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Seminararbeit
Philosophie

Philipps-Universität Marburg

15 Punkte, 2012

Julian R. ©
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ID# 32701







Wider die menschliche Natur, „Privileg des

Humanum“ oder Krankheitssymptom?

(Ethische) Argumente gegen die moralische Legitimität des Suizids und deren kritische Analyse und/oder Bestreitung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung. 3

2. Argumente gegen die moralische Legitimität des Suizids und deren kritische Analyse und/oder Bestreitung  5

2.1. Die theologische bzw. metaphysisch-ethische Dimension. 5

2.2. Die individualethische Dimension. 9

2.3. Die sozialethische Dimension. 12

2.4. Die psychiatrische bzw. pathologische Dimension. 16

3. Zusammenfassung. 21

1. Einleitung

Das Nachdenken über den Tod hat die Menschen seit jeher mit Angst aber auch Faszination erfüllt, auch wenn Epikur (ca. 341-271/270 v. Chr.) anmerkt, dass dieser uns strenggenommen nichts angehe, denn solange wir sind, ist er nicht. Und wenn er ist, sind wir nicht mehr (vgl. Kamlah 1976: 25). Albert Camus etwa fasste die Frage nach dem Suizid und damit einhergehend die Frage nach dem Sinn unserer Existenz sogar als ersten und elementarsten Gegenstand philosophischen Nachdenkens auf, der alle anderen Fragen hinsichtlich der Dringlichkeit überrage.

Dabei gehört die Frage, ob der Mensch selbst Hand an sich legen darf, zu den kontroverstesten und am heftigsten diskutierten Themen der Philosophiegeschichte (vgl. Birnbacher 1990: 395). Die Ansichten reichen von der rigorosen Verurteilung der Selbsttötung bis zum Gedanken des unveräußerlichen Grundrechts auf einen selbstbestimmten Tod.

Die Kernfrage dieser Arbeit ist die Folgende: Ist der Tod etwas bzw. ein Ereignis, dem wir passiv gegenüber stehen müssen und warten sollten, bis es uns ereilt? Oder gibt es Situationen, in denen es moralisch legitim oder gar ratsam sein kann, dem Tod zuvorzukommen? Innerhalb der Geschichte (nicht nur) der Philosophie und der Theologie haben sich bestimmte Argumentationstypen herausgebildet, um die moralische Illegitimität von Suizidhandlungen zu begründen oder (logisch) zu „beweisen“, die immer wieder in verschiedenen Varianten aufgegriffen wurden.

Daneben hat es jedoch auch immer Autoren und Philosophen gegeben, welche die Stichhaltigkeit dieser Argumente bezweifelt und zum Teil auch für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod plädiert haben. Diese Argumente, die auf mögliche Beziehungen des potentiellen Suizidenten[1] zu einer göttlichen bzw. metaphysischen Instanz, zu sich selbst und/oder zu anderen Menschen rekurrieren, lassen sich prinzipiell in drei große Kategorien subsumieren: 1. die theologische bzw. metaphysisch-ethische (2.1.), 2. die individualethische (2.2.) und 3. die sozialethische Dimension (2.3.) (siehe auch die Gliederung dieser Arbeit!).

Der vierte Unterpunkt dieser Abhandlung (2.4.), der hier aufgrund seiner Komplexität nicht in aller Breite behandelt werden kann, ist - wie weiter unten deutlich werden wird – von einer etwas anderen Art. Im Hauptteil der Arbeit werden alle wesentlichen Argumente, die im Laufe der Zeit im Okzident bzw. (christlichen) Abendland gegen die moralische Legitimität von Suizidhandlungen hervorgebracht wurden, beschrieben, auf kritische Weise analysiert und ggf. – d.h. sofern möglich und nötig – auch bestritten bzw. widerlegt.

Da, wo diese Argumente sehr schwer wiegen und nicht bestritten werden können, sollen zumindest potentielle „Lösungswege“ aus dem Dilemma des Suizidenten und dessen Angehörigen aufgezeigt werden. Dabei soll u.a. danach gefragt werden, ob es ein generelles moralisches Selbsttötungsverbot geben kann, was (oder wer) den potentiellen Suizidenten an diesem Akt hindern könnte oder unter welchen Umständen der Suizid moralisch vertretbar ist bzw. sein sollte.

Daneben soll in kurzen Zügen eine Analyse und ggf. eine Kritik der Begriffe „Selbstmord“, „Freitod“ und „Suizid“ vorgenommen werden. Die sehr viel aktuellere Debatte um Euthanasie, die einige Berührungspunkte mit dem Thema ‚Suizid‘ aufweist, soll hier aufgrund der Kürze der Arbeit ganz bewusst ausgeklammert werden.

Gleichwohl kann diese Abhandlung als eine Basis bzw. Grundlage zur weitergehenden Beschäftigung mit dem Thema ‚Sterbehilfe‘ angesehen werden.


2. Argumente gegen die moralische Legitimität des Suizids und deren kritische Analyse und/oder Bestreitung


2.1. Die theologische bzw. metaphysisch-ethische Dimension

Um die theologisch-metaphysisch geprägte Ablehnung (und zum Teil Verurteilung) der Selbsttötung verstehen, analysieren und kritisieren zu können, ist es von Nöten, sich zunächst auf die immanente Ebene zu begeben und anzunehmen, dass so etwas wie ein göttliches, absolutes und vollkommenes Wesen, also Gott, existiert.

Von außen betrachtet, könnte man natürlich von vorneherein sämtlichen theologischen Argumenten gegen den Suizid damit begegnen, dass eine göttliche Instanz möglicherweise gar nicht existiert und dass, wenn sie existiert, wir keine Möglichkeit haben in Erfahrung zu bringen, wie diese über den Suizid „denkt“ oder „urteilt“. Wer nun der Meinung ist, dass die metaphysisch-theologische Argumentation gegen die moralische Legitimität des Suizids lediglich ein Relikt aus „alten“ Zeiten ist und in einer modernen Abhandlung dieses Themas keine Relevanz mehr besitzt, muss sich nur einmal in seiner näheren, noch nicht einmal zwangsläufig christlich geprägten, Umgebung umhören, um des Gegenteils gewahr zu werden.

Das „Der ‚Selbstmord‘ ist eine Sünde und von Gott nicht gewollt“ ist ein hartnäckiges Dogma, welches sich in den Köpfen vieler Menschen bis heute befindet. In 1976 schrieb Wilhelm Kamlah, dass, obwohl dieser strafrechtlich bzw. per Gesetz weitgehend nicht mehr geahndet wird, „[d]as moralische Verbot des „Selbstmords“ […] sich noch immer in fast unbestrittener allgemeiner Geltung, zumindest in den Ländern europäisch-christlicher Tradition“ befindet und „daß die generelle moralische Verurteilung der Selbsttötung christlichen Ursprungs ist.“ (Kamlah 1976: 14 und 17).

Allein vor diesem Hintergrund ist es nötig, die theologischen Argumente gegen die Selbsttötung zu beleuchten.

Augustinus (354-430 n. Chr.) gilt als einer der ersten und bedeutendsten Verfechter der moralischen Illegitimität der Selbsttötung. Der Kirchenlehrer und Philosoph konstatierte, dass das fünfte Gebot („Du sollst nicht töten!“) als eine göttliche Offenbarung die Selbsttötung ebenso wie den Mord bzw. die Fremdtötung umfasse.

Dies sei daran zu erkennen, dass es heißt „Du sollst nicht töten“ und nicht etwa „Du sollst Deinen Nächsten nicht töten“. „Denn wer sich selbst tötet, tötet nichts andres als den Menschen“ und „[d]eshalb ist auch, wer sich selbst umbringt, unweigerlich ein Mörder.“ (Augustinus, Gottesstaat, 1. Buch, 17. und 20.)

Doch kann man jemanden, der sich selbst tötet, ernsthaft als Mörder bezeichnen? (Nicht nur) Kamlah plädiert dafür, den Begriff „Selbstmord“ (zukünftig) zu vermeiden, da er bereits ein implizites Werturteil beinhaltet und den Suizidenten, der i.d.R. durch seine Situation schon genug leidet, obendrein moralisch missbilligt (vgl. Kamlah 1976: 15 und Holderegger 2003: 14).

Augustinus` Konstatierung ist nicht kritiklos hingenommen worden. Der Kirchenvater hat das fünfte Gebot nicht zitiert, sondern lediglich interpretiert bzw. ausgelegt. Diese Interpretation ist jedoch – wie spätere Autoren anmerkten – bei weitem nicht unumstritten. In der Bibel etwa, die von mehreren Selbsttötungen berichtet, wird der Suizid an keiner Stelle explizit verurteilt – weder im Sinne einer göttlichen Offenbarung noch von Menschen (vgl. u.a. Birnbacher 1990: 396 und Stoeker 2006: 9).

Des Weiteren erscheint es wenig plausibel, wieso Augustinus einerseits ein absolutes Tötungsverbot konstatiert, aber andererseits z.B. Kriege oder die Todesstrafe nicht verurteilt (vgl. Birnbacher 1990: 396). Wenn bestimmte Fremdtötungsarten legitimiert werden, müsste dann nicht auch der Suizid in bestimmten (ausweglosen) Situationen erlaubt sein? Birnbacher merkt an, dass sich Augustinus` Ablehnung des Suizids „innerhalb der Kirche durchsetzte“ und „die Einstellung des Abendlands jahrhundertelang, bis in unsere Tage hinein entscheidend geprägt“ (ebd.) hat.

Im Katechismus der katholischen Kirche (KKK) wird der Suizid, der die Liebe zu Gott verletze und „Ausdruck mangelnder Hoffnung“ (Bauer et al. 2011: 152) sei, noch heute als Verstoß gegen das fünfte Gebot gewertet (vgl. ebd.).

Das Verfügungsrechtargument ist ein weiteres wirkungsmächtiges Argument gegen den Suizid, das bis in die heutige Zeit geäußert wird. Anders als das fünfte Gebot fußt es jedoch nicht auf der Autorität der göttlichen Offenbarung bzw. der Heiligen Schrift. Das Verfügungsrechtargument, das in verschiedenen Varianten bzw.

Intensitätsvariationen aufgetreten ist, besagt im Wesentlichen Folgendes: Der Mensch hat nicht das Recht, in vollem Umfang über sein Leben, das unter der Souveränität Gottes steht, zu verfügen. Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) etwa fasste das Leben in seiner summa theologica als ein Geschenk Gottes auf (vgl. Wolbert 2009: 28), welches hinsichtlich seiner zeitlichen Begrenzung der Verfügungsmacht des Menschen entzogen ist.

Der Mensch hat sich das Leben nicht selbst gegeben, sondern es empfangen – also darf er es sich auch nicht selbst nehmen. Während die Menschen hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung ihres Lebens (natürlich immer unter Berücksichtigung ethischer Aspekte) frei sind, dürfen sie über die Grenze desselben, den Tod, nicht verfügen ohne sich ein Gott vorbehaltenes Recht anzumaßen.

Kamlah vermerkt jedoch, dass der Tod, anders als die Geburt, eben gerade nicht (unter allen Umständen) als ein Widerfahrnis hingenommen werden muss und dem Gestaltungsspielraum des Menschen durchaus nicht entzogen ist (vgl. Kamlah 1976: 20). Auch ansonsten lassen sich Zweifel an dieser durchaus nicht abwegigen Argumentation anmerken: Ein „Geschenk“ geht per definitionem in den Besitz des Beschenkten über und kann somit als dessen Eigentum betrachtet werden.

Wenn das Leben als ein Geschenk Gottes im wortwörtlichen Sinne aufgefasst wird, müsste man dem Beschenkten dieselben Rechte zugestehen, die man ihm für seinen übrigen Besitz ebenfalls zugesteht. Zweitens konnten wir unser Leben weder frei wählen, noch wurden wir danach gefragt, ob wir es (überhaupt) annehmen möchten. Warum sollte es also im moralischen Sinne kritikwürdig sein, dieses (u.U. ungewollte) Geschenk wieder zurückzuweisen – so, wie es uns bei anderen Geschenken ebenfalls möglich ist (vgl. Birnbacher 1990: 397 f. und Kamlah 1976: 19)? Bauer et al. melden aus theologischer Perspektive Kritik daran, das Leben als ein Geschenk im menschlichen, vertragstheoretischen Sinne, das in den „Besitz“ des Beschenkten übergeht, aufzufassen bzw. zu verstehen.

Das Leben sei vielmehr ein göttliches Geschenk im Sinne einer Gabe („donum“), das die menschliche Fassungskraft bei weitem übersteige und – das ist wohl das Entscheidende – eine hohe moralische Verantwortung des Menschen impliziere (vgl. Bauer et al. 2011: 128).

Vielleicht u.a. wegen dieser sprachlogisch bedingten, nicht eindeutigen Argumentation existiert eine weitere, intensivere Variante des Verfügungsrechtarguments, bei welcher der Mensch eher als Eigentum, bei Immanuel Kant (1724-1804) auch als „Leibeigener“ (s)eines gütigen Herrn (vgl. Kant, Vorlesung Ethik, 193), denn als bloßes Geschenk aufgefasst wird.

Eine ähnliche Auffassung wie Kant vertritt auch John Locke (1632-1704), indem er konstatiert, dass die Menschen Gottes Eigentum sind, „da sie sein Werk sind, und er […] sie geschaffen [hat], so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt“, sodass „[e]in jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen“ (Locke, Zwei Abhandlungen, II, § 6).

Wenn das Leben nicht als Geschenk, sondern als Eigentum Gottes verstanden wird, dann greift o.g. Kritik (ein Geschenk geht in den Besitz des Beschenkten über und kann zurückgewiesen werden) nicht mehr; dann stellt sich jedoch eine andere Frage: Kann man angesichts eines leidenden Menschen, der aufgrund schwerer und unheilbarer physischer und/oder psychischer Krankheit von seinem Leben nichts mehr erwartet, außer den Tod und es auch nicht mehr als Privileg auffasst, zu leben, noch von einem wohlwollenden Gott sprechen, wenn dieser einem das Leben quasi „aufzwingt“? Die Wege des Herrn mögen unergründlich sein, doch in einer solchen Situation muss dem leidenden Menschen, der sein Leben unter allen Umständen zu Ende leben muss, die Verbindung zwischen Gott und ihm nicht mehr als ein freiheitliches, sondern als ein Konkurrenzverhältnis erscheinen.

Die göttliche Vorsehung liegt quasi weit über allem menschlichen Denken und schließt alle Handlungen bzw. Handlungsoptionen mit ein bzw. umfasst sie, sodass alles, was auf der Welt geschieht, Vorsehung Gottes ist. Wenn der Suizid ein anmaßender Eingriff in die göttliche Vorsehung bzw. Ordnung wäre - so Humes Argumentation -, dann müsste es jeder andere Eingriff in die „natürliche“ Ordnung ebenso sein (vgl. Hume, „Suicide“, 581-584).

Dann wäre jede lebensverlängernde medizinische Maßnahme (z.B. künstliches Koma) ebenso wie jede lebensverkürzende (Suizid) ein Frevel; jede In-vitro-Fertilisation wäre eine Anmaßung göttlichen Rechts – ja, dann hätte sich der Mensch ab dem Zeitpunkt, an dem er erstmals in die Natur eingreift und sie sich zu Nutze macht (Umlenkung eines Flusses, jegl. technischer Fortschritt etc.), versündigt.

Für Hume stellt nicht der Suizid eine Anmaßung dar, sondern der Glaube, man könne durch solche Aktionen die göttliche Ordnung stören oder ins Wanken bringen. Er dreht das Geschenk-Gottes-Argument Thomas` förmlich um, indem er schreibt, dass Gott, der sich selbst den Tod nicht geben kann, den Menschen, angesichts der im Leben drohenden Übel, die Möglichkeit zum selbstbestimmten bzw. – gewählten Tod als sein bestes Geschenk vermacht hat (vgl. ebd., 586-589).

Ein weiteres metaphysisch-ethisches Argument, welches nicht auf dem Verhältnis Gott-Mensch gründet, stammt von Kant. Für ihn ist die „Selbstentleibung“ u.a. deshalb ein Verbrechen (!), weil die Menschheit in der einzelnen Person (hier: dem Suizidenten) etwas Heiliges, Unverletzliches und Achtung Gebietendes besitzt, das der freien Verfügung des einzelnen Menschen entzogen ist.

„Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person vernichten, ist ebensoviel als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, soviel an ihm ist, aus der Welt“ (Kant, MdS, A 73) zu entfernen, was für Kant „die Destruktion der Menschheit ist“ (Kant, Vorlesung Ethik, 189 f.). Der Mensch besitzt nach Kant also eine Art „metaphysischen Persönlichkeitskern“ (Birnbacher 1990: 399), in dem seine Sittlichkeit bzw.

Moral stellvertretend für die Sittlichkeit ‚an sich‘ bzw. aller Menschen vorhanden ist. Bei dieser Erkenntnis handelt es sich jedoch nicht um ein Wissen aus der Erfahrung, das für Jedermann unmittelbar einsichtig ist, sondern lediglich um ein Postulat Kants. Zweitens lässt sich, selbst wenn man diesem Postulat zustimmt, mit Birnbacher fragen, warum die Erhaltung dieser stellvertretenden Heiligkeit im einzelnen Menschen „einen so unvergleichlich hohen Wert darstellen soll, daß dieser den Unwert aller Leiden des potentiellen Selbstmörders“ (ebd.: 400) überwiegen soll.


Im Wesentlichen gilt es hier zwei Argumente genauer zu prüfen und ggf. zu kritisieren: 1. das Irrationalitätsargument, welches sicherlich das gewichtigere von beiden ist, und 2. das Argument der „Unnatürlichkeit“ des Suizids, das v.a. innerhalb der frühen Neuzeit Konjunktur hatte. Letzteres fußt auf dem (weitverbreiteten[3]) Irrtum, man könne die Natur in Gänze erfassen bzw. aus ihrer Vielfalt eine Einheit machen, um auf diese Weise moralische Normen aus ihr ableiten zu können.

Das Irrationalitätsargument, das u.a. von Kant bemüht wurde, um die Widersprüchlichkeit der Selbsttötung aufzuzeigen, besagt im Wesentlichen Folgendes: Der Suizident gebraucht beim Akt der Selbsttötung seine (Handlungs-) Freiheit dazu, um eben diese für immer auszulöschen und sich in eine irreversible Unfreiheit, den Tod, zu begeben.

Damit hat er sich in einem letzten ‚Akt der Freiheit‘, mit dem er sich laut Bauer et al. (vgl. ebd.: 117) in einen glücklicheren Zustand als den jetzigen manövrieren wollte[4], das für alle(s) zukünftig mögliche Freiheit/Glück konstitutive und unabdingbare Fundament, seinen leiblichen Körper bzw. sein Leben, entzogen (vgl. u.a. Kant, Vorlesung Ethik, 184). Freiheit und Glück besitzt der Mensch (wahrscheinlich) nur solange, wie er auch am Leben ist.

So plausibel und gewichtig diese Argumente gegen die Selbsttötung auch sind, sie taugen weder dazu den Suizid moralisch zu verwerfen, noch dazu, dem potentiellen Suizidenten sein widersprüchliches Verhalten aufzuzeigen. Vielmehr sollten sie ihm dazu dienen, zu überlegen, ob es nicht doch eine (bessere) Alternative zur Selbsttötung gibt. Daran, dass jemand seine Freiheit dazu gebraucht, um dieselbe für immer aufzuheben, lässt sich jedoch kein logischer Widerspruch erkennen (vgl. Birnbacher 1990: 402).

Außerdem sollte man unterscheiden zwischen Freiheit im ontologischen Sinne, d.h. ‚Freiheit von etwas‘ und ‚Freiheit zu etwas‘, d.h. Handlungsfreiheit (vgl. hierzu auch Stoeker 2006: 8). Der potentielle Suizident, der aufgrund physischer und/oder psychischer Krankheit nur noch Leid erwarten kann, wünscht sich in dieser ausweglosen Situation gerade nicht ‚Freiheit um zu…‘, sondern Freiheit von seinem Leben.

Zwar kann er nicht wissen, was ihn nach dem Tod erwartet und deshalb auch nicht vollständig abwägen, jedoch hat er 1. eine bestimmte Vorstellung vom Tod und 2. – das ist das Entscheidende – bedeutet ihm der Tod bzw. das Ende von Freiheit und möglichem Glück die Abwesenheit von Leid und Schmerzen, die mit seinem irdischen Dasein verknüpft sind.

Doch was bedeutet es, wenn man sagt, dass der Suizid un-natürlich sei? Wenn man damit (a) meint, dass die Selbsttötung in der Natur überhaupt nicht vorkommt, ist dies de facto falsch. Die Tatsache, dass sich Menschen in allen Kulturen zu allen Zeiten selbst getötet haben, zeigt, dass der Suizid genauso zur „Natur“ des Menschen gehört wie die Selbst- oder Gattungserhaltung.

Auf diese Weise lässt sich der Suizid nicht wegrationalisieren. Meint man aber (b) im normativ-moralischen Sinne, dass die Selbsttötung nicht gemäß der Natur ist, so handelt es sich um den sog. naturalistischen Fehlschluss, also das Schließen von dem, was ist (Die Menschen besitzen einen Trieb zur Selbsterhaltung) auf das, was sein soll(te) (Jeder Mensch muss/soll sich selbst erhalten) (vgl. Wolbert 2009: 24f.). Auch mit dem Verweis darauf, dass der Suizid nicht gemäß der Natur ist, weil Tiere sich nicht töten, ist nichts gewonnen, denn dann müssten sämtliche, dem Menschen eigene Wesensmerkmale (Mitleid etc.) als unnatürlich gelten, was nicht nur falsch ist, sondern auch inhuman wäre.

Birnbacher merkt an, dass man den Suizid mittels des Verweises auf die Natur genauso gut rechtfertigen wie verwerfen könne (vgl. Birnbacher 1990: 401). Für de Holbach (1723-1789) z.B. ist es völlig natürlich, dass ein Mensch sein Leben nur solange liebt, wie es ihn glücklich macht. Töte er sich hingegen infolge großen Leids, befolge er lediglich eine „Anordnung der Natur“ (de Holbach, System der Natur, 223), die ihn bereits aus ihrer Ordnung ausgeschlossen habe.

         Ein weiterer Einwand gegen die Selbsttötung ist der Philosophie Kants, den man ohne weiteres als einen der rigorosesten Verfechter der moralischen Illegitimität des Suizids bezeichnen kann, eigen. Interessanterweise hatte sich Kant bei seiner Verwerfung der Selbsttötung ausschließlich auf das Subjekt der Sittlichkeit selbst, den Suizidenten, gestützt, was wohl auch die Schwäche seiner Argumente erklärt.

Nach einer Variante seines kategorischen Imperativs soll der Mensch bei jeder seiner Handlungen die Menschheit (also sich selbst und Andere) niemals als bloßes Mittel zu irgendeinem Zweck benutzen, sondern immer als Zweck ‚an sich selbst‘ betrachten (vgl. Kant, GMS, B 429). Diese Konstatierung ist soweit einwandfrei, da niemand ernsthaft behaupten kann, dass es im moralischen Sinne gut sein kann, einen Menschen nur als Mittel zu (irgend-)einem Zweck zu benutzen.

Schließlich benutzt sich der Mensch, der arbeitet, um sein Leben finanzieren zu können (Zweck), doch auch nicht als ein bloßes Mittel zum Zweck. Auch nach der vielleicht bekanntesten Variante des kategorischen Imperativs (‚Handle nur nach derjenigen Maxime, von der Du zugleicht wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!‘) muss der Suizid kein Widerspruch sein.

Warum sollte man nicht wollen, dass es ein ‚allgemeines Gesetz‘[5] sei, dass man einem (leidenden) Menschen das Recht zubilligt, nach reichlicher Abwägung des Für und Wider, selbst darüber zu entscheiden, ob er weiterleben oder lieber sterben möchte? In diesem Sinne bejahten u.a. Kamlah, Améry, Seneca (ca. 1-65 n. Chr.) oder Arthur Schopenhauer (1788-1860) aus individualethischer Sicht das Recht auf einen selbstbestimmten Tod (vgl. u.a. Birnbacher 1990: 403).


2.3. Die sozialethische Dimension

Die sozialethischen Argumente gegen die moralische Legitimität des Suizids zielen allesamt auf mögliche Verpflichtungen des potentiellen Suizidenten gegenüber anderen Menschen ab. Diese Verpflichtungen können sich aus jeglichen Arten sozialer Beziehungen zu (irgend-) einer Gemeinschaft, wie dem Staat, der Gesellschaft, der Familie (Partner, Kinder etc.) oder Freunden ergeben.


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