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Zusammenfassung
Deutsch

Karlsruher Institut für Technologie

2010

Dominique Z. ©

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ID# 11501







Vorlesung – Literarische Gattungen                   Zusammenfassung

 

VL 1

 

1.  Begriff Gattung : Beschreibungskategorie zur wissenschaftlichen                                                                      (d.h. systematischen) Ordnung und Klassifikation literarischer Texte

® Begriff für Textgruppenbildungen

(nach unterschiedlichen Kriterien und auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit im literaturhistorischen Prozess)

 

 

2.  Gattungsbegriffe sind folglich:

 

- Klassenbegriffe, die über eine begrenzte Menge von unterscheidbaren bzw. gemeinsamen Merkmalen gebildet sind, d.h. sie sind wissenschaftliche Konstruktionen

 

® Es gibt Gattungen nicht als solche. Gattungen sind vielmehr das Ergebnis einer systematischen Klassifikation durch Unterscheidung von Merkmalen literarischer Texte

 

àGattungen sind Ensembles sprachlicher Merkmale, die einer Gruppe von Texten gemeinsam sind und diese eine Gruppe zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt von anderen Gruppen unterscheiden.

- Gesamtheit der Texte wird überschaubar gemacht und diese zu ordnen:

- auch Literaturgeschichten ordnen das Material meist nach Gattungen

 

3.  Was sind Lit. Gattungen?

 

Textgruppenbildung nach gemeinsamen Merkmalen

 

Roman, Kriminalroman, Fabel, Galanter Roman, Legende, Komisches Epos, Briefroman, Novelle

® epische Texte / Epik

 

Lyrisches Drama, Komödie, Libretto

® dramatische Texte / Drama

 

Verssatire, Sonett, Elegisches Distichon

® lyrische Texte / Lyrik

 

 

 3.1 Unterscheidungskriterien der Textgruppe Epik:

 

Roman: Großform in Prosa (d.h. ungebunden im Unterschied zum Epos)

Kriminalroman: stoffliche Spezifizierung (z.B. Detektivroman)

Fabel / Legende: kurze Form der Prosa, moralischer Impuls; Unterschiede: nicht-menschliche Akteure / wunderbare Begebenheit

Galanter Roman: epochale Romanform in Abgrenzung zum höfisch-historischen und aufklärerischen Roman (um 1700)

Komisches Epos: scherzhaft-parodistischen Erzählens im 18. Jhd., gebunden, komische Wirkung

Briefroman: Formbegriff des 18. Jh.: Roman in Briefen

Novelle: kürzere Prosaform (aber länger als Kurzgeschichte)

 

à Das gemeinsame Merkmal der Textgruppe Epik

( = Vermitteltheit) spezifiziert sich folglich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten:

 

- stoffliche

- thematische (z.B. wunderbar / alltäglich, aktuell / historisch )

- formale, strukturelle, organisationslogische

- nach Wirkungsabsichten (komisch, moralisch, rührend usw.)

- nach der epochalen Zugehörigkeit

  …und weiteren Gesichtspunkten bei anderen Beispielen!

 

®     Dies deutet die Schwierigkeiten an, eine strenge und v.a. überzeitliche Gattungssystematik aufzustellen

(gerade wegen des historischen Wandels der Formen und der historischen Entstehung neuer Genres)

 

 

4.  Verwendungsweisen des Gattungs-Begriffs in der Literaturwissenschaft:

 

- Gattungstrias Epik, Lyrik, Drama

- Grundformen der Stoffgestaltung: lyrisch, episch, dramatisch

- einzelne literarische Formen (z.B. Roman, Novelle, Ballade, Märchen usw.)

- in untergeordneter Bedeutung: als spezifische Varianten der genannten Formen (z.B. Bildungsroman, Kriminalroman, Kunstmärchen / Volksmärchen usw.)

 

4.1 Gründe für diese Uneinheitlichkeit der Beschreibungen:

 

1. historische Diskussionen seit Platon / Aristoteles über Goethe bis zum Strukturalismus und zur Dekonstruktion im 20. Jahrhundert: Bestehende Systematisierungen werden durch neue historische / methodische Perspektiven in Frage gestellt.

® Der historische Wandel oder neue Kontexte erzwingen andere / neue funktionale Beschreibungen:

- Unterscheidung der Gattungen etwa bei Opitz 1624 / im Klassizismus;

- programmatische Gattungsmischung in der Romantik (in Abgrenzung zur Klassik),

 

2. literarische Texte sind wegen ihres Eigensinns, ihrer spezifischen Individualität und aufgrund der unterschiedlichen historischen Umstände, in denen sie entstehen, nicht strikt systematisierbar

So entstehen im Lauf der Literaturgeschichte zu bestimmten Zeitpunkten (in bestimmten Epochen) neue historische Varianten:

 

z.B. Erlebnislyrik seit 1770 (Goethe)

z.B. der Roman seit Cervantes (um 1600)

z.B. das Prosagedicht seit Baudelaire (1869)

z.B. das Geschichtsdrama (Goethes Götz von Berlichingen, 1773)

 

 

 

 

 

 

 

 

4.2 Beschreibungskategorien

 

drei elementare Redekriterien:

Gattungstrias, die Unterscheidung nach den 3 Hauptgattungen Epik, Lyrik, Drama

 

Prominente Stationen dieser Diskussion und Entwicklung:

- Platon

- Aristoteles

- Goethe

- Emil Staiger

 

Aristoteles:

 

 

3 Ansätze zur Bestimmung und Differenzierung von Gattungen:

 

1.         nach den Mitteln der Darstellung (Vers, Rhythmus; z.B. Hexameter für das Epos)

 

2.         nach den Gegenständen der Darstellung (hohe, gleichstehende, niedrige Personen)

 

3.         nach den Modalitäten der Darstellung (‚Redekriterien‘):

            (1) durch die Rede der dargestellten Personen

            (2) durch die Rede des Dichters in eigener Person.

 

Goethe

 

Die Gattungstrias etabliert sich in der Gattungsdiskussion erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts.

Kanonisch wird sie im 19. Jahrhundert im Gefolge von Goethes Unterscheidung von „Dichtarten“ und „Naturformen der Poesie“

 

 „Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.

 

 

Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, München 1971

 

Das Lyrische, Epische, Dramatische sind hier  

anthropologisch (in der Erinnerung, Vorstellung und Spannung) fundierte „Grundbegriffe“

anthropologisch bedeutet: In diesen Formen artikulieren sich Grundbefindlichkeiten des Menschlichen:

 

„[...] daß die Gattungen sich auf etwas beziehen, das nicht nur zur Literatur gehört. [...] Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt, und Lyrik, Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen, des Bildlichen und des Logischen das Wesen des Menschen konstituieren“ (148)

 

 

 

 

 

 4.3  Systematik Literarische Gattungen

 

1. Gattungen: Epik, Lyrik, Drama

 

2. Genres = Untergattungen: Unterklassen (1), historische Spezifikationen (2):

(1) Lyrik: Elegie, Sonett usw.; Epik: Novelle, Roman usw.; Drama: Komödie, Tragödie usw.

(2) Epik: Bildungsroman; Drama: Bürgerliches Trauerspiel, Lyrisches Drama; Lyrik / Prosa: Prosagedicht

 

3. konkreter Text: z.B. Schiller: Don Carlos. Ein dramatisches Gedicht

 

 

5.    Konstitutive Merkmale der Hauptgattungen

 

Drama: Unmittelbarkeit

Epik: Mittelbarkeit                                                    

.Lyrik: Unmittelbarkeit

 

5.1 Unterschiede zwischen Lyrik und Drama

 

Drama:

- Figuren sprechen und handeln in einer bestimmten Situation (dialogisch, monologisch);

- literarischer Text, der neben einer Lektüre für die Inszenierung auf dem Theater gedacht ist

- Kombination zweier Textsorten: fiktive direkte Rede (Haupttext); andere Textpassagen, welche diese Rede arrangieren, situieren, kommentieren (Nebentext)

 

Lyrik:

Das lyrische Ich spricht (sich aus) in Verstexten und in Einzelrede

 

5.2  Zuordnungen / Abgrenzungen bei (historischen / strukturellen) Mischformen:

 

- Lyrisches Drama: gehört zum Drama

- Epos: gehört (obwohl metrisch gebunden) zur Epik (vermittelt)

- Ballade (gemischt aus lyrischen, dramatische, epischen Elementen): gehört zur Lyrik

- Prosagedicht: schwierige Zuordnung (einerseits: unmittelbar, absolut, Einzelrede ® Lyrik

   andererseits: keine Zeilenrede, d.h. auch keine Versrede ® Prosa

(Prosa wiederum als Gegenbegriff zur Poesie seit dem 19. Jh., begründet durch die Opposition gebundene vs. ungebundene Rede)

 

5.3 Kriterien der Erkennbarkeit / Zuordnung:

 

(1) explizite Hinweise: Paratexte = Untertitel

Roman, dramatisches Gedicht usw.

(solche Untertitel können aber auch irreführend bzw. ironisch eingesetzt sein, z.B. in Tiecks Welttheater-Spielkomödie Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen)

 

(2) implizite Merkmale:

- Redeformen (z.B. Leseranreden im Roman)

- Bauelemente (z.B. Haupt- und Nebentext im Drama)

- Typographie (z.B. Zeilenrede vs. Prosa im Gedicht)

- Organisationslogik (z.B. Novelle vs. Erzählung)

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Was ist Lyrik?

 

systematisch I: Gedichte sind nicht immer, d.h. nicht notwendig ‚lyrisch‘ (insofern man darunter bestimmte poetische Eigenschaften versteht wie z.B. metrische Bindung, ästhetische Formprinzipien, Sangbarkeit, Musikalität u.a.)

Grund:

Diese Merkmale sind auch je unterschiedlich verteilt in anderen Gattungen (Drama, Epik) vorzufinden.

 

  1. Minimaldefinition der Lyrik:

 

- „Einzelrede in Versen“

 

- Gedicht = „Text in Versen“

 

® Lyrik = alle ‚Gedichte‘ als Texte in Versrede mit nicht dramatischem oder epischem Charakter

 

  1. Funktionen I

 

-          seit 1770: primäre Gattung zum Ausdruck von Empfindungen, Gefühlen, Erlebnissen gegenüber den anders gelagerten Darstellungsqualitäten von Epik (Objektivität) und Drama (Verbindung von Subjektivität und Objektivität). 

 

® Erlebnislyrik: seit der Romantik (nach 1800): Gattung zum Ausdruck von ‚Stimmungen‘

 

® Stimmungslyrik (als historische Spezifikation der Erlebnislyrik durch Musikalisierung der Sprache)

 

  1. Funktionen II

 

Das dominierende Lyrikverständnis seit dem 19. Jahrhundert formuliert Hegel:

 

  • Lyrik ist die Gattung der Subjektivität
  •  

    Kernbereich der Lyrik ist dieser Auffassung zufolge das Lied.

     

     

    Wodurch entsteht der Verscharakter?

    à traditionell: Metrum, Reim- und Strophenbindung

    à moderne Lyrik weist diese Merkmale nicht notwendig auf

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Vers = Zeile: Gibt es einzeilige Verse?

     

    Beispiel:

    „Seinen tiefsten Schmerz halte jeder geheim.“ (Canetti)

     

    ®     kein Vers, sondern ein Prosasatz

    (ein Aphorismus als Form der Kurzprosa)

     

    ®     Verscharakter und damit Versrhythmus entsteht nur in Verbindung mit einer zweiten Zeile

     

     Es gibt also nie einen isolierten Vers, sondern immer nur mindestens zwei Verse zusammen: Dies ist damit auch die Minimalgröße einer Strophe

     

    1. Was ist Lyrik?

     

    Merkmale:

    - relative Kürze, konziser sprachlicher Ausdruck

    - Musikalität / Sangbarkeit (Form und Klang ist deshalb oft wichtiger als der Inhalt)

    - Abweichung von der Alltagssprache (durch Formbindung:  Metrik, Reim, Vershaftigkeit / -rhythmus kraft Zeilenrede und weitere klangliche Merkmale)

    ® Effekte der spezifischen Verdichtung der Rede:

    Lyrik ist verdichtete = überstrukturierte Texte durch ästhetische Formprinzipien:

                - z.B. durch Klangähnlichkeiten: Wiederholungsstrukturen

                - z.B. durch interne Verweisungen: Kohärenzstiftung durch Isotopie-Ebenen Darstellung geht vom lyrischen Ich aus: monologische, unvermittelte, strukturell einfache Redesituation

    ® spezifische Nähe von Autor und lyrischem Ich

    - absolut (kein konkreter Raum, keine konkrete Zeit / Wirklichkeit)

     

    4.1 Typologie

     

    - Erlebnislyrik

    - Gedankenlyrik

    - deskriptive Lyrik (beschreibt Gegenstände, Sachverhalte der äußeren Welt

    - artistische Lyrik( Spiel mit der Sprache )

     

     

     

    4.2 Grundlage der Lyrikanalyse

     

    à Suche nach Regelmäßigkeiten in Strophen / Metrik / Reim

    = Formen der Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Elemente

     

    1. Formale Bestimmung: Metrum, Strophenform, Gedichtform, Reimschema; historischer Ort dieses Formbezugs

     

    2. Zusammenhang Form und Funktion = Interpretation der Form und ihrer Semantik im Blick auf die Tradition und die ästhetische Wirkung aus der Anwendung und spezifischen Veränderung dieser Form

     

    4.3 Metrum

     

    1. Versfuß = kleinste metrische Einheit (Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst)
    2. Versmaß = die metrische Organisationsform des Verses (also der Verszeile)

     

     

    4.4 Versmaße I

     

    Alexandriner: jambischer Sechsheber mit Mittelzäsur (Barock)

    Blankvers: jambischer Fünfheber, ungereimt

    Madrigalvers: frei: drei-, vier- oder fünfhebig; erkennbare Metren,gereimt

    Knittel: vierhebig, allein maßgebendes Kriterium: Paarreim

    Freier Rhythmus: wechselndes, also kein eindeutig erkennbares Metrum, ungereimt; formaler Antiken-Bezug erkennbar (z.B. im Bezug auf antike Oden-Formen); hoher, pathetischer Stil

    Freier Vers: kein Metrum erkennbar

    Hexameter: 6 Hebungen, vorwiegend Daktylen (kein regelmäßiger Wechsel); gebraucht im Epos, ungereimt, i.d.R weibliche Kadenz; Erkennungsmerkmal: 5. Hebung ist stets daktylisch (also: Hebung / Doppelsenkung: v v)

    Pentameter: 6 Hebungen, zwei Hexameterhälften: Die dritte und die vierte Hebung folgen unmittelbar aufeinander (Zäsur durch Sprechpause: Diärese)

     

    4.5  Strophenformen I

     

    Elegisches Distichon = 1 Hexameter und 1 Pentameter

     

    Schiller: Das Distichon

    v   -  v  - v    -     v      -      v     -  v v   -   v

    Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,

        Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

        v    -  v  - v     - / -    v   v - v      v -

    Reimschemata

     

    Paarreim aabb

    Kreuzreim abab

    umarmender Reim abba

    verschränkter Reim abcabc

    Schweifreim aabccb

    Kettenreim/Terzinenreim aba bcb cdc...

    unreiner Reim: z.B. schleichen / Schweigen (Schiller)

     

    Gedichtsformen:

    Strophen- / Gedichtformen (= Anordnung der Verse zu Blöcken durch bestimmte Wiederholungsstrukturen)

    Sonett: italienisch: bestehend aus zwei Quartetten und zwei Terzetten (strengste = geschlossenste Gedichtform)

    Stanze: acht Verszeilen, endecasillabisch (= 11 Silben, im dt. fünfhebiger Jambus), Reimschema: abababcc (aabccbdd)

    Terzine: dreizeilige Strophen, verbunden durch Kettenreim (aba bcb cdc...), endecasillabisch

    Volkslied: zwei bis acht drei- oder vierhebige Verse mit freier Füllung, gereimt

    Hymne: Kultgesang, hohe Sprache, keine feste Metrik / keine festen Strophen (freirhythmisch)

     

     

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    Gedichtsformen:

     

    Romanische Strophen- / Gedichtformen

     

    1. Strophenform Romanze (span. Herkunft, vierhebige Trochäen, vier Verse, oft nur assonierend in der Endstellung statt Reimbindung)

     

      -     v  -   v   -   v   -     

    Mondbeglänzte Zaubernacht,

    Die den Sinn gefangen hält,

    Wundervolle Märchenwelt,

    Steig’ auf in der alten Pracht!

     

    (Ludwig Tieck: aus dem Prolog des Lustspiels Kaiser Octavianus [1804]. In: Gedichte der Romantik, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1984, S. 163f.)

     

    Assonanz = klangliche Übereinstimmung der Vokale zweier Wörter mindestens ab ihrer letzten betonten Silbe; Funktion: Verknüpfung durch vokalischen Gleichklang

     

    2. Romanische Gedichtformen im Überblick

     

    Triolett

    Rondel

    Rondeau

    Glosse

    Sestine

    Kanzone

    Madrigal: weitgehende Freiheiten (verschiedene Hebungszahlen), meist alternierend, gereimt ohne festes Reimschema, nicht strophisch (im Unterschied zum Volkslied)

     

     

     

     

     

    Ballade:

    Gedicht-, meist liedförmige Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit

     

    (1)       fiktional (schließt damit historisch verbürgte Ereignisse nicht aus)

     

    (2)       geringer Umfang (geraffte Darstellung eines gedrängten Ereigniszusammenhangs)

     

    (3)       in Versen (meist strophisch)

     

    (4)               konflikthaftes Ereignis (tragische, komische Auflösung)

     

     

     

     

     

    Geschichte der Ballade

     

    - seit Ende 18. Jahrhundert relevant: Begründung der dt. Kunstballade durch Gottfried August Bürger: Leonore (1773)

    - ‚Balladenjahr‘ (1797): Der Zauberlehrling, Die Kraniche des Ibykus u.a.: Goethe und Schiller verpflichten das Genre nach Stoff, Gehalt und Form auf die Grundsätze der Klassik von Weimar: In der Ballade sind die „Elemente“ der Dichtung (das Lyrische, Epische und Dramatische) „noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen“

    - Ende dieser Dominanz im letzten Drittel des 19. Jh.

     

    Dominanz der Ballade im 19. Jahrhundert:

    Gründe / Voraussetzungen

     

    - Erzählen ist die Problemlösung des Realismus für die Konstituierung von ‚Realität‘ und für die Semiotisierung dieser Realität, weil man damit den literarischen Eindruck einer unmittelbaren Abbildung von ‚Realität‘ erzeugen kann

    ® ‚Realitätseffekt‘ (Roland Barthes)

    à Ballade bietet als ‚Erzählgedicht‘ eine lyrikspezifische (und damit lyrikinterne) Antwort auf diese Entwicklung

     

    Welcher Gattung gehört die Ballade an?

    Verbindung von lyrischen, epischen, dramatischen Elementen

    Beispiel: Fontane: John Maynard (1886)

     

    Erzählgedicht

     

    - Gedicht von balladenhafter Prägung, aber ohne die um 1850 noch dominierenden heroischen Züge; verstärktes Vorkommen seit dem Spätrealismus

    - Das Epische tritt in den Vordergrund (jetzt im Sinne der narrativen Entfaltung statt einer gedrängten Ereignisfolge): u.a. durch lapidar-alltägliches, prosanahes lyrisches Sprechen

    - angesiedelt an der Grenze zur literarischen Moderne (Blankverse bei Storm vs. Freie Verse in Liliencrons Ich war so glücklich)

    - Komplementär dazu tritt die strophische Gliederung zurück (statt Strophen: eher Erzählabschnitte)

     

     

     

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    Drama

     

    à Konstitutives Merkmal Unmittelbarkeit

     

    Konstitutive Merkmale gegenüber Lyrik:

    - Figuren sprechen und handeln in konkreten Situationen (dialogisch / monologisch)

    - literarischer Text, der neben einer Lektüre für die Inszenierung auf dem Theater gedacht ist

    ® Kombination zweier Textsorten: fiktive direkte Rede (Haupttext) mit anderen Textpassagen, welche diese Rede arrangieren, situieren, kommentieren (Nebentext)

     

     

    Was ist ein Drama?

    Drama (Begriffsgeschichte)

    griech. dráma = Ableitung des Verbs drán: Hände betätigen, körperlich agieren

    - allgemeiner: tun, handeln (Aristoteles);

    - im künstlerischen Bereich ‚mimetisch darstellen‘

    (Mimesis = imitatio = Nachahmung und zugleich die ästhetische Darstellung dieser Nachahmung)

     

    Bestimmungen des Dramas in der Antike

     

    Platon:

     

    Nachahmung (mimesis) von ‚Wechselreden‘:

    Hier besteht alles „ganz in Darstellung“ (im Unterschied zum „Bericht des Dichters selbst“ in der Lyrik) 

     

    Aristoteles:

     

    - ‚Redekriterium‘: Die dargestellten Personen reden

    - Unterscheidung Komödie vs. Tragödie:

    „Die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“

     

    ® tragende Elemente des Dramas allgemein: Handlung, Dialog bzw. (wenn man Monologe einbezieht) Figurenrede und als zentraler Aspekt von (5) sinnliche Darbietung sowie das von Aristoteles nicht eigens erwähnt Rollenspiel

     

    ® Drama = Handlungs-sprech-schau-spiel

     

    Definition von Drama im Reallexikon

     

    àKurzdefinition:

    „Poetischer Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht“

     

     „Drama bezeichnet eine Gattung von Texten, in denen zwei Textsorten miteinander kombiniert sind, und zwar sowohl fiktive direkte Rede (Haupttext) als auch Textpassagen (als Minimum: ein Symbol für den Sprecherwechsel), welche diese Rede(n) in nichtnarrativer Weise arrangieren, situieren, kommentieren (® Nebentext).“

     

    Bauelemente des Dramas:

     

    à Haupttext / Nebentext

     

    Haupttext: Äußerung einer Figur im Drama

     

    - direkte Rede ( Figurenrede)

    - situativ gebunden (im Ggs. zum philosophischen Dialog)

    - geprägt von der Perspektive der sprechenden Figur

    - polyfunktional: gebunden an den dramatischen und theatralischen Kontext

    - betrifft innere und äußere Kommunikation: ist auf den fiktionalen und den nichtfiktionalen Adressaten

    (Zuschauer) gerichtet

    (® doppelte Kommunikation)

     

    Nebentext: alle Textelemente außerhalb der Figurenrede

     

    - Paratexte: Titel, Untertitel (Genre-Angaben), evtl. Widmung und Motto; Verzeichnis der dramatis personae, Ort- / Zeitangaben, evtl. Vorrede und Nachwort des Autors

    (zu unterscheiden von Prolog / Epilog bzw. Vorspiel / Nachspiel als szenische Bestandteile des Dramas selbst)

    - Texte im laufenden Dramentext: Akt, Szene, Angaben zu Auftritt / Abgang der Figuren, zu den Figuren selbst

    - Gesamtheit der Szenen- bzw. Regieanweisungen

    (theater-/kontextbezogen: Requisiten, Bühnenbild, Kostüme, Masken; schauspielerbezogen: Aktion, Gestik, Mimik)

    = Bemerkungen vor, in, zwischen oder nach den direkten Reden im Drama

     

    Formen und Funktionen des Nebentexts I

    (1) bloße Regieanweisung:

    Informationen über Requisiten, Bühnenbild, Kostüm, Maske, Aussehen, Aktionen, Redeweise, Gestik und Mimik der Figuren

    ® stellen Anschaulichkeit bereits in der Lektüre her

     

    (2) episierender Nebentext:

    In teils sehr langen Nebentexten (z.B. im Naturalismus bei Hauptmanns Die Weber) macht sich der Dramatiker kommentierend und damit bereits interpretierend geltend:

    ® Er wird dadurch gleichsam zum Erzähler von wichtigen Aspekten des Dramas.

     

     

     

    Epik vs. Drama

     

                            Erzählerrede

     

    Epik

     

                            Figurenrede                 szenische Darbietung

     

                                                   Drama

     

     

    Formen und Funktionen der Figurenrede:

     

    Dialog:

    Wechselrede: Unterredung, Gespräch, Konversation innerhalb des „zwischenmenschlichen Bezuges“ (Szondi, 14)

    ® wechselseitige Verständigungshandlung in der spezifischen Figurenkonstellation

     

    Sonderform in der Antike (die dann im klassizistischen Drama, im Drama der Klassik und des 19. Jahrhunderts als Formzitat wiederkehrt):

    Stichomythie = zeilenweise Wechselrede: Rede- und Gegenrede jeweils in einem Vers (Effekt: Dynamisierung im Verhältnis zu den Erregungszuständen der Figuren)

     

     

     

    Monolog:

     

    Rede einer Figur, die allein ist oder alleine spricht: nicht an das Publikum oder an andere Dramenfiguren gerichtet, für das Publikum aber hörbar

    ® Selbstan- / -aussprache

    ® Beispiel für die dramenspezifische doppelte Kommunikation: Der Monolog ist als Selbstgespräch in der fiktiven Handlung angesiedelt, dem Publikum aber zugänglich

    ® genutzt zur Darstellung psychischer Verfaßtheiten und individueller Besonderheiten einer Figur

    (z.B. die Monologe Odoardos in Lessings Emilia Galotti)

     

    Zentrale Opposition für die Beurteilung der formalen Verfaßtheit einer Figurenrede (als Dialog / Monolog) 

     

    metrisch gebundene vs. ungebundene Rede: Prosa

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Formen und Funktionen der Figurenrede – Beispiele

     

     

    Lessing: Emilia Galotti (1772)

     

    - größtenteils dialogisch = „Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges“ „Die im Drama gesprochenen Worte sind allesamt Entschlüsse, sie werden aus der Situation heraus gesprochen“ (Szondi, 15);

    - zahlreiche Monologe (aber kein einziger Monolog Emilias!): Prinz I/3 (ohne Nebentext), I/5, I/7; Odoardo V/2, V/4 (beide ohne NT), V/6 (mit NT: „Blickt wild umher“, „Pause“ / „Pause“), Claudia II/5 (ohne NT)

    ® I und V: rahmenbildende Anlage nach den zentralen Konfliktfiguren Prinz-Vater (Alternationsstruktur: ungerade, gerade Auftritte); affektiv gestaute und rhythmisierte Rede (vgl. die Verfahrensähnlichkeiten zum Inneren Monolog, Sprache ist hier Spiegel der inneren Verfaßtheit, teils unkontrolliert: Partikel, Interjektionen, Satzabbrüche, Versprecher, Gedankensprünge: Gedankenstriche ® assoziativ, emotional)

    - Prosa – homogen: keine figurenspezifisch soziale Differenzierung

    ® mittlerer Stil: mittlere Figuren von „gleichem Schrot und Korne“ (Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück)

    ® Identifikation des Zuschauers statt Bewunderung wie in der heroischen Bewunderungstragödie (in Alexandrinern)

     

    Zu beachten ist bei dieser typologischen Unterscheidung zudem:

     

    Merkmale des Dramas der ‚geschlossenen Form‘:

     

    - Die dramatische Handlung repräsentiert das harmonisch geordnete Ganze (die Ordnung der Welt, das Allgemeine);

    sie stellt damit einen „Ausschnitt als Ganzes“ dar (Klotz)

    - Begründet wird dieser Idealtypus durch die aristotelische Tradition (genauer durch die Poetik des Aristoteles)

     

    Grundlegende Merkmale:

    1. Einhaltung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung (Dreieinheiten), d.h. es sollen keine Ortswechsel stattfinden, die Zeit der Handlung soll nicht mehr als 24 Stunden betragen, und die einsträngige Handlung soll Anfang, Mitte und Schluß aufweisen: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ (Poetik, Kap. 7, S. 25)

     

    2. Einhaltung einer bestimmten Stillage (aptum), die Figuren (soziale Stellung), Handlung und Rede aufeinander zuordnet (® genera dicendi); in Hinsicht auf die Tragödie: hohes Personal (Fürsten), Gegenstand von allgemeinem Interesse (u.a. in staatspolitischer Hinsicht; die Stoffe werden aus dem Bereich der Mythologie oder Historie genommen), stilus sublimis (Alexandriner / Blankvers); die Stillagen-Forderung gilt auch für Komödie.

     

    à Das Drama der offenen Form (das die aristotelischen Einheiten und die daraus abgeleiteten Regeln nicht mehr einhält) ist historisch (mit Shakespeare) entstanden und prägt die deutsche Dramengeschichte erst seit etwa 1770, also seit dem Sturm und Drang (mit weiteren Stationen etwa bei Büchner und Grabbe um 1830).

     

     

    Merkmale des Dramas der ‚offenen Form‘

     

    -          Der Idealtyp ‚Drama der offenen Form’ bestimmt sich in Abgrenzung zum geschlossenen Drama in der aristotelischen Tradition:

     

    ® Dramen, deren Bauprinzip dem klassizistischen Ordnungssystem nach Aristoteles nicht mehr entspricht.

     

    - Literarhistorisch ist hier der Einfluss der Dramen Shakespeares wichtig geworden (genauer die Shakespeare-Rezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts).

     

    - Die Normen der aristotelischen Dramentradition müssen nicht eingehalten werden; teilweise Übernahmen sind aber durchaus denkbar und üblich.

     

     

    ® Das Drama der offenen Form definiert sich nicht ausschließlich über die theatralische Umsetzung (im Gegensatz zur geschlossenen Form).

     

    Vorherrschende Gliederungsprinzipien :

    Geschlossene Form:

     

    ® Betonung des Akts

     

     

    Offene Form:

     

    ® Autonomie der Szene

     

    Akt

     

    à Hauptabschnitt des Dramas

    Dialog- bzw. Handlungssequenz, die von den benachbarten Sequenzen durch einen Ortswechsel oder einen Zeitsprung getrennt werden: Im Drama der geschlossenen Form markieren Akte unterscheidbare Phasen der Handlung

     

    Szene

     

    à Handlungsabschnitt mit gleichbleibendem Schauplatz oder Personal

    ® Szene = Auftritt

    Mischformen = Auftritte einer neuen Person innerhalb der Szene sind möglich (Horaz empfiehlt höchstens 3 Personen für eine Szene; Verknüpfung der Szenen durch eine auf der Bühne bleibende Person seit Corneille)

    ® Die Szene ist dem Akt untergeordnet

    ® Form der Binnengliederung eines Akts

     

    Die Anzahl und Logik der Szenenordnung ist für die Interpretation eines Dramas relevant

     

     

     

     

     

     

     

     

    Drei oder Fünfaktig

                                         Höhepunkt / Peripetie

                                                      (tragisches Moment)

     
                    Epitasis / steigende Handlung          fallende Handlung

     

              (erregendes Moment)                   (Moment der letzten Spannung)                                           

               

     Exposition                                          Katastrophe / Lösung des Konflikts

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    VL 5

     

    Kömödie

     

    Zweiteilung in ernstes und komisches Genre:

     

    - Tragödie / Trauerspiel 

    - Komödie / Lustspiel

     

    Unterschieden wird nach der Lösung des Konflikts:

     

    Tod oder Hochzeit  oder ganz allgemein: die positive oder negative Lösung

     

    Mischformen ergeben sich:

     

    (1) aus der nicht eindeutigen Schlußgestaltung

    (2) aus dem Fehlen entweder komischer oder tragischer

    Elemente:

     

    (1) Tragikomödie: Bewußte Verbindung / hybride Mischung komischer und tragischer Elemente nach dem Vorbild Shakespeare (z.B. Hamlet: Tragödie des Königssohns gegenüber komischen Szenen, z.B. Totengräberszene)

    ® Aufhebung der durch die Regelpoetik nach Aristoteles definierten Gattungsgrenzen

     

    (2) „Schauspiel“ (z.B. Goethe: Iphigenie, Torquato Tasso)

     

    àKömodie: Drama, das über größere Partien eine oder mehrere Zentralfiguren als komisch    präsentiert. ® Das Komische ist notwendiger Bestandteil der Komödie.

     

    Was ist komisch?

     

     Komik der Herabsetzung

    ® Verlachen als intellektuelles Phänomen (aus der Distanz):

    stellt eine Figur in ihrer erwarteten Vollkommenheit, eine Norm in ihrer behauptetet Gültigkeit in Frage

     

    (2) Komik der Heraufsetzung (bzw. Aufhebung):

     

    ® Lachen (über etwas) als Bejahung von Unterdrücktem und Verdrängtem, als Anerkennung des Lustprinzips

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Das Verhältnis des Tragischen und Komischen zu den Gattungen

     

     

    Das Tragische ist notwendiger Bestandteil der Tragödie.

     

    Das Tragische ist möglicher Bestandteil der Komödie.

     

    Das Komische ist möglicher Bestandteil der Tragödie.

     

    Das Komische ist notwendiger Bestandteil der Komödie.

     

    Was begründet die Komödie?

     

  • Die Tragödie ist bestimmt durch die Aufhebung des tragischen Konflikts in der Katastrophe. Die Handlung ist final begründet, daher in sich gegliedert und geschlossen
  •                    ® Funktionalität der Elemente für die Einheit der Handlung.

     

  • Die Komödie dagegen führt den Kontrast zwischen Norm (Erwartbarem) und Abweichung vor. Sie ist  folgenlos (keine Katastrophe). U.a. deshalb ist die Komödie offener organisiert (= episodisch), zumal kaum eine ganze Handlung durchweg komisch ist (und es auch nicht sein kann).
  •  

    Übliche Verfahren der Komödie:

     

    (1) Konflikte = Verwirrung durch

    - Identitäts- / Rollenwechsel (Verkleidungen, Maskierungen, Kleider- / Rollen- / Geschlechtertausch)

    - durch Intrigen und Gegenintrigen

    - Schlagfertigkeit, Wortwitz, Situationskomik, Beiseitesprechen

     

    Intrige (frz. intrigue von lt. intricare = verwickeln, verwirren):

    Bezeichnung für ein die Handlung begründendes Komplott, für einen Plan, eine List oder Täuschung

     

    (2) Auflösung aller Verwirrung im guten Ende; komödientypisches Ende: Hochzeit(en)

     

    Grundelemente der Komödie:

     

    - Komik

    - guter Ausgang (oft Hochzeit)

    - Spiel(charakter), Spielbewußtsein, Heiterkeit / Fröhlichkeit

    - niedere Personen (gilt jedoch nur unter den Bedingungen der Regelpoetik, also bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts)

    - episodischer Charakter (gegenüber der Tragödie)

     

     

     

     

     

     

     

    Doppelstruktur der Komödie:

     

    Punktuelle komische Elemente überlagern eine i.d.R. nicht rein komische Handlung: Es gibt ja jeweils durchaus ernste Gründe für die komödientypische Verwirrung: Eine rein komische Handlung wäre reine Blödelei; ihr Gegenpol, d.h. das Vorherrschen ernster Elemente, führt zur sog. ‚ernsten Komödie‘ oder zur Tragikomödie bis zu einem Grenzwert, an dem man dann von Tragödie sprechen müsste

     

    Historische Varianten (= typologisch unterscheidbare Ausprägungen der deutschsprachigen Komödie im 18. und 19. Jahrhundert)

     

    (1) Satirische Verlachkomödie

    (Lessing: Der junge Gelehrte ® sog. Sächsische Typenkomödie)

    (2) Rührendes Lustspiel

    (Gellert: Die zärtlichen Schwestern, dieses auch als zweite wichtige Traditionslinie für das Bürgerliche Trauerspiel; dazu genauer VL Plan 26. November)

    (3) Ernste Komödie / Tragikomödie

    in der szenischen Verbindung komischer und tragischer Elemente und als Synthese von (1), (2) und Bürgerlichem Trauerspiel (Lessing: Minna von Barnhelm; siehe dazu VL Plan 3. Dezember)

    (4) Spiel im Spiel / parabatische Komödie

    (Tieck: Der gestiefelte Kater, mit literatursatirischen Impulsen gegen Politik und den zeitgenössischen Literaturbetrieb)

    (5) Intrigen- / Spielkomödie

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    VL 6

     

    Tragödie / Bürgerliches Trauerspiel

     

    Zentrale Formel: unlösbare(r) Konflikt(situation)

    ® Der Held geht auf eben demjenigen Weg unter, den er einschlägt, um den Untergang zu vermeiden (Paradigma: Sophokles‘ König Ödipus).

     

    Das Tragische entsteht in einer Figur, aus deren Perspektive die Katastrophe die notwendige Konsequenz der von ihr als ausweglos wahrgenommenen Situation darstellt.

    Weil das Tragische nicht durch objektive, sondern durch subjektive Ausweglosigkeit bestimmt ist, kann es punktuelles Moment sein. In der Tragödie bezieht es sich i.d.R. auf den gesamten Text.

    Auslösendes Moment des Tragischen ist die Einsicht der Figur in die Ausweglosigkeit des Konflikts, d.h. der unaufhebbaren Differenz von Besonderem (Figur) und Allgemeinem (das, was aus der Figurenperspektive diese Ausweglosigkeit bewirkt).

     

    ® Das Tragische ist damit unabhängig von der Rezipienten-perspektive (was eine Wahrnehmung des Tragischen von dieser Seite natürlich nicht ausschließt), auf jeden Fall aber  keine notwendig wirkungsästhetische Kategorie;

     

     

    Konsequenzen im Detail

     

    Figurenrede: homogen, pathetisch (hohes Sprechen hoher Figuren)

     

    ® Einhaltung der Ständeklausel

    (d.h. Rang der Figuren legt Handlungs- und Sprechweise fest). Die Ständeklausel bestimmt auch die Fallhöhe der Figuren: Ihr Untergang ist umso eindrücklicher, je höher die Figur gestellt ist bzw. je höher sie sich über andere erhebt.

     

    ® stilus sublimis (siehe zu den genera dicendi VL 4): jambischer Trimeter (griechische Tragödie: 6 Jamben mit freier Zäsur), Alexandriner (Barock, frühes 18. Jh.), Blankvers (seit Shakespeare im Drama der Weimarer Klassik, erstmals in Wielands Lady Johanna Gray 1758)

     

    Unterscheidungsversuche in der Moderne

     

    Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928)

    - ‚Tragödie‘ für das griechische Modell (Macht und Gewalt des Mythos)

    - ‚Trauerspiel‘ für die theatrale Repