes Güte und mahnt, sich daran ein Vorbild zu nehmen.

Giburcs Kernaussage meint aber letztlich nichts anderes als: Das Heil des Christentums fordert, dass die Heiden, wenn sie unterliegen, nicht wie Vieh abgeschlachtet werden dürfen, sondern wie jedes Geschöpf Gottes geschont werden sollen. Nicht aus Toleranz oder Pazifismus, wie Heinzle in seinem Kommentar betont, sondern weil Gott selbst sie mit eigener Hand geschaffen hat.34 Dieser Rede ist nichts entgegenzusetzen und so bleibt sie auch unkommentiert.

Dass sie ihre Wirkung aber nicht verfehlt hat, zeigt sich gegen Ende des Werks: Das Heer verschont nicht nur die Feinde, zum großen Erstaunen der Heiden erhalten sie sogar die Erlaubnis, die gefallenen Könige mitzunehmen, um sie würdig bestatten zu können. Zudem unterstützt Willehalm sie, indem er einige seiner Gefangenen freilässt und sogar Maultiere für den Transport der Toten bereitstellt.35

Ebenso wie sich an dieser Rede Giburcs Intelligenz und Weisheit zeigt, wird an dieser Stelle des Werks aber auch wieder ihr ungewöhnliches, normabweichendes Verhalten deutlich. Eine höfische Dame nimmt innerhalb des Höfischen Romans nicht an einem Fürstenrat teil und sie ergreift innerhalb dessen erst recht nicht das Wort. Dass dies nicht in den weiblichen Aufgabenbereich fällt, erklärt Kellermann-Haaf wie folgt:


Abgesehen von diesem von Kellermann-Haaf benannten Umstand offenbart sich das Ungewöhnliche an Giburcs Handlung auch im Werk selbst. Allein die Formulierung des lyrischen Sprechers: „Gîburc mit urloube dran / gie zuo manegem werdem man.“37 verrät bereits, dass es sich um einen besonderen Fall handelt und die Anwesenheit einer Frau nicht den Konventionen entspricht.

Aber auch Giburc selbst scheint zu wissen, dass die Aufmerksamkeit des Rates nicht selbstverständlich ist, denn sie bittet die Fürsten mit eindringlichen Worten darum, anders als die männlichen Redner vor ihr, ihr zuzuhören: „swer zuht mit triuwen hinne hât, / der ruoche hoeren mîniu wort!“38. Für die Fürsten ist die Versammlung beendet und sie scheinen anfangs kein Interesse an Giburcs Worten zu haben, denn sie bittet sie zu bleiben „ê daz sich schiet der vürstenrât“39.

Dennoch erheben sie sich und sind im Begriff den Saal zu verlassen, was der lyrische Sprecher mit den Worten „die gein ir ûf begunden stên, / die bat si sitzen und ninder gên.“40 beschreibt. Auch wenn niemand im Rat Giburcs Verhalten kommentiert, wird so deutlich, dass es nicht der Norm entspricht.

Durch den Vergleich mit der Pflege des Anfortas wird die liebevolle, zärtliche Fürsorge, eindeutig ein Merkmal, das dem weiblichen Geschlecht zuzusprechen sei43, Giburcs betont, während ihr Wissen über Rüstungen für eine Frau eher untypisch ist.44 Durch diesen Gegensatz wird auch hier hervorgehoben, dass die Figur ,Giburc’ nicht in jeder Hinsicht dem Bild einer höfischen Dame entspricht.45

Ein weiterer Charakterzug Giburcs ist ihre große Vorsicht und Sorgfältigkeit sowie ihr ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, die hauptsächlich für ihre Rolle als Herrscherin, und damit als Beschützerin der Stadt, von Bedeutung sind. Zum Wohle aller stellt sie ihr eigenes Wohl zurück und ist sogar bereit, ihr Leben, wie schon dargelegt, zu opfern. Alle drei Eigenschaften zeigen sich zum einen bei der im Vorfeld bereits beschriebenen Überprüfung der Identität ihres Mannes vor dem Stadttor.

Zum anderen zeigen sie sich auch in der Tatsache, dass Giburc selbst den Schlüssel zum Tor bei sich trägt, um nicht Gefahr zu laufen, dass ein anderer durch Erpressung oder Bestechung abtrünnig wird.46 Sie geht kein Risiko ein, sichert sich in jeder nur denkbaren Hinsicht ab und offenbart durch Ideen wie diese einmal mehr ihre Klugheit und Voraussicht. Deutlich werden ihr großes Verantwortungsbewusstsein und ihre Wachsamkeit auch nach der Rückkehr Willehalms von seinen Verwandten.

Ihre Sorge vor einem erneuten Angriff bleibt und als in der Ferne Sand und Staub aufgewirbelt werden, ist sie sofort in Alarmbereitschaft und vermutet neue feindliche Truppen. Diese entpuppen sich jedoch lediglich als helfende Verwandte und Giburc atmet erleichtert auf. Nichtsdestotrotz ist sie auch der nächsten anreisenden Gruppe gegenüber argwöhnisch und erinnert Willehalm erneut daran, dass die Heiden einen Hinterhalt geplant haben könnten.47

Während die bisher beschriebenen Eigenschaften Giburcs unübliches, vom literarischen Ideal abweichendes Verhalten demonstrieren, erfüllen die folgenden Charakteristika die Erwartungen an ihre Rolle als Frau, Ehefrau und Herrscherin in höchstem Maße.48 Denn innerhalb der Beschreibung Giburcs nehmen auch ihre Großzügigkeit, Güte und besonders ihre Fürsorge einen bedeutenden Raum ein.

