Vorlesung – Literarische Gattungen
Zusammenfassung
VL 1
1. Begriff Gattung : Beschreibungskategorie zur wissenschaftlichen
(d.h. systematischen) Ordnung und Klassifikation literarischer Texte
®
Begriff für Textgruppenbildungen
(nach
unterschiedlichen Kriterien und auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit im
literaturhistorischen Prozess)
2. Gattungsbegriffe sind folglich:
-
Klassenbegriffe, die über eine begrenzte Menge von unterscheidbaren bzw.
gemeinsamen Merkmalen gebildet sind, d.h. sie sind wissenschaftliche
Konstruktionen
® Es gibt Gattungen nicht als
solche. Gattungen sind vielmehr das Ergebnis einer systematischen
Klassifikation durch Unterscheidung von Merkmalen literarischer Texte
àGattungen sind Ensembles
sprachlicher Merkmale, die einer Gruppe von Texten gemeinsam sind und diese
eine Gruppe zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt von anderen Gruppen
unterscheiden.
- Gesamtheit
der Texte wird überschaubar gemacht und
diese zu ordnen:
- auch Literaturgeschichten ordnen das Material meist
nach Gattungen
3. Was sind Lit. Gattungen?
Textgruppenbildung
nach gemeinsamen Merkmalen
Roman,
Kriminalroman, Fabel, Galanter Roman, Legende, Komisches Epos, Briefroman,
Novelle
® epische Texte / Epik
Lyrisches
Drama, Komödie, Libretto
® dramatische Texte / Drama
Verssatire,
Sonett, Elegisches Distichon
® lyrische Texte / Lyrik
3.1 Unterscheidungskriterien
der Textgruppe Epik:
Roman: Großform in Prosa (d.h. ungebunden im Unterschied zum Epos)
Kriminalroman: stoffliche Spezifizierung (z.B. Detektivroman)
Fabel /
Legende: kurze Form der Prosa, moralischer Impuls;
Unterschiede: nicht-menschliche Akteure / wunderbare Begebenheit
Galanter
Roman: epochale Romanform in Abgrenzung zum
höfisch-historischen und aufklärerischen Roman (um 1700)
Komisches
Epos: scherzhaft-parodistischen Erzählens im 18. Jhd.,
gebunden, komische Wirkung
Briefroman: Formbegriff des 18. Jh.: Roman in Briefen
Novelle: kürzere Prosaform (aber länger als Kurzgeschichte)
à Das gemeinsame Merkmal der
Textgruppe Epik
( =
Vermitteltheit) spezifiziert sich folglich nach unterschiedlichen
Gesichtspunkten:
- stoffliche
- thematische
(z.B. wunderbar / alltäglich, aktuell / historisch )
- formale,
strukturelle, organisationslogische
- nach
Wirkungsabsichten (komisch, moralisch, rührend usw.)
- nach der
epochalen Zugehörigkeit
…und weiteren Gesichtspunkten bei anderen Beispielen!
®
Dies deutet die Schwierigkeiten an,
eine strenge und v.a. überzeitliche Gattungssystematik aufzustellen
(gerade wegen
des historischen Wandels der Formen und der historischen Entstehung
neuer Genres)
4. Verwendungsweisen des Gattungs-Begriffs in der Literaturwissenschaft:
- Gattungstrias
Epik, Lyrik, Drama
- Grundformen
der Stoffgestaltung: lyrisch, episch, dramatisch
- einzelne
literarische Formen (z.B. Roman, Novelle, Ballade, Märchen usw.)
- in
untergeordneter Bedeutung: als spezifische Varianten der genannten Formen (z.B.
Bildungsroman, Kriminalroman, Kunstmärchen / Volksmärchen usw.)
4.1 Gründe
für diese Uneinheitlichkeit der Beschreibungen:
1.
historische Diskussionen seit Platon / Aristoteles
über Goethe bis zum Strukturalismus und zur Dekonstruktion im 20. Jahrhundert:
Bestehende Systematisierungen werden durch neue historische / methodische
Perspektiven in Frage gestellt.
® Der historische Wandel oder
neue Kontexte erzwingen andere / neue funktionale Beschreibungen:
-
Unterscheidung der Gattungen etwa bei Opitz 1624 / im Klassizismus;
-
programmatische Gattungsmischung in der Romantik (in Abgrenzung zur Klassik),
2.
literarische Texte sind wegen ihres Eigensinns,
ihrer spezifischen Individualität und aufgrund der unterschiedlichen
historischen Umstände, in denen sie entstehen, nicht strikt systematisierbar
So entstehen im
Lauf der Literaturgeschichte zu bestimmten Zeitpunkten (in bestimmten Epochen)
neue historische Varianten:
z.B.
Erlebnislyrik seit 1770 (Goethe)
z.B. der Roman
seit Cervantes (um 1600)
z.B. das
Prosagedicht seit Baudelaire (1869)
z.B. das Geschichtsdrama
(Goethes Götz von Berlichingen, 1773)
4.2 Beschreibungskategorien
drei elementare
Redekriterien:
Gattungstrias,
die Unterscheidung nach den 3 Hauptgattungen Epik, Lyrik, Drama
Prominente
Stationen dieser Diskussion und Entwicklung:
- Platon
- Aristoteles
- Goethe
- Emil Staiger
Aristoteles:
3 Ansätze zur
Bestimmung und Differenzierung von Gattungen:
1. nach
den Mitteln der Darstellung (Vers, Rhythmus; z.B. Hexameter für das Epos)
2. nach
den Gegenständen der Darstellung (hohe, gleichstehende, niedrige Personen)
3. nach
den Modalitäten der Darstellung (‚Redekriterien‘):
(1)
durch die Rede der dargestellten Personen
(2)
durch die Rede des Dichters in eigener Person.
Goethe
Die Gattungstrias
etabliert sich in der Gattungsdiskussion erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts.
Kanonisch wird
sie im 19. Jahrhundert im Gefolge von Goethes Unterscheidung von „Dichtarten“
und „Naturformen der Poesie“
„Es gibt nur drei
echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch
aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.“
Emil Staiger:
Grundbegriffe der Poetik, München 1971
Das Lyrische,
Epische, Dramatische sind hier
anthropologisch
(in der Erinnerung, Vorstellung und Spannung) fundierte „Grundbegriffe“
anthropologisch
bedeutet: In diesen Formen artikulieren sich Grundbefindlichkeiten des
Menschlichen:
„[...] daß die
Gattungen sich auf etwas beziehen, das nicht nur zur Literatur gehört. [...]
Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche Namen
für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt, und Lyrik,
Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen, des Bildlichen
und des Logischen das Wesen des Menschen konstituieren“ (148)
4.3 Systematik
Literarische Gattungen
1. Gattungen: Epik, Lyrik, Drama
2. Genres = Untergattungen: Unterklassen (1), historische Spezifikationen (2):
(1) Lyrik:
Elegie, Sonett usw.; Epik: Novelle, Roman usw.; Drama: Komödie, Tragödie usw.
(2) Epik:
Bildungsroman; Drama: Bürgerliches Trauerspiel, Lyrisches Drama; Lyrik / Prosa:
Prosagedicht
3. konkreter
Text: z.B. Schiller: Don Carlos. Ein dramatisches
Gedicht
5. Konstitutive Merkmale der Hauptgattungen
Drama:
Unmittelbarkeit
Epik:
Mittelbarkeit
.Lyrik: Unmittelbarkeit
5.1 Unterschiede
zwischen Lyrik und Drama
Drama:
- Figuren
sprechen und handeln in einer bestimmten Situation (dialogisch, monologisch);
- literarischer
Text, der neben einer Lektüre für die Inszenierung auf dem Theater gedacht ist
- Kombination
zweier Textsorten: fiktive direkte Rede (Haupttext); andere Textpassagen,
welche diese Rede arrangieren, situieren, kommentieren (Nebentext)
Lyrik:
Das lyrische
Ich spricht (sich aus) in Verstexten und in Einzelrede
5.2 Zuordnungen
/ Abgrenzungen bei (historischen / strukturellen) Mischformen:
- Lyrisches
Drama: gehört zum Drama
- Epos: gehört
(obwohl metrisch gebunden) zur Epik (vermittelt)
- Ballade
(gemischt aus lyrischen, dramatische, epischen Elementen): gehört zur Lyrik
- Prosagedicht:
schwierige Zuordnung (einerseits: unmittelbar, absolut, Einzelrede ® Lyrik
andererseits: keine Zeilenrede, d.h. auch keine Versrede ® Prosa
(Prosa wiederum
als Gegenbegriff zur Poesie seit dem 19. Jh., begründet durch die Opposition
gebundene vs. ungebundene Rede)
5.3 Kriterien
der Erkennbarkeit / Zuordnung:
(1) explizite
Hinweise: Paratexte = Untertitel
Roman,
dramatisches Gedicht usw.
