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Aufsatz
Religionswissenschaft­en

BHAK Grazbachgasse Graz

1, linter, 2016

Rebecca M. ©
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sternsternsternsternstern
ID# 63259







Warum brauchen wir Erzählungen?

Zu den wirkmächtigsten Überlieferungen der Bibel gehören Erzählungen. Vom Paradies erzählen sie und vom Babelturm, von Kain und Abel, vom Verlorenen Sohn und von vielem anderen. - Fragen wir deshalb: Welche Funktionen erfüllen Erzählungen, und was können literarische Erzählungen bewirken?

Wenn wir herausfinden wollen, wer wir sind, müssen wir Geschichten erzählen. Aus unserer Kindheit vielleicht, von bedeutsamen Erlebnissen und Begegnungen, von Enttäuschungen, Ängsten und Hoffnungen. Indem wir so erzählen, ordnen und bewerten wir unser Leben: Wir stellen einen zeitlichen Rahmen her, und wir markieren, was uns geprägt hat.

Unser Leben, das ist schließlich nichts anderes als die Summe unserer Geschichten. Und diese Summe unserer Geschichten bildet den Horizont, vor dem wir die Erzählungen anderer hören oder lesen.

Erzählungen anderer - auch literarische Erzählungen - gestatten nämlich, die eigene Welt probeweise zu verlassen. Hörerinnen und Hörer schlüpfen in eine fremde Wirklichkeit und können so ihre eigene Identität spielerisch erweitern.

Denn Erzählungen entwerfen einen Mikrokosmos: eine erzählte Welt. Diese Erzählwelt gewinnt ihren Reiz dadurch, dass sie fremd und extravagant ist, aber dennoch als Resonanzraum unserer eigenen Welt wahrgenommen wird. Beziehungen und Konflikte der Lebenswelt begegnen uns wieder in den Spiegelungen und Masken der Literatur.

In Erzählungen können wir Modelle menschlichen Verhaltens entdecken. Wer sich auf eine Geschichte einlässt, kann sich mit den Gestalten der Erzählung identifizieren oder sich von ihnen abgrenzen. Wie im Spiel laden Erzählungen dazu ein, den eigenen - vielleicht verhärteten - Standpunkt zu verlassen. Zugleich ermöglichen sie Empathie mit dem "fremden Anderen" und seiner Perspektive.

Indem wir uns in fremde Schicksale hineinversetzen, indem wir uns in Lebensformen fremder Kulturen hineindenken, erweitern wir unsere existenzielle und soziale Fantasie. Dabei entwickelt sich ein Gespräch zwischen der Summe unserer Geschichten und den literarischen Erzählungen.

Wir vergleichen die literarischen Erzählungen mit unseren eigenen Geschichten. Und vielleicht lädt Literatur dann sogar dazu ein, uns Selbstbild und unsere Verhaltensmuster zu überprüfen. - Dann können die Erzählwelten uns helfen, unsere Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu erweitern und seelisch zu reifen.

Erzählungen stellen uns Bilder von Bedrohung und Rettung, von Angst und Vertrauen, vom Paradies und von der Wüste vor Augen. Sie können ins Gespräch kommen mit unseren inneren Bildern. Dann können Verletzungen und Sehnsüchte, unbewusste Konflikte und blockierte Entwicklungen bewusst werden. Dieser Dialog zwischen den inneren Bildern der Leserinnen und Leser und den Bildwelten der Erzählung kann Reifungsprozesse anstoßen und so heilend wirken.

Was für die Verständigung zwischen einem literarischen Text und den Leserinnen und Lesern gilt, lässt sich übertragen und erweitern auf den kulturellen Diskurs: Wenn wir begreifen wollen, in welcher Kultur wir beheimatet sind, müssen wir uns die grundlegenden Erzählungen vergegenwärtigen.

Dazu gehören die zentralen Erzählungen der Bibel (GENESIS, EXODUS, IJOB, Passionsgeschichte, LUKASevangelium . ), die Götter- und Heldensagen der Antike und die epochalen Werke und Gestalten der europäischen bzw. der deutschen Literatur (Nibelungenlied, PARZIVAL, DON QUICHOTE, ROMEO UND JULIA, FAUST, DON JUAN, GRIMMS Märchen und viele andere). - Dieser Erzählvorrat bildet ein narratives Gedächtnis, das Konturen der Weltwahrnehmung und des Menschenbildes bewahrt.

Zugleich wirken kulturell vermittelte Erzähltraditionen als Verständigungstexte, die sich ins Gespräch einmischen, wenn es um Ziele und Werte gesellschaftlichen Handelns geht. Dadurch verhindern die kulturell prägenden Erzählungen auch, dass die Probleme der Gegenwart unser Denken beherrschen und unsere Vorstellungskraft lähmen.