Alles Eigenschaften, die verdeutlichen, dass die Markgräfin trotz ihrer tatkräftigen, resoluten Art bei der Verteidigung der Stadt auch ihre Rollen als Frau, Ehefrau und Mutterersatz49 in vollkommener Weise erfüllt. Das erste Beispiel dafür stellt ihr Neffe Vivianz dar, um dessen Erziehung sie sich voller Liebe gekümmert hat. So erklärt Willehalm, als er seinen sterbenden Neffen im Arm hält: „(Gîburc, mîn amîe, / het dich baz denne ir selber kint);“50 und spricht über ihre Großzügigkeit, mit der sie das Kind ausstattete: „wie was dîn schilt gehêret, / ir milte dran gemêret, / diu gein dir tugende nie verbarc!“51.

Um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, steigt Giburc selbst in die Küche hinab und bittet ihn höflich, sich nach einem Zornausbruch zu beruhigen. Als sie von dem Unrecht gegen ihn erfährt, führt sie ihn zum Schneider und bietet ihm bessere Kleidung an.54 Das allein ist schon eine große Aufmerksamkeit von ihr, denn die Kleidung hatte im Mittelalter einen weit höheren und bedeutenderen Stellenwert als zu unserer Zeit.

Einerseits wurde durch die Kleidung ganz bewusst der Unterschied zwischen den einzelnen Ständen betont und dass nicht nur durch Prunk und Qualitätsunterschiede, sondern auch durch Farben.55 Andererseits war Kleidung aufgrund ihrer damals komplizierten, maßgefertigten Herstellung sehr viel kostbarer als heute.56 Rennewart lehnt das Angebot ab, kommt jedoch nicht umhin, die äußerst kostbare Rüstung, die Giburc ihm in Sorge um ihn schenkt, anzunehmen.

Diese Geste allein zeugt schon von ihrer Güte und Großzügigkeit, doch sie geht noch weiter, nennt ihn „lieber vriunt vil guoter“57 und nimmt seine Hände in ihre. Auch wenn sie ahnt, dass er ihrem adeligen Geschlecht angehört, ist ihr Verhalten „unziemlich“, entspringt jedoch ihrer aufrichtigen Anteilnahme und Fürsorge. Besonders deutlich werden diese aber durch das Umlegen ihres Mantels um Rennewart.58 Denn der Mantel stellte nicht nur einen wichtigen Teil des Herrscherornats dar und symbolisierte daher Macht und Würde, sondern wurde in der höfischen Dichtung zudem mit dem Motiv des Schutzmantels versehen.

Besonders fürsorglich und liebevoll ist sie aber selbstverständlich gegenüber Willehalm. Gewissenhaft widmet sie sich seiner Pflege, indem sie ihn in eine Kemenate führt, ihm aus der Rüstung hilft und ihn auf Wunden untersucht, die sie dann fachmännisch versorgt.60 Diese Fürsorge ist jedoch auch Teil ihrer großen, vollkommenen Liebe zu ihm, die sich in vielerlei Hinsicht äußert und die ebenfalls einen bedeutenden Teil ihres Wesens einnimmt.

Ihre Liebe, Fürsorge und Hingabe sind es, die Willehalm Trost und Kraft spenden und die es vermögen, ihn für seine Verluste zu entschädigen.61 Wie sehr dieser auf ihren Trost und ihre Geborgenheit baut, drückt er voller Verzweiflung vor dem Stadttor aus: „süeziu Gîburc, lâ mich în / und gip mir trôst, den dû wol kanst: / nâch schaden dû mich vreuden manst. / ich hân mich doch ze vil gesent.“62.

Giburc kann diese Erwartungen vollauf erfüllen, wie sich wenig später in ihrer Kemenate zeigt. Durch ihre leidenschaftliche Hingabe und Zärtlichkeit vergisst der Markgraf seinen Kummer und seine Schmerzen und schläft, mit dem Kopf auf Giburcs Herzen, ein.63 Auch kurz vor seinem Aufbruch in die große Schlacht gelingt es ihr, ihn aufzumuntern und ihn von Sorgen zu befreien, sodass „si möhte erreichen niht ein sper.“.64 All dies sind Merkmale einer perfekten Ehefrau65, die Giburc überdies zu einer bewunderten und geliebten Herrscherin machen.

Von großer Bedeutung für ihre Rolle als Herrscherin und Ehefrau sind jedoch auch ihr unumstößlicher Glaube sowie ihre feste Entschlossenheit und Standhaftigkeit, mit der sie diesen vertritt, aber die sie auch ihrer alten Familie gegenüber an den Tag legt. Diese Wesenszüge zeichnen nicht nur das Bild einer vertrauensvollen, treuen Ehefrau, sondern auch einer ebensolchen Herrscherin, die trotz aller Schwierigkeiten gegenüber ihrem Mann und ihrem „Volk“ keinen Zweifel daran lässt, dass man in jeder Situation auf sie zählen kann.

Gerade als Markgräfin eines christlichen Volkes ist es nun besonders wichtig, dass Giburc nicht nur hundertprozentig hinter ihrem Glauben steht, sondern diesen auch vor ihrer alten, heidnischen Familie vertritt und verteidigt, denn die Bewohner der Stadt sind vor allem bei Willehalms Abwesenheit auf ihre Unterstützung und ihren Schutz angewiesen. Ihren Glauben, die Voraussetzung für ihre unbedingte Treue gegenüber den Christen, beweist sie zum einen mit Worten, wie: „ich geloub, Altissimus, / daz dû got, der hoehiste, bist / vil staete ân allen valschen list / unt daz dîn wâriu Trînîtat / vil tugenthafter bermede hât.“67.


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