(solche
Untertitel können aber auch irreführend bzw. ironisch eingesetzt sein, z.B. in
Tiecks Welttheater-Spielkomödie Die verkehrte Welt. Ein historisches
Schauspiel in fünf Aufzügen)
(2) implizite
Merkmale:
- Redeformen
(z.B. Leseranreden im Roman)
- Bauelemente
(z.B. Haupt- und Nebentext im Drama)
- Typographie
(z.B. Zeilenrede vs. Prosa im Gedicht)
- Organisationslogik
(z.B. Novelle vs. Erzählung)
VL 2
Was ist Lyrik?
systematisch
I: Gedichte sind nicht immer, d.h. nicht notwendig
‚lyrisch‘ (insofern man darunter bestimmte poetische Eigenschaften versteht
wie z.B. metrische Bindung, ästhetische Formprinzipien, Sangbarkeit,
Musikalität u.a.)
Grund:
Diese Merkmale
sind auch – je unterschiedlich verteilt – in anderen Gattungen
(Drama, Epik) vorzufinden.
- Minimaldefinition
der Lyrik:
- „Einzelrede in
Versen“
- Gedicht =
„Text in Versen“
® Lyrik = alle ‚Gedichte‘ als Texte
in Versrede mit nicht dramatischem oder epischem Charakter
- Funktionen I
-
seit 1770: primäre Gattung zum
Ausdruck von Empfindungen, Gefühlen, Erlebnissen gegenüber den anders
gelagerten Darstellungsqualitäten von Epik (Objektivität) und Drama (Verbindung
von Subjektivität und Objektivität).
® Erlebnislyrik: seit
der Romantik (nach 1800): Gattung zum Ausdruck von ‚Stimmungen‘
® Stimmungslyrik (als
historische Spezifikation der Erlebnislyrik durch Musikalisierung der Sprache)
- Funktionen
II
Das dominierende
Lyrikverständnis seit dem 19. Jahrhundert formuliert Hegel:
Lyrik ist die Gattung
der Subjektivität
Kernbereich
der Lyrik ist dieser Auffassung zufolge das Lied.
Wodurch
entsteht der Verscharakter?
à traditionell: Metrum,
Reim- und Strophenbindung
à moderne Lyrik weist diese
Merkmale nicht notwendig auf
Vers = Zeile:
Gibt es einzeilige Verse?
Beispiel:
„Seinen tiefsten
Schmerz halte jeder geheim.“ (Canetti)
®
kein Vers, sondern ein Prosasatz
(ein Aphorismus
als Form der Kurzprosa)
®
Verscharakter und damit Versrhythmus
entsteht nur in Verbindung mit einer zweiten Zeile
Es gibt also nie
einen isolierten Vers, sondern immer nur mindestens zwei Verse
zusammen: Dies ist damit auch die Minimalgröße einer Strophe
- Was ist
Lyrik?
Merkmale:
- relative
Kürze, konziser sprachlicher Ausdruck
- Musikalität /
Sangbarkeit (Form und Klang ist deshalb oft wichtiger als der Inhalt)
- Abweichung von
der Alltagssprache (durch Formbindung: Metrik, Reim, Vershaftigkeit / -rhythmus
kraft Zeilenrede und weitere klangliche Merkmale)
® Effekte der spezifischen Verdichtung
der Rede:
Lyrik ist
verdichtete = überstrukturierte Texte durch ästhetische Formprinzipien:
-
z.B. durch Klangähnlichkeiten: Wiederholungsstrukturen
-
z.B. durch interne Verweisungen: Kohärenzstiftung durch Isotopie-Ebenen
Darstellung geht vom lyrischen Ich aus: monologische, unvermittelte,
strukturell einfache Redesituation
® spezifische Nähe von Autor
und lyrischem Ich
- absolut (kein
konkreter Raum, keine konkrete Zeit / Wirklichkeit)
4.1 Typologie
-
Erlebnislyrik
-
Gedankenlyrik
- deskriptive
Lyrik (beschreibt Gegenstände, Sachverhalte der äußeren Welt
- artistische
Lyrik( Spiel mit der Sprache )
4.2 Grundlage
der Lyrikanalyse
à Suche nach Regelmäßigkeiten
in Strophen / Metrik / Reim
= Formen der
Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Elemente
1. Formale
Bestimmung: Metrum, Strophenform, Gedichtform, Reimschema; historischer Ort
dieses Formbezugs
2.
Zusammenhang Form und Funktion = Interpretation der Form und ihrer Semantik im
Blick auf die Tradition und die ästhetische Wirkung aus der Anwendung und
spezifischen Veränderung dieser Form
4.3 Metrum
- Versfuß
= kleinste metrische Einheit (Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst)
- Versmaß
= die metrische Organisationsform des Verses (also der Verszeile)
4.4 Versmaße
I
Alexandriner:
jambischer Sechsheber mit Mittelzäsur (Barock)
Blankvers: jambischer Fünfheber, ungereimt
Madrigalvers:
frei: drei-, vier- oder fünfhebig; erkennbare Metren,gereimt
Knittel: vierhebig, allein maßgebendes Kriterium: Paarreim
Freier
Rhythmus: wechselndes, also kein eindeutig erkennbares
Metrum, ungereimt; formaler Antiken-Bezug erkennbar (z.B. im Bezug auf
antike Oden-Formen); hoher, pathetischer Stil
Freier Vers: kein Metrum erkennbar
Hexameter: 6 Hebungen, vorwiegend Daktylen (kein regelmäßiger Wechsel); gebraucht
im Epos, ungereimt, i.d.R weibliche Kadenz; Erkennungsmerkmal: 5. Hebung
ist stets daktylisch (also: Hebung / Doppelsenkung: – v v)
Pentameter: 6 Hebungen, zwei Hexameterhälften: Die dritte und die vierte Hebung
folgen unmittelbar aufeinander (Zäsur durch Sprechpause: Diärese)
4.5 Strophenformen I
Elegisches
Distichon = 1 Hexameter und 1 Pentameter
Schiller: Das
Distichon
v - v
- v - v - v - v v - v
Im Hexameter
steigt des Springquells flüssige Säule,
Im Pentameter
drauf fällt sie melodisch herab.
v -
v - v - / - v v - v v -
Reimschemata
Paarreim aabb
Kreuzreim abab
umarmender
Reim abba
verschränkter
Reim abcabc
Schweifreim aabccb
Kettenreim/Terzinenreim aba bcb cdc...
unreiner Reim: z.B. schleichen / Schweigen (Schiller)
Gedichtsformen:
Strophen- /
Gedichtformen (= Anordnung der Verse zu Blöcken durch
bestimmte Wiederholungsstrukturen)
Sonett: italienisch: bestehend aus zwei Quartetten und zwei Terzetten
(strengste = geschlossenste Gedichtform)
Stanze: acht Verszeilen, endecasillabisch (= 11 Silben, im dt. fünfhebiger
Jambus), Reimschema: abababcc (aabccbdd)
Terzine: dreizeilige Strophen, verbunden durch Kettenreim (aba bcb cdc...),
endecasillabisch
Volkslied: zwei bis acht drei- oder vierhebige Verse mit freier
Füllung, gereimt
Hymne: Kultgesang, hohe Sprache, keine feste Metrik / keine festen Strophen
(freirhythmisch)
VL 3
Gedichtsformen:
Romanische
Strophen- / Gedichtformen
1.
Strophenform Romanze (span. Herkunft, vierhebige
Trochäen, vier Verse, oft nur assonierend in der Endstellung statt Reimbindung)
- v - v - v -
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn
gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig’ auf in
der alten Pracht!
(Ludwig Tieck:
aus dem Prolog des Lustspiels Kaiser Octavianus [1804]. In: Gedichte der
Romantik, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1984, S. 163f.)