Quelle: Kaldewey R., Niehl F. W.: Grundwissen Religion. Begleitbuch für Religionsunterricht und Studium, Kösel-Verlag, München 2009.


BIBELAUSLEGUNG

Bibelauslegung in Antike und Mittelalter

Schon die jüdische Glaubensgemeinschaft musste ein Auslegungsproblem lösen: Wie konnten Texte aus der Königszeit oder aus der Exilszeit zur Richtschnur für wesentlich spätere Phasen der jüdischen Geschichte werden? - Die Ausleger und Kommentatoren der frühen biblischen Schriften fanden zwei Wege: Sie überarbeiteten ältere Überlieferungen und formten sie so um, dass sie auf die spätere Zeit passten.

Grundsätzlich beschritten auch die frühen Christen den Weg der aktualisierenden Auslegung: Sie bezogen Aussagen der Tara und der Propheten auf Jesus Christus und die christlichen Gemeinden. (Diese Neuinterpretation beginnt schon im Neuen Testament.) Danach aber mussten die Christen ein weiteres Problem lösen:

Konnten die heiligen Schriften des Judentums Richtschnur des Glaubens bleiben, obwohl sich die Christen von der jüdischen Gemeinschaft getrennt hatten?

Und ließ sich umgekehrt der christliche Sonderweg rechtfertigen, wenn man an der Autorität der Tora und der Propheten festhielt?

Einen Lösungsansatz entwarf der griechische Kirchenlehrer 0RIGENES (um 185 - 254). Er ging davon aus, dass es neben dem wörtlichen Verständnis - dem Literalsinn - eine symbolische Bedeutung der Bibel gebe, einen verborgenen allegorischen Sinn, der schon im Alten Testament auf Jesus Christus und auf die rechte Lebensweise der Christen hindeute.

Littera gesta docet,

quid credas allegoria,

moralis quid agas,

quod tendas anagogia.


Übersetzt: Der wörtliche Sinn lehrt das historische Geschehen, der allegorische, was du glauben sollst, der moralische, was zu tun ist; worauf du hoffen darfst, zeigt der anagogische Sinn.

Ø  Unter diesen vier Schriftsinnen hat der Literalsinn einen hohen Rang, denn man betrachtet die Offenbarung Gottes als geschichtliches Ereignis und sieht darin das Fundament des Glaubens.

Ø  Durch die allegorische Auslegung gelingt es, das Alte Testament so zu interpretieren, dass es schon auf christliche Glaubensvorstellungen und auf das Selbstverständnis der Kirche hinweist.

Ø  Der moralische Sinn zielt in einem sehr weiten Verständnis auf Lebensformen und Spiritualität der Christen.

Mit diesem Ansatz gewann die Theologie ein Instrumentarium, mit dem sie die Bibel- besonders das Alte Testament - mehrdimensional auslegen konnte. Damit gelang es, über das wörtliche Verständnis des Textes hinaus einen geistlichen Sinn der Schrift zu entdecken.

Auf diese Weise konnten christliche Spiritualität, Glaubenslehre und Grundsätze der Lebensführung im Dialog mit der Bibel gewonnen werden. Theologisch wurde damit auch die These untermauert, dass Gottes Handeln von Anfang an auf Jesus Christus und auf die Kirche ausgerichtet sei und dass die beiden Testamente deshalb eine Einheit bildeten. (Aus jüdischer Sicht muss dieser Ansatz aber als unangemessene Vereinnahmung der Hebräischen Bibel erscheinen.)

Sie strichen damit ihre eigenen Glaubensauffassungen und kirchliche Denkmuster heraus - weitgehend losgelöst von dem, was tatsächlich im biblischen Text steht.


Die historisch-kritische Erforschung der Bibel

Die historisch-kritische Erforschung der Bibel erwächst aus mehreren Wurzeln:

Schon der Humanismus (15./16. Jahrhundert) propagiert das Ideal, man müsse zurück zu den Quellen, um dort den reinen Ursprung einer Idee oder einer Lebensform zu finden.

Dieser historische Ansatz wird verstärkt durch die Aufwertung des geschichtlichen Denkens in der Romantik.

Aus dem Ideenvorrat der Aufklärung stammt der kritische Impuls, durch Vernunfteinsicht zu klären, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten - und sich dabei nicht auf das Wirken übernatürlicher Kräfte zu berufen.

Im Laufe der Zeit entwickelte die Bibelwissenschaft eine Palette von Methoden, die Antworten auf wichtige Fragen zum Verständnis der Bibel geben sollten:

Lässt sich aus den verschiedenen Textüberlieferungen eine annäherungsweise sichere älteste Textschicht herausschälen?

Lässt sich erkennen, ob ein bestimmter Bibeltext in einer einheitlichen literarischen Gestalt überliefert ist oder ob er durch Zusätze und Erweiterungen verändert wurde?

Lässt sich die literarische Gattung eines Bibeltextes bestimmen? Und wie geht der Text mit den Merkmalen der Gattung um? (z.B. Vätersagen, Wundererzählung, Legende, Gleichnis, Gebet, Prophetenspruch etc.)

In welcher literarischen Tradition steht der Bibeltext? Gibt es Parallelen in der Literatur des Alten Orients oder der Antike? - Wie verarbeiten die biblischen Schriftsteller diese Tradition?

Mit diesem differenzierten und ausgeklügelten Instrumentarium wollte man möglichst genau erfassen, wie ein biblischer Text entstanden ist und was er in seiner Ursprungssituation bedeutet hat.

Es ist das unschätzbare Verdienst protestantischer deutscher Bibelwissenschaftler, dass so ein reichhaltiges Bild von der Entstehung der Bibel gezeichnet werden konnte. Dadurch hat sich der Blick auf die Bibel völlig verändert.

Es wurde zunehmend deutlich, dass die Bibel von Menschen geschrieben wurde, die im Denken und in den Interessen ihrer Zeit verwurzelt waren. Dadurch konnte man die Bibel nicht länger als Dokument zeitlos gültiger Glaubenswahrheiten lesen; vielmehr wurde sie verstehbar als geschichtlich begrenzte und interessegeleitete Spiegelung der Geschichte Israels und der frühen Kirche.

Auf den ersten Blick hatte die Bibel einen Autoritätsverlust erlitten. Sie galt nicht länger als das maßgebliche Wort Gottes, sondern erschien als Werk altorientalischer und antiker Schriftsteller.

Gleichzeitig wurde die „naive“ Lektüre der Bibel erschwert. Ein angemessenes Verständnis hatte nur noch derjenige, der sich ein differenziertes bibelgeschichtliches und literarisches Wissen aneignen konnte.

Indirekt führte die historisch-kritische Erforschung der Bibel auch zur Erschütterung zahlreicher Glaubensvorstellungen (z.B.: Es gab keine pompöse Gesetzgebung am Sinai; Jesus ist nicht über Wasser gewandelt, und das Grab Jesu war nicht leer . ).


Dem stehen eindeutig positive Seiten der Bilanz gegenüber:

Ø  Die historisch-kritische Forschung hat für viele Gläubige dazu beigetragen, dass allzu naive religiöse Vorstellungen überprüft und durch reifere Vorstellungen abgelöst werden konnten.

Ø  Erst durch die Einsichten der historisch-kritischen Forschung wurde es für viele Christen möglich, die Bibel wieder mit Gewinn zu lesen.


Wie lesen wir heute die Bibel?

Was ein Text bedeutet, das hängt nicht nur von diesem Text ab. Vielmehr tragen die Rezeptionsbedingungen in entscheidendem Umfang zur Textbedeutung bei. Deshalb ist es auch sinnvoll zu fragen: Unter welchen Bedingungen und mit welchem Interesse wird die Bibel gelesen?

Wer die Bibel liest, hat die Wahl zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Einstellungen:

Ø  Man kann die Bibel als Werk der Weltliteratur lesen und fragen, welche Anregungen von der Bibel ausgehen. - Dann leitet ein literarisches oder kulturhistorisches Interesse die Lektüre der Bibel.

Diese grundlegenden Einstellungen können wiederum verknüpft sein mit zwei unterschiedlichen Frageinteressen:

Ø  Man kann die Bibel kognitiv-analytisch lesen. Damit tritt man der Bibel „objektiv“ gegenüber; analysiert und vergleicht sie und ordnet sie in einen Erkenntnisrahmen ein.

Ø  Man kann die Bibel identifikatorisch lesen. Dann sehen die Leser in der Bibel ein Buch, das sie angeht, das ihr Leben verändern könnte. - Das geschieht etwa in der privaten Bibellektüre, in einer Bibelmeditation, im Bibliodrama, oft auch in der Predigt.

      BIBEL ALS URKUNDE DES GLAUBENS                           BIBEL ALS WERK DER WELTLITERATUR

Identifikatorische Lesarten


Besonderheiten zeitgenössischer Lektüre der Bibel

Zwischen 1750 und 1900 hat die Grundströmung des abendländischen Denkens ihre Richtung geändert. Vereinfachend gesagt: Über viele Jahrhunderte sahen sich die Menschen aufgehoben in einer Seinsordnung, an deren Spitze Gott stand.

Als monarchisch gedachte höchste Instanz lenkte er die Welt und die Geschicke der Menschen. Mit der Aufklärung rücken die Menschen und ihre Geschichte zunehmend ins Zentrum der maßgebenden Denkmodelle. Zugespitzt heißt das für die Lektüre der Bibel: Ein Buch, das als Geschichte Gottes mit den Menschen geschrieben wurde, wird von uns heute als Geschichte über die Menschen gelesen.


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