Was ist eine Kurzgeschichte?
Eine kurze! Zusammenfassung der
Ansichten verschiedener Autoren und literatur-wissenschaftlicher Werke
über das Wesen und die Merkmale der Kurzgeschichten.
Die Kurzgeschichte ist „das Chamäleon
der literarischen Gattung“(Hans Bender). Deshalb ist eine normative
Formbestimmung nicht möglich. Vielmehr muss man die Summe aller Kurzgeschichten
betrachten und deskriptiv ihre Merkmale zusammentragen, die die Kurzgeschichte,
bzw. die Kurzgeschichten von anderen literarischen Gattungen abheben (vor allem
gegenüber ÞNovellen, ÞNovelletten, ÞParabeln, ÞGleichnissen, ÞKalendergeschichten).
Die Entstehungsgeschichte der
Kurzgeschichte ist umstritten.
Ganz sicher sind die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels (*1760 +1826) und
die teils älteren ÞSchwänke,
ÞFazetien und ÞAnekdoten zahlreicher Autoren eine
Vorform der Kurzgeschichte. Ansätze zeigen auch die Werke Kleists, Hoffmanns
und Hebbels.
Die Kurzgeschichte im engeren Sinne entstand im kleinen Rahmen um 1920, wegen
des Bedürfnisses des Lesers nach kurzer Literatur, und wegen des Bedarfs der
Zeitschriften an kurzen Texten (Wilpert).
Ohne Zweifel beginnt die große Zeit
der Kurzgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg unter dem starken Einfluss der
amerikanischen short stories.
Die Þshort story -in Deutschland bis dahin weitgehend
unbekannt- begegnete deutschen Autoren in der Emigration oder in der
Kriegsgefangenschaft.
Nach etwa zwölf Jahren Diktatur, die
nur bestimmte Texte und Autoren zuließ (ÞBücherverbrennung), gab es einen großen kulturellen
Nachholbedarf, sowohl bei Lesern, als auch bei Autoren. Die Anregungen durch
die short story wurden begeistert verarbeitet.
Nichtsdestoweniger muss beachtet
werden, dass die amerikanische short story nicht deckungsgleich mit der
Kurzgeschichte ist. Erstgenannte ist in ihrer Form viel offener, ist mal näher
an der Novelle, mal einer Erzählung ähnlicher.
Die Kurzgeschichten eigneten sich
wegen ihrer Einfachheit und Kürze hervorragend für Experimente und zum
Aufarbeiten der schrecklichen Vergangenheit.
Häufige Themen sind:
-Kriegs- und Nachkriegserlebnisse (u.a. Borchert, Böll)
-Trümmerliteratur
-kritische Auseinandersetzung mit der Wohlstandsgesellschaft
-Dokumentation menschlicher Wirklichkeitserfahrung
(psychologisch-existentielle Handlungselemente)
Wichtige Merkmale der
Kurzgeschichten:
1.) Kürze
Die Kurzgeschichte zeichnet sich
durch ihre Kürze aus. Sie ist nicht so breit angelegt und so locker aufgebaut
wie eine ÞErzählung.
(auch Kurzepik oder kurze epische Prosa genannt)
2.) Punktualisierung
Wichtiger als 1.) sind die
inhaltliche Komprimierung, die straffe Komposition und der lineare
Handlungsverlauf der Kurzgeschichte, der auf eine unausweichliche Lösung hin
strebt und deshalb vom Schluss her geschrieben scheint. ÞHaupt- Neben- und Gegenhandlungen
fehlen ganz.
Der in der Kurzgeschichte betrachtete
Zeitraum wird auf einen kleinen Ausschnitt zusammengedrängt, auf einen
Augenblick hin reduziert und verdichtet, bis hin zu einer Momentaufnahme, einem
ÞBild oder einer exemplarischen
Situation.
Die Summe eines Menschenlebens wird aus dem Augenblick belebt (Wilpert)
3.) Simultaneität
Die Simultaneität wirkt der in 2.) beschriebenen Komprimierung des Geschehens
entgegen, und verhindert gewissermaßen, dass die Komprimierung dem Erzählen ein
Ende setzt. Durch ÞMontage,
Erzählperspektivenwechsel und Monologe z.B. werden mehrere Ereignisse, die
räumlich und zeitlich voneinander getrennt sind, gleichzeitig dargestellt. so dass
der Augenblick vielschichtig wird.
4.) Offenheit
Kurzgeschichten weisen sehr oft
keinen abgerundeten Schluss auf; sie sind nach vorne und nach hinten
unabgeschlossen im Gegensatz zum Roman z.B., bei dem meist eine breit angelegte
Einleitung die wichtigsten Personen und deren Beziehungen zueinander einführt,
die Zeit in der die Handlung spielt ausführlich beschreibt oder zumindest
deutlich macht (siehe Theodor Fontanes „Effi Briest“). Der Erzähleinstieg bei
der Kurzgeschichte ist hingegen eher abrupt, besonders bei Günter Kunerts
„Zentralbahnhof“. „Der verblüffende Schluss hinterlässt eine schwebende,
nachklingende Dissonanz“ (Hans Bender), der Unruhe stiftet, dem Leser Fragen
stellt, ihn zum Mitdenken und Mitwirken auffordert. Nach den Lösungen muss der
(geneigte) Leser freilich selbst suchen.
Der offene Schluss ist oft der
Schlüssel zum Verständnis.
5.) Alltäglichkeit
Der Stoff rekrutiert sich häufig aus
dem modernen Alltagsleben. Die Personen der Geschichte sind keine Helden,
sondern mittelmäßige Menschen, manchmal auch Außenseiter, die mit dem Alltag, mit
erschütternden Grenzsituationen oder mit anderen entscheidenden Momenten im
Leben konfrontiert werden. Die verwendete Sprache ist oft kühl, unkompliziert,
oder sogar Dialekt bzw. Jargon (Siehe Rainer Brambachs „Justus oder im Sommer
sind die Mansarden heiß“). Dies ist ein deutliches Indiz für den Willen des
Autors zur Wahrhaftigkeit (Winfried Ulrich). Die realistische
Tatsachenwiedergabe führt gerade zu provozierenden Erkenntnissen, allerdings
ist auch ein Umschlagen ins impressionistische oder ins surreale möglich. (Wilpert)
6.) Mehrdeutigkeit
Gerade bei so kurzen Texten kommt es
besonders auf das an, was zwischen den Zeilen steht, was nicht deutlich gesagt,
sondern nur angedeutet wird. Scheinbar Belangloses wird bedeutungsvoll und
erhält Hinweischarakter auf Hintergründiges, d.h. es wird mehrdeutig.