Assonanz = klangliche Übereinstimmung der Vokale zweier Wörter mindestens ab
ihrer letzten betonten Silbe; Funktion: Verknüpfung durch vokalischen
Gleichklang
2.
Romanische Gedichtformen im Überblick
Triolett
Rondel
Rondeau
Glosse
Sestine
Kanzone
Madrigal:
weitgehende Freiheiten (verschiedene Hebungszahlen), meist alternierend,
gereimt ohne festes Reimschema, nicht strophisch (im Unterschied zum Volkslied)
Ballade:
Gedicht-, meist
liedförmige Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit
(1) fiktional
(schließt damit historisch verbürgte Ereignisse nicht aus)
(2) geringer
Umfang (geraffte Darstellung eines gedrängten Ereigniszusammenhangs)
(3) in
Versen (meist strophisch)
(4)
konflikthaftes Ereignis (tragische,
komische Auflösung)
Geschichte
der Ballade
- seit Ende 18.
Jahrhundert relevant: Begründung der dt. Kunstballade durch Gottfried August
Bürger: Leonore (1773)
-
‚Balladenjahr‘ (1797): Der Zauberlehrling, Die Kraniche des Ibykus u.a.:
Goethe und Schiller verpflichten das Genre nach Stoff, Gehalt und Form auf die
Grundsätze der Klassik von Weimar: In der Ballade sind die „Elemente“ der
Dichtung (das Lyrische, Epische und Dramatische) „noch nicht getrennt, sondern
wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen“
- Ende dieser
Dominanz im letzten Drittel des 19. Jh.
Dominanz der
Ballade im 19. Jahrhundert:
Gründe /
Voraussetzungen
- Erzählen ist die
Problemlösung des Realismus für die Konstituierung von ‚Realität‘ und für
die Semiotisierung dieser Realität, weil man damit den literarischen Eindruck
einer unmittelbaren Abbildung von ‚Realität‘ erzeugen kann
® ‚Realitätseffekt‘ (Roland
Barthes)
à Ballade bietet als
‚Erzählgedicht‘ eine lyrikspezifische (und damit lyrikinterne) Antwort auf
diese Entwicklung
Welcher
Gattung gehört die Ballade an?
Verbindung von
lyrischen, epischen, dramatischen Elementen
Beispiel:
Fontane: John Maynard (1886)
Erzählgedicht
- Gedicht von
balladenhafter Prägung, aber ohne die um 1850 noch dominierenden heroischen
Züge; verstärktes Vorkommen seit dem Spätrealismus
- Das Epische
tritt in den Vordergrund (jetzt im Sinne der narrativen Entfaltung statt einer
gedrängten Ereignisfolge): u.a. durch lapidar-alltägliches, prosanahes lyrisches
Sprechen
- angesiedelt
an der Grenze zur literarischen Moderne (Blankverse bei Storm vs. Freie Verse
in Liliencrons Ich war so glücklich)
- Komplementär
dazu tritt die strophische Gliederung zurück (statt Strophen: eher
Erzählabschnitte)
VL 4
Drama
à Konstitutives Merkmal
Unmittelbarkeit
Konstitutive
Merkmale gegenüber Lyrik:
- Figuren
sprechen und handeln in konkreten Situationen (dialogisch / monologisch)
- literarischer
Text, der neben einer Lektüre für die Inszenierung auf dem Theater gedacht ist
® Kombination zweier
Textsorten: fiktive direkte Rede (Haupttext) mit anderen
Textpassagen, welche diese Rede arrangieren, situieren, kommentieren (Nebentext)
Was ist
ein Drama?
Drama
(Begriffsgeschichte)
griech. dráma
= Ableitung des Verbs drán: Hände betätigen, körperlich agieren
- allgemeiner:
tun, handeln (Aristoteles);
- im
künstlerischen Bereich ‚mimetisch darstellen‘
(Mimesis = imitatio
= Nachahmung und zugleich die ästhetische Darstellung dieser
Nachahmung)
Bestimmungen
des Dramas in der Antike
Platon:
Nachahmung
(mimesis) von ‚Wechselreden‘:
Hier besteht
alles „ganz in Darstellung“ (im Unterschied zum „Bericht des Dichters selbst“
in der Lyrik)
Aristoteles:
-
‚Redekriterium‘: Die dargestellten Personen reden
-
Unterscheidung Komödie vs. Tragödie:
„Die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere
Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“
® tragende Elemente des Dramas
allgemein: Handlung, Dialog bzw. (wenn man Monologe einbezieht) Figurenrede
und – als zentraler Aspekt von (5) – sinnliche Darbietung
sowie das von Aristoteles nicht eigens erwähnt Rollenspiel
® Drama =
Handlungs-sprech-schau-spiel
Definition
von Drama im Reallexikon
àKurzdefinition:
„Poetischer
Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht“
„Drama bezeichnet
eine Gattung von Texten, in denen zwei Textsorten miteinander
kombiniert sind, und zwar sowohl fiktive direkte Rede (Haupttext)
als auch Textpassagen (als Minimum: ein Symbol für den Sprecherwechsel), welche
diese Rede(n) in nichtnarrativer Weise arrangieren, situieren,
kommentieren (® Nebentext).“
Bauelemente
des Dramas:
à Haupttext / Nebentext
Haupttext:
Äußerung einer Figur im Drama
- direkte Rede
( Figurenrede)
- situativ
gebunden (im Ggs. zum philosophischen Dialog)
- geprägt von
der Perspektive der sprechenden Figur
-
polyfunktional: gebunden an den dramatischen und theatralischen Kontext
- betrifft
innere und äußere Kommunikation: ist auf den fiktionalen und den
nichtfiktionalen Adressaten
(Zuschauer)
gerichtet
(® doppelte
Kommunikation)
Nebentext:
alle Textelemente außerhalb der Figurenrede
- Paratexte:
Titel, Untertitel (Genre-Angaben), evtl. Widmung und Motto; Verzeichnis der dramatis
personae, Ort- / Zeitangaben, evtl. Vorrede und Nachwort des Autors
(zu
unterscheiden von Prolog / Epilog bzw. Vorspiel / Nachspiel als szenische
Bestandteile des Dramas selbst)
- Texte im
laufenden Dramentext: Akt, Szene, Angaben zu Auftritt / Abgang der Figuren, zu
den Figuren selbst
- Gesamtheit
der Szenen- bzw. Regieanweisungen
(theater-/kontextbezogen:
Requisiten, Bühnenbild, Kostüme, Masken; schauspielerbezogen: Aktion, Gestik,
Mimik)
= Bemerkungen
vor, in, zwischen oder nach den direkten Reden im Drama
Formen und
Funktionen des Nebentexts I
(1) bloße
Regieanweisung:
Informationen
über Requisiten, Bühnenbild, Kostüm, Maske, Aussehen, Aktionen, Redeweise,
Gestik und Mimik der Figuren
® stellen Anschaulichkeit
bereits in der Lektüre her
(2)
episierender Nebentext:
In teils sehr
langen Nebentexten (z.B. im Naturalismus bei Hauptmanns Die Weber) macht
sich der Dramatiker kommentierend und damit bereits interpretierend geltend:
® Er wird dadurch gleichsam zum
Erzähler von wichtigen Aspekten des Dramas.
Epik vs.
Drama
Erzählerrede
Epik
Figurenrede szenische Darbietung
Drama
Formen
und Funktionen der Figurenrede:
Dialog:
Wechselrede:
Unterredung, Gespräch, Konversation innerhalb des „zwischenmenschlichen
Bezuges“ (Szondi, 14)
® wechselseitige
Verständigungshandlung in der spezifischen Figurenkonstellation
Sonderform in
der Antike (die dann im klassizistischen Drama, im Drama der Klassik und des
19. Jahrhunderts als Formzitat wiederkehrt):
Stichomythie
= zeilenweise Wechselrede: Rede- und Gegenrede jeweils
in einem Vers (Effekt: Dynamisierung im Verhältnis zu den Erregungszuständen
der Figuren)
Monolog:
Rede einer
Figur, die allein ist oder alleine spricht: nicht an das Publikum oder an
andere Dramenfiguren gerichtet, für das Publikum aber hörbar
® Selbstan- / -aussprache
® Beispiel für die
dramenspezifische doppelte Kommunikation: Der Monolog ist als Selbstgespräch in
der fiktiven Handlung angesiedelt, dem Publikum aber zugänglich
® genutzt zur Darstellung
psychischer Verfaßtheiten und individueller Besonderheiten einer Figur
(z.B. die
Monologe Odoardos in Lessings Emilia Galotti)
Zentrale
Opposition für die Beurteilung der formalen Verfaßtheit einer Figurenrede (als
Dialog / Monolog)
metrisch
gebundene vs. ungebundene Rede: Prosa
Formen
und Funktionen der Figurenrede – Beispiele
Lessing: Emilia
Galotti (1772)
- größtenteils dialogisch
= „Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges“ „Die im Drama gesprochenen
Worte sind allesamt Entschlüsse, sie werden aus der Situation heraus
gesprochen“ (Szondi, 15);
- zahlreiche Monologe
(aber kein einziger Monolog Emilias!): Prinz I/3 (ohne Nebentext), I/5,
I/7; Odoardo V/2, V/4 (beide ohne NT), V/6 (mit NT: „Blickt wild umher“,
„Pause“ / „Pause“), Claudia II/5 (ohne NT)
® I und V: rahmenbildende
Anlage nach den zentralen Konfliktfiguren Prinz-Vater (Alternationsstruktur:
ungerade, gerade Auftritte); affektiv gestaute und rhythmisierte Rede (vgl. die
Verfahrensähnlichkeiten zum Inneren Monolog, Sprache ist hier Spiegel der
inneren Verfaßtheit, teils unkontrolliert: Partikel, Interjektionen,
Satzabbrüche, Versprecher, Gedankensprünge: Gedankenstriche ® assoziativ,
emotional)
- Prosa –
homogen: keine figurenspezifisch soziale Differenzierung
® mittlerer Stil: mittlere
Figuren von „gleichem Schrot und Korne“ (Lessing: Hamburgische Dramaturgie,
75. Stück)
® Identifikation des
Zuschauers statt Bewunderung wie in der heroischen Bewunderungstragödie (in
Alexandrinern)
Zu beachten
ist bei dieser typologischen Unterscheidung zudem:
Merkmale des
Dramas der ‚geschlossenen Form‘:
- Die
dramatische Handlung repräsentiert das harmonisch geordnete Ganze (die Ordnung
der Welt, das Allgemeine);
sie stellt
damit einen „Ausschnitt als Ganzes“ dar (Klotz)
- Begründet
wird dieser Idealtypus durch die aristotelische Tradition (genauer durch
die Poetik des Aristoteles)
Grundlegende
Merkmale:
1. Einhaltung
der Einheit von Ort, Zeit und Handlung (Dreieinheiten), d.h. es
sollen keine Ortswechsel stattfinden, die Zeit der Handlung soll nicht mehr als
24 Stunden betragen, und die einsträngige Handlung soll Anfang, Mitte
und Schluß aufweisen: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ (Poetik,
Kap. 7, S. 25)
2. Einhaltung
einer bestimmten Stillage (aptum), die Figuren (soziale Stellung),
Handlung und Rede aufeinander zuordnet (® genera dicendi);
in Hinsicht auf die Tragödie: hohes Personal (Fürsten), Gegenstand von
allgemeinem Interesse (u.a. in staatspolitischer Hinsicht; die Stoffe werden
aus dem Bereich der Mythologie oder Historie genommen), stilus sublimis
(Alexandriner / Blankvers); die Stillagen-Forderung gilt auch für Komödie.
à Das Drama der offenen Form
(das die aristotelischen Einheiten und die daraus abgeleiteten Regeln nicht
mehr einhält) ist historisch (mit Shakespeare) entstanden und prägt die
deutsche Dramengeschichte erst seit etwa 1770, also seit dem Sturm und Drang
(mit weiteren Stationen etwa bei Büchner und Grabbe um 1830).
Merkmale des
Dramas der ‚offenen Form‘
-
Der Idealtyp ‚Drama der offenen
Form’ bestimmt sich in Abgrenzung zum geschlossenen Drama in der
aristotelischen Tradition:
® Dramen, deren Bauprinzip dem
klassizistischen Ordnungssystem nach Aristoteles nicht mehr entspricht.
-
Literarhistorisch ist hier der Einfluss der Dramen Shakespeares wichtig
geworden (genauer die Shakespeare-Rezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts).
- Die Normen
der aristotelischen Dramentradition müssen nicht eingehalten werden; teilweise
Übernahmen sind aber durchaus denkbar und üblich.
®
Das Drama der offenen Form definiert sich nicht ausschließlich über die
theatralische Umsetzung (im Gegensatz zur geschlossenen Form).
Vorherrschende
Gliederungsprinzipien :
Geschlossene
Form:
®
Betonung des Akts
Offene Form:
®
Autonomie der Szene
Akt
à Hauptabschnitt des Dramas
Dialog- bzw.
Handlungssequenz, die von den benachbarten Sequenzen durch einen Ortswechsel
oder einen Zeitsprung getrennt werden: Im Drama der geschlossenen Form
markieren Akte unterscheidbare Phasen der Handlung
Szene
à Handlungsabschnitt mit
gleichbleibendem Schauplatz oder Personal
® Szene = Auftritt
Mischformen =
Auftritte einer neuen Person innerhalb der Szene sind möglich (Horaz empfiehlt
höchstens 3 Personen für eine Szene; Verknüpfung der Szenen durch eine auf der
Bühne bleibende Person seit Corneille)
® Die Szene ist dem Akt
untergeordnet
® Form der Binnengliederung
eines Akts
Die Anzahl und
Logik der Szenenordnung ist für die Interpretation eines Dramas relevant
Drei oder
Fünfaktig
Höhepunkt / Peripetie
(tragisches Moment)
Epitasis / steigende Handlung fallende Handlung
(erregendes Moment) (Moment der letzten Spannung)
Exposition
Katastrophe / Lösung des Konflikts
VL 5
Kömödie
Zweiteilung in
ernstes und komisches Genre:
- Tragödie / Trauerspiel
- Komödie / Lustspiel
Unterschieden
wird nach der Lösung des Konflikts:
Tod oder
Hochzeit oder ganz allgemein: die positive oder negative Lösung
Mischformen ergeben sich:
(1) aus der nicht
eindeutigen Schlußgestaltung
(2) aus dem Fehlen
entweder komischer oder tragischer
Elemente:
(1) Tragikomödie:
Bewußte Verbindung / hybride Mischung komischer und tragischer Elemente nach
dem Vorbild Shakespeare (z.B. Hamlet: Tragödie des Königssohns gegenüber
komischen Szenen, z.B. Totengräberszene)
® Aufhebung der durch die
Regelpoetik nach Aristoteles definierten Gattungsgrenzen
(2) „Schauspiel“
(z.B. Goethe: Iphigenie, Torquato Tasso)
àKömodie: Drama, das über
größere Partien eine oder mehrere Zentralfiguren als komisch präsentiert. ® Das Komische ist
notwendiger Bestandteil der Komödie.
Was ist
komisch?
Komik der Herabsetzung
® Verlachen als
intellektuelles Phänomen (aus der Distanz):
stellt eine
Figur in ihrer erwarteten Vollkommenheit, eine Norm in ihrer behauptetet
Gültigkeit in Frage
(2) Komik der Heraufsetzung
(bzw. Aufhebung):
® Lachen (über etwas)
als Bejahung von Unterdrücktem und Verdrängtem, als Anerkennung des
Lustprinzips
Das
Verhältnis des Tragischen und Komischen zu den Gattungen
Das Tragische ist notwendiger Bestandteil der Tragödie.
Das Tragische ist möglicher Bestandteil der Komödie.
Das Komische ist möglicher Bestandteil der Tragödie.
Das Komische ist notwendiger Bestandteil der Komödie.
Was begründet
die Komödie?
Die Tragödie
ist bestimmt durch die Aufhebung des tragischen Konflikts in der Katastrophe.
Die Handlung ist final begründet, daher in sich gegliedert und
geschlossen
®
Funktionalität der Elemente für die Einheit der Handlung.
Die Komödie
dagegen führt den Kontrast zwischen Norm (Erwartbarem) und Abweichung
vor. Sie ist folgenlos (keine Katastrophe). U.a. deshalb ist die
Komödie offener organisiert (= episodisch), zumal kaum eine ganze
Handlung durchweg komisch ist (und es auch nicht sein kann).
Übliche
Verfahren der Komödie:
(1) Konflikte = Verwirrung durch
- Identitäts- /
Rollenwechsel (Verkleidungen, Maskierungen, Kleider- / Rollen- /
Geschlechtertausch)
- durch Intrigen
und Gegenintrigen
- Schlagfertigkeit,
Wortwitz, Situationskomik, Beiseitesprechen
Intrige (frz. intrigue von lt. intricare = verwickeln, verwirren):
Bezeichnung für
ein die Handlung begründendes Komplott, für einen Plan, eine List oder
Täuschung
(2) Auflösung aller
Verwirrung im guten Ende;
komödientypisches Ende: Hochzeit(en)
Grundelemente
der Komödie:
- Komik
- guter Ausgang
(oft Hochzeit)
-
Spiel(charakter), Spielbewußtsein, Heiterkeit / Fröhlichkeit
- niedere
Personen (gilt jedoch nur unter den Bedingungen der Regelpoetik, also bis etwa
Mitte des 18. Jahrhunderts)
- episodischer
Charakter (gegenüber der Tragödie)
Doppelstruktur
der Komödie:
Punktuelle
komische Elemente überlagern eine i.d.R. nicht rein komische Handlung: Es gibt
ja jeweils durchaus ernste Gründe für die komödientypische Verwirrung: Eine
rein komische Handlung wäre reine Blödelei; ihr Gegenpol, d.h. das Vorherrschen
ernster Elemente, führt zur sog. ‚ernsten Komödie‘ oder zur Tragikomödie bis zu
einem Grenzwert, an dem man dann von Tragödie sprechen müsste
Historische
Varianten (= typologisch unterscheidbare
Ausprägungen der deutschsprachigen Komödie im 18. und 19. Jahrhundert)
(1) Satirische
Verlachkomödie
(Lessing: Der
junge Gelehrte ® sog. Sächsische Typenkomödie)
(2) Rührendes
Lustspiel
(Gellert: Die
zärtlichen Schwestern, dieses auch als zweite wichtige Traditionslinie für
das Bürgerliche Trauerspiel; dazu genauer VL Plan 26. November)
(3) Ernste
Komödie / Tragikomödie
in der
szenischen Verbindung komischer und tragischer Elemente und als Synthese von
(1), (2) und Bürgerlichem Trauerspiel (Lessing: Minna von Barnhelm;
siehe dazu VL Plan 3. Dezember)
(4) Spiel im
Spiel / parabatische Komödie
(Tieck: Der
gestiefelte Kater, mit literatursatirischen Impulsen gegen Politik und den
zeitgenössischen Literaturbetrieb)
(5) Intrigen-
/ Spielkomödie
VL 6
Tragödie / Bürgerliches Trauerspiel
Zentrale
Formel: unlösbare(r) Konflikt(situation)
®
Der Held geht auf eben demjenigen Weg unter, den er einschlägt, um den Untergang
zu vermeiden (Paradigma: Sophokles‘ König Ödipus).
Das Tragische
entsteht in einer Figur, aus deren Perspektive die Katastrophe die notwendige
Konsequenz der von ihr als ausweglos wahrgenommenen Situation darstellt.
Weil das
Tragische nicht durch objektive, sondern durch subjektive Ausweglosigkeit
bestimmt ist, kann es punktuelles Moment sein. In der Tragödie bezieht es sich
i.d.R. auf den gesamten Text.
Auslösendes
Moment des Tragischen ist die Einsicht der Figur in die Ausweglosigkeit des
Konflikts, d.h. der unaufhebbaren Differenz von Besonderem (Figur) und
Allgemeinem (das, was aus der Figurenperspektive diese Ausweglosigkeit
bewirkt).
® Das
Tragische ist damit unabhängig von der Rezipienten-perspektive (was eine
Wahrnehmung des Tragischen von dieser Seite natürlich nicht ausschließt), auf
jeden Fall aber keine notwendig wirkungsästhetische Kategorie;
Konsequenzen
im Detail
Figurenrede:
homogen, pathetisch (hohes Sprechen hoher Figuren)
® Einhaltung der Ständeklausel
(d.h. Rang der
Figuren legt Handlungs- und Sprechweise fest). Die Ständeklausel bestimmt auch
die Fallhöhe der Figuren: Ihr Untergang ist umso eindrücklicher, je höher die
Figur gestellt ist bzw. je höher sie sich über andere erhebt.
® stilus sublimis (siehe zu den genera dicendi VL 4): jambischer Trimeter
(griechische Tragödie: 6 Jamben mit freier Zäsur), Alexandriner (Barock, frühes
18. Jh.), Blankvers (seit Shakespeare im Drama der Weimarer Klassik, erstmals
in Wielands Lady Johanna Gray 1758)
Unterscheidungsversuche
in der Moderne
Walter
Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928)
- ‚Tragödie‘
für das griechische Modell (Macht und Gewalt des Mythos)
- ‚Trauerspiel‘
für die theatrale Repräsentation eines historischen Unglücks im christlichen Zeitalter
Typologisch
unterscheidbare historische Varianten vom 17. Jahrhundert
bis zum 19. Jahrhundert
- Trauerspiel
des Barock
- Heroische
Bewunderungstragödie der Frühaufklärung
- Bürgerliches
Trauerspiel (Beispiel Emilia Galotti)
- Hohe Tragödie
in Blankversen um 1800 (im Rekurs auf die griechische Tragödie) (Beispiel Familie
Schroffenstein)
Vertreter: Schiller, Kleist, Grillparzer, Hebbel
Goethe dagegen schreibt in der Phase der Weimarer Klassik strictu sensu keine
Tragödien, sondern ‚Schauspiele‘; die zu diskutierende Ausnahme wäre Faust:
ist aber kein geschlossenes Drama, sondern in Faust I (1808)
eine reine Szenenfolge, gekennzeichnet bereits durch metrische Vielfalt,
die im fünfaktigen Faust II (1832 posthum) noch zum
Universaldrama gesteigert wird
Bürgerliches
Trauerspiel der Aufklärung
Merkmale:
- Anpassung der
Ständeklausel:
keine
Fürsten bzw. hohe Personenn, sondern erfundene Figuren aus der Sphäre des
Bürgertums bzw. niederen Adels: ‚mittlere Figuren‘ von ‘„gleichem Schrot und
Korne“, z.B. Kaufleute, Gelehrte, niederer Adel
- keine
historischen, keine mythologischen Stoffe
- Figurenrede
in Prosa (statt Alexandriner):
- natürliche
Sprache des Herzens
® keine sprachliche
Distanz, sondern Identifikation
VL 7
Tragikomödie
à Verbindung von Komischem
und Tragischem im Drama
® spezifische Kombination von Strukturmerkmalen, Funktionen
und Wirkungen von Tragödie und Komödie
Die
Kombination tragischer und komischer Elemente bezieht sich auf:
- Struktur und
Handlungsführung: ernste Handlung mit glücklichem Ausgang (keine Katastrophe /
kein Tod)
- Figurenwahl:
gemischt oder in Verkehrung der Ständeklausel (hohe Figuren werden als komisch
präsentiert, niedere als ernst; beide Bereiche kommen zusammen)
- Stilmischung
/ -verkehrung (pathetisch-komisch / einfach-ernst)
z.B.
Shakespeares Troilus und Cressida (1609): hohe Personen des trojanischen
Kriegs (Achill, Odysseus) artikulieren in Blankversen ihre niedere Gesinnung
und menschlichen Schwächen (Feigheit: Sie wollen nicht kämpfen, sind lieber
faul und vergnügen sich sexuell: Achill mit Patroklos usw.)
Zentraler
Mechanismus
Überblendung
einer Grundstruktur mit szenischen Mitteln der Gegengattung (zum Zweck der
Kontrastierung)
also: Entweder
Grundstruktur der Tragödie mit Formen des Komischen
oder: Grundstruktur
der Komödie mit tragischen Elementen
®
Abkehr von den aristotelischen Vorgaben
®
historisch entstanden (Shakespeare)
® Die Tragikomödie ist
historisch, strukturell und funktional ein Übergangsphänomen
Beispiele (neben Lenz, Lessing, s.u.):
- Molière: Le Tartuffe ou l’Imposteur. Comédie en cinq actes (1669)
- Schiller: Turandot,
Prinzessin von China. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi (1802)
- Kleist: Amphitryon,
ein Lustspiel nach Molière (1807)
- Hebbel. Trauerspiel
in Sizilien (1847/51)
- Hauptmann: Der
rote Hahn. Tragikomödie (1901)
- Wedekind: Der
Marquis von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen (1900)
- Schnitzler: Das
weite Land. Tragikomödie in fünf Akten (1911)
- Kaiser: Kanzlist
Krehler. Tragikomödie in drei Akten (1922)
- Beckett: Fin
de partie (1957)
- Dürrenmatt: Der
Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie (1956)
- Thomas
Bernhard: Der Theatermacher (1985)
Tragikomödie
bei Lenz: Die Soldaten
àElemente der Tragödie:
- ernste Themen
/ sozialpolitisch relevante Fragen, Darstellung sozialer Mißstände (im
Soldatenstand, im Umgang mit Juden, väterliche Gewalt u.a.)
- szenische
Reflexion zeitgenössischer Diskurse: Sexualität (männliche Definitionen der
Frau als Hure, I/4, V/III); Erziehung (Vater vs. Gräfin La Roche: Pamela ® ‚gefährliche‘ = verderbliche Lektüren der Empfindsamkeit, vgl.
III/10); „Komödie“ (Diskurs über zeitgenössische Theaterverhältnisse, I/4)
- unlösbare
Konfliktlage bei Mariane
àElemente der Komödie:
-
Selbstreflexion der Komödie im Stück (I/4)
-
karikaturistische Züge (groteske Übertreibungen, sprechende Namen)
- Komik der
Normverletzung (z.B. im Anspruch des Galanteriewarenhändlers Wesener,
Zitternadeln nur an höhere Damen zu verkaufen)
® Gesellschaftsdramatik mit
komischen Elementen
® Mischung komischer und
tragischer Elemente
Lessing: Minna
von Barnhelm, oder das Soldatenglück (1767)
Ernste Komödie
/ Tragikomödie
in der
szenischen Verbindung komischer und tragischer Elemente und als Synthese aus
Satirischer Verlachkomödie, Rührendem Lustspiel und Bürgerlichem Trauerspiel
Dramatischer
Dichter als zweiter Geschichtsschreiber
- Dramatisierung
historischer Stoffe
- wahrheitsgetreue
Darstellung eines historischen Ereignisses: so, „wie es eigentlich gewesen“ ist
(Leopold Ranke)
„[...] der
dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber,
steht aber über letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu
geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt,
uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt.
Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben,
so nahe wie möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher
sein, als die Geschichte selbst“
(Büchner, Brief
an die Familie, 28. Juli 1835),
® Realismus in der Darstellung
® realistisches Drama ( = keine Idealisierung wie noch in der Klassik)
„Wenn man mir
im übrigens noch sagen wollte, der Dichter müssen die Welt nicht zeigen wie sie
ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte ich, daß ich es nicht besser
machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein
soll. Was noch die sogenannten Idealdichter [Schiller!] anbetrifft, so
finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und
affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben
haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und
Handeln mir Abscheu und Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte
viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller“
(Büchner, Brief
an die Familie, 28. Juli 1835)
® Figuren werden so
präsentiert, daß man sie sich als real existent vorstellen kann
Drama als
Schule der Wirklichkeit durch Ausbildung eines realistischen Sinns; die
als Voraussetzung für politisches Handeln:
-
Verwirklichung einer sozialen Revolution oder
- der
nationalen Aufgabe (in den ‚vaterländischen Schauspielen)
Grund für die
Abkehr vom idealistischen Drama der Weimarer Klassik:
- ‚Ende der Kunstperiode‘ (Heine): Vormärz / Biedermeier Frührealismus (Faktoren:
Industrialisierung: Verelendung der Massen, Restauration u.a.; z.B. die Rolle
neuer Massenmedien (Zeitung) und neuer Techniken, so etwa der Telegraph in Grabbes
Napoleon-Drama (RUB, 55, 64f.)
® Einsatz realistischer
Darstellungstechniken bei Büchner auch nach dem Vorbild Lenz (vgl. dessen
Novelle Lenz)
Darstellungsformen
des realistischen Dramas
- Vermehrung
und Differenzierung des Personals
® Auflösung hierarchischer und
symmetrischer Figurenkonstellationen: Darstellung einer unübersichtlichen,
komplexen Realität
- keine
eindeutigen Konfliktstrukturen mehr: Figur ist determiniert durch vielfältige
Einwirkungen des Sozialen und Gesellschaftlichen; die Einzelfigur verliert als
Handlungsträger an Bedeutung, weil sie selbst nicht mehr handlungs-, d.h.
entscheidungsmächtig ist, sondern vielmehr dem „gräßlichen Fatalismus der
Geschichte“ ausgeliefert (Büchner, Brief an die Braut, 9.-12. März 1834)
- offenes Drama
in der Traditionslinie von Lenz; bei Büchner und Grabbe noch extrem gesteigert
(isolierte Einzelszenen, parataktisches Nebeneinander, komplexes Panorama
gesellschaftlicher Verhältnisse)
Schauspiel
Um 1800
verweist das Wort ‚Schaubühne‘ nach der im 18. Jh. vorwiegend noch synonymen
Verwendung mit ‚Drama‘ und ‚Schauspiel‘ (vgl. VL 4) v.a. auf den
-
theaterpraktischen Aspekt, also die Umsetzung des dramatischen Texts auf der
Bühne
gegenüber dem
nun
- als Dichtkunst
/ Kunstwerk (nach Maßgabe der Autonomie-Ästhetik) aufgefaßten
‚Drama‘
(Johann Georg
Sulzer: Drama. Dramatische Dichtkunst. In: Allgemeine Theorie der
schönen Künste, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1792 [11793], S. 705; in der UB
vorhanden)
Schauspiel
vs. Tragödie
- Tragödien schreibt in der
Weimarer Klassik im Grunde genommen nur Schiller (und in dessen Gefolge dann
Kleist, der allerdings nicht der Klassik angehört; vgl. Familie
Schroffenstein: neben Antikenbezug Wirkung Shakespeares)
- Schauspiele dagegen nennt
Goethe selbst zwei seiner klassischen Dramen:
- Iphigenie
auf Tauris. Ein Schauspiel
- Torquato
Tasso. Ein Schauspiel
Merkmale
‚Schauspiel‘ um 1800:
- ernste Stücke
mit gutem, also soweit versöhnlichem, aber darin durchaus gebrochenem Ausgang
- keine
Komödien (keine komischen Elemente vorhanden): Von daher ist die Verbindung von
erstem Thema und gutem Ausgang auch nicht als Tragikomödie zu rubrizieren.
à Goethes Torquato Tasso und
Iphigenie auf Tauris als ‚Schauspiele‘ der Weimarer Klassik
4.6.3
Weitere Dramenformen im Überblick
Libretto
Oper
Operette
Musical
Singspiel
Oratorium
Schwank
Sketch
......
(1) Analytisches Drama
Ein zeitlich
vorausliegendes, aber noch wirksames Ereignis bzw. Geschehen wird enthüllt
= Aufdeckung
der Vorgeschichte: Enthüllungsdrama;
z.B. Sophokles:
König Ödipus
(2) Synthetisches Drama
Der durch die
Handlung entfaltete Konflikt wird entschieden: Entscheidungsdrama; z.B.
Lessing: Emilia Galotti
(3) Stationendrama
Keine
durchgehende Handlung, kein zentraler Konflikt, sondern szenische Reihung
einzelner Stationen: Diese zeigt eine Mittelpunktsfigur in einer Sinnkrise auf
der Suche
® zyklische Abfolge der
Stationen seiner Wanderung
® bevorzugte Dramenform des
Expressionismus (seit Strindberg)
Drama der
Moderne: ‚Episierung’ des Dramas‘
(nach Pfister,
S. 103-122)
- Aufhebung der Finalität
durch
„Selbständigkeit seiner Teile“ (Schiller im Brief an Goethe 21. April 1797. In:
Briefwechsel Schiller - Goethe; hrsg. v. Emil Staiger, Bd. 1, Frankfurt
a. M. 1977 [11966], S. 375).
- Aufhebung der Konzentration
Breite,
Detailfülle, ‚Totalität‘ (gleich dem Roman): panoramatische Raum- und
Zeitstruktur, umfangreich, hohen Figurenzahl Personal u.a
- Aufhebung der Absolutheit
Vermittelnde
Elemente werden erkennbar.
zum Begriff Absolutheit:
„Das Drama ist absolut. Um reiner Bezug, das heißt: dramatisch sein zu
können, muß es von allem ihm Äußerlichen abgelöst sein. Es kennt nichts außer
sich.“ (Szondi, S. 15)
VL 8
Narrative Texte (fiktionale Erzähltexte)
Die
Beobachtungen zum Drama in den letzten VL waren geleitet von bestimmten formalen
und thematischen Unterscheidungen:
- offenes vs.
geschlossenes Drama
- Komödie – Tragödie
– Tragikomödie
(=
Gattungsdifferenzierungen nach Dominanz und Verteilung komischer und tragischer
Elemente)
Diese Kriterien
spielen bei der systematischen Klassifizierung narrativer = erzählender Texte
keine Rolle ® Zur strukturellen Offenheit und damit ausgeprägten
Flexibilität narrativer Texte gegenüber dem Drama
Schiller/Goethe:
Über epische und dramatische Dichtung (1797)
Der Epiker
trägt
- „Begebenheit
als vollkommen vergangen“ vor (521) [Tempus Präteritum]
- stellt „den außer
sich wirkenden Menschen“ dar: „Schlachten Reisen, jede
Art von Unternehmung die eine gewisse sinnliche Breite fordert“
(522) [Totalität]
- „übersieht“„in
ruhiger Besonnenheit das Geschehene“; „sein Vortrag wird dahin zwecken, die
Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er
wird das Interesse egal verteilen, weil er nicht im Stande ist, einen
allzulebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben
rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm
überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu
tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen
gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft.“
(523)
(Briefwechsel
Schiller - Goethe; hrsg. v. Emil Staiger, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977
[11966], S.521-524)
Diese
spezifische Unbestimmtheit und strukturelle Offenheit hängt entscheidend mit
dem zentralen Merkmal narrativer Texte zusammen: ihrer Vermitteltheit durch
einen Erzähler
Prosa vs. Poesie
- im
allgemeinen Sinn: metrisch nicht gebundene, stilistisch variable
Mitteilungsform von Texten
® Gegenbegriff zur metrisch
gebundenen Rede (‚Poesie‘); gilt insofern für alle Textsorten
- im engeren
Sinn für Erzählprosa: „Poesie des Herzens“ vs. „Prosa der
Verhältnisse“ im Roman, der „modernen bürgerlichen Epopöe“
(Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil: Die Poesie, hrsg. v.
Rüdiger Bubner, Stuttgart 1971, S. 177)
-
Sammelbezeichnung für unterschiedliche kürzere – erzählende,
beschreibende, argumentierende, reflektierende – Texte mit
literarischem Anspruch
- v.a. in der
Moderne wird ‚Prosa‘ zur generellen Bezeichnung von kleineren narrativen Texten
unterhalb der Großgattung Roman gebraucht, daneben für beschreibende und
philosophisch reflektierende Kurztexte
Grundlagen
der Erzähltheorie
3
Hauptgattungen: Drama – Epik / Erzählung – Lyrik
àKennzeichen epischer Texte:
Mittelbarkeit
® Der Erzähler – wie
präsent auch immer er ist – fungiert als vermittelnde Instanz zwischen
Erzähltem / Erzählen und Leser.
® Das Dargestellte wie die
Darstellung selbst wird dadurch grundsätzlich perspektivisch vermittelt:
Erzählen präsentiert also die Welt aus der bestimmten (und damit bedingten = an
Bedingungen geknüpften = spezifisch eingeschränkten) Perspektive einer Vermittlungsinstanz.
Erzählung
(1) vs. Erzählung (2)
(1):
Oberbegriff für die Textsorten-Klasse ‚narrativ vermittelte Texte‘ (löst
zunehmend den traditionellen Oberbegriff ‚Epik‘ in der Gattungstrias nach
Goethe ab; siehe dazu VL 1)
(2): narrative
Texte kürzeren bis mittleren Umfangs
Was heißt
Erzählen?
Mindestens 2
Ereignisse werden sprachlich verknüpft:
- Ein einzeln
berichtetes Ereignis (‚Es regnete‘) ist noch keine Erzählung (weil: nur ein
Ereignis)
- Zwei
Ereignisse, die nicht miteinander
verknüpft sind (‚Es regnete. Der Krakatau brach im Jahre 1883 aus‘), sind auch
noch keine Erzählung (es sei denn, der ganze Erzählkontext macht eine
Verknüpfung plausibel).
® Die Erzählung ist die
sprachlich-mentale Verknüpfung von Ereignissen (Bode 2005, 11), die jemand als
etwas Besonderes mitteilt (Scheffel/Martinez 1999, 9)
® Sie ‚macht Sinn‘, denn die
Ereignisse sind erzählenswert, weil sie etwas Besonderes, z.B. Erfahrungen
eines Menschen mitteilen (etwa Odysseus‘ Irrfahrt nach dem trojanischen
Krieg und seine Heimkehr nach Ithaka in Homers Odyssee; vgl. Bode 2005,
2f.)
Erzählen –
Fiktionalität
Man kann von
realen oder fiktionalen (d.h. erfundenen) Ereignissen erzählen:
® faktuales vs. fiktionales Erzählen
Vorwurf seit
Platon: Dichter lügen, weil sie etwas erfinden, das nicht notwendig möglich /
wahrscheinlich und schon gar nicht wahr sein muß. Diesem Einwand kann man mit
der spezifischen Logik fiktionalen Erzählens begegnen:
Zunächst stellt
sich dazu die Frage, worauf Erzählen allgemein abzielt: auf das Vergegenwärtigen
von Ereignissen „in einer realen Kommunikationssituation, in der ein
realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen
werden“
VL 9
Epos
-
epische=narrative Großform in Versen (metrisch gebunden: Zeilenrede =
stichisch)
- Die
stichische (seltener strophische) Organisation unterscheidet das Epos von allen
anderen erzählenden Formen.
- Totalität in
der Darstellung größerer zeitlicher, biographischer und weltlicher
Zusammenhänge
- im allgemeinen
ausgerichtet auf eine mündliche Darbietungsweise (der Erzähler ist
Rhapsode), die u.U. bereits in der Schriftform deutlich wird: Organisation in Gesängen,
z.B. durch Dreireim am Abschnittsende in mittelalterlichen Texten
(Der
REA-Artikel von Fromm legt den Schwerpunkt deshalb erkennbar und dabei ganz zu
Recht auf das Mittelalter.)
- überindividuelles,
heroisches Sprechen: Typisierung, hohe Figuren und Gegenstände, keine
Psychologisierung, die seit dem 18. Jahrhundert zum zentralen Kennzeichen
des Romans als Schriftphänomen wird
Roman
- Sammelbegriff
für umfangreiche, selbständig veröffentlichte fiktionale Erzähltexte in Prosa, keine
weitere formale Einschränkung (im Vergleich zum grundsätzlich metrisch
gebundenen Epos)
- Übergänge zur
Erzählung sind fließend, mögliches Differenzkriterium nach dem Kriterien Umfang
und Darstellungsinteresse:
Totalität vs. Ausschnitt
(auch hier sind
Übergänge denkbar
- Die
Entwicklung des deutschsprachigen Romans seit Mitte des 18. Jahrhunderts lässt
zwei maßgebliche Tendenzen erkennen:
1.
Bildungsroman
2.
Gesellschafts-/ Zeitroman
® Romanmodelle als Idealtypen
(zum Begriff
des Idealtypus siehe VL 4 = typologische Unterscheidung nach einer bestimmten
Merkmalsmatrix, die kein Text tatsächlich erfüllt, die aber Zuordnungen zu
unterscheidbaren Darstellungsmodellen erlaubt)
1.
Bildungsroman (vor allem in Deutschland im 18./19. Jahrhundert):
Wieland: Geschichte
des Agathon (1766/67)
Goethe: Wilhelm
Meisters Lehrjahre (1795/96)
Gustav Freytag:
Soll und Haben (1855)
Keller: Der
grüne Heinrich (1854/55; 1879/80)
Stifter: Der
Nachsommer (1857)
Bildungs- und
Gesellschaftsroman
(Mischformen
der Moderne)
z.B. Thomas
Manns Zauberberg (1924):
Je nach
Interpretationsakzent sind unterschiedliche Klassifikationen möglich:
- z.B. Merkmale
des Bildungsromans:
Hans Castorp
ist innerhalb eines längeren Zeitraums (7 Jahre) unterschiedlichen
Weltauffassungen, Lebensformen und Meinungen ausgesetzt; eine Lebenstotalität
von der Kindheit bis zur jeweiligen Gegenwart des Erzählens wird aber nicht
mehr dargestellt
- z. B.
Merkmale des Gesellschafts- und Zeitromans: Darstellung eines
gesellschaftlichen Querschnitts in der Abgeschlossenheit des Sanatoriums, in
der zeitgeschichtliche Themen verhandelt werden; historisch lokalisierbar auf
die Zeit vor dem 1. Weltkrieg
Novelle
- Unterklasse
der Erzählung
- Herkunft:
zyklisch angelegte Kurzform des Erzählens mit betontem Geschehensmoment nach
dem Vorbild von Boccaccios Decamerone
® Doppelung:
- Rahmenerzählung
von der Gesellschaft, die sich zum Zeitvertreib auf der Flucht vor der Pest
Geschichten erzählt
- Binnenerzählung:
erzählte Geschichten
Diese Doppelung
wird im 19. Jahrhundert innerhalb einer Novelle in der Rahmen- und
Binnenstruktur durch Erzählungen von weiteren oder gleichen Erzählern
realisiert (z.B. Storm: Pole Poppenspäler, potenzierte Rahmentechnik:
Dreifachrahmen in Der Schimmelreiter)
Wh. VL 3:
Zusammenfassung und Ausblick
lyrische
Texte narrative Texte
(Prosa)
Ballade
korrespondiert Novelle
(geschlossen, dramenähnlich, unerhörtes Ereignis, Konfliktstruktur)
Erzählgedicht korrespondiert Erzählung
(strukturoffener, prosaisch)
Kennzeichen
der Novelle
- stofflich und
thematisch offen, aber empirisch mögliche Sachverhalte (im Unterschied zum
Wunderbaren im Märchen)
- oft zentriert
auf einen Konflikt: konflikthafte Zuspitzung, oft mit überraschender
Wendung zur Lösung des Konflikts
® Geschlossenheit (nach
Aristoteles: Anfang-Mitte-Schluss ähnlich dem Drama der geschlossenen Form)
gegenüber der strukturoffeneren Erzählung (expositionslos, offener Schluss;
gemeinsames Merkmal: Ausschnitthaftigkeit)
- gedrängter
Ereigniszusammenhang (Aufmerksamkeit auf Geschehensfolge im Unterschied zur
simultanen Breite / Totalität im Roman)
- Besonderheit
= Nicht-Alltäglichkeit des Ereignisses in einem real, d.h. empirisch möglichen
Kontext (® Etymologie novus / novellus: neu, kleine Neuigkeit)
Pole Poppenspäler
als Novelle
- Rahmentechnik
(s.o.)
- zentraler
Konflikt: Künstler- vs. Bürgertum (Außenseiter vs. Integrierte); vermittelt im
Handwerk, gelöst mit der Integration des Außenseiters (die
Puppenspieler-Tochter Lisei) in die bürgerliche Gesellschaft; erzählt am
Hochzeitstag, am zentralen Ort der Familie: auf einer Bank an der Linde (gibt
Halt) mit offenem Blick in verschiedene Himmelsrichtungen (Ost, West) und auf
verschiedene Perspektiven (Kirche = Religion, Felder = ‚freie Luft‘ der
Naturlandschaft)
-
Geschlossenheit durch Kasperl als ‚Falke‘: „kleine Kunstfigur“ (= Symbol der
Poesie des Herzens), die beide Teile (die idyllische Kindergeschichte im
Sommer, die desillusionierende Erwachsenengeschichte im Winter) verbindet; auch
sein Tod durch die Prosa der Verhältnisse im Grab Tendlers hält die jederzeit
mögliche ‚Auferstehung‘ (durch die Stimme des Erzählers) präsent
Lit.: Stefan
Scherer: Pole Poppenspäler. Romantische Poesie der Kindheit in
realistischer Prosa der Erwachsenwelt. In: Interpretationen: Novellen von
Theodor Storm, hrsg. v. Christoph Deupmann, Stuttgart 2008, S. 48-67.
Novellendefinitionen
des 19. Jahrhunderts (in dieser Zeit besondere
Wertschätzung des Genres):
- Goethe (im:
Gespräch mit Eckermann, 25.1.1827) bestimmt die Novelle thematisch:
Darstellung „einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit“
- Tieck bestimmt
die Novelle strukturell: Wendepunkt (der Ereignisgang nimmt eine
einschneidende Wendung)
- Heyses Bestimmung
ist sowohl strukturell als auch motivisch: durch den Falken als
Leitmotiv (aus Boccaccios Decamerone, 5. Tag, 9. Geschichte:
‚Falkennovelle‘) = wiederkehrende stoffliche/motivische Einheit (dinglich,
konkret), die den Ereigniszusammenhang organisiert und damit das
Darstellungsinteresse verdeutlicht.
Kunstmärchen:
Märchen: wunderbare Begebenheiten / Motive (Bedingungen der Wirklichkeit sind
hier aufgehoben) werden wie selbst-verständlich genommen (kein Anstoß an der
Nichtachtung des Realitätsprinzips)
® Das Wunderbare als tertium
comparationis von Märchen, Sage, Legende ist hier der Gegenbegriff zum
Alltäglichen bzw. Gewöhnlichen (= real Möglichem nach dem je historischen
Auffassung von Wirklichkeit)
Märchen –
Sage – Legende
- Märchen:
wunderbare Begebenheit
(seit 1800:
Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen)
- Legende:
wunderbare Begebenheit im religiösen Bereich (Heiligenvita)
- Sage:
wunderbare Begebenheit mit zeitlicher und lokaler Anbindung; berichtet von
außergewöhnlichen, im Kern als wahr geglaubten Ereignissen; Unterschied zum
Märchen: Wahrheitsanspruch; zur Legende: profanes Personal
Volksmärchen
- mündlich
überliefert
- Variationen
durch Überlieferung (durch Weitererzählen)
- Verfasser,
Entstehungszeit, -ort und -zweck unbekannt
Kunstmärchen
- schriftlich
fixiert (und damit festgelegt, also nicht durch Überlieferung variiert) durch
namentlich bekannten Autor als Verfasser
- Prosatext als
literarisches Kunstwerk: ästhetische Formprinzipien, komplex erzählt
(Artifizialität / Poetizität)
Beispiel Ludwig
Tieck: Der blonde Eckbert (1796)
Essay
Prosaform, in
der ein Autor seine reflektierte Erfahrung in freiem, verständlichen Stil
mitteilt.
Feuilleton
-
publizistisch-literarische Textsorte mit Anspruch auf unterhaltsame und
stilistisch ausgefeilte Behandlung eines (auch ernsthaften) Themas
- gebunden an
die Zeitung: ‚Unter dem Strich’ (vgl. Frankfurter Zeitung in den 1920er
Jahren)
- kleine
Prosaform neben Skizze, Essay, Aphorismus, Kurzgeschichte, Anekdote, Glosse:
hybride Mischung in vielfältigen Spielarten / Varianten ohne bestimmte
Gattungsmerkmale
- stilistische
Kennzeichen: Prägnanz, Sprachwitz, Anschaulichkeit, Leichtigkeit und Ironie
® Prosa-Miniaturen als Schulen
des Sehens und Betrachtens; subjektive, persönliche, meinungsfreudige Form; am
vermeintlich Beiläufigen, Kleinen, Unscheinbaren wird aus aktuellem Anlass
etwas Allgemeines aufgezeigt: etwas Zeit-Typisches oder gar das Profil der
eigenen Zeit abgelesen
Lit.: Ulrich
Püschel: Feuilleton (2). In: REA I, 584-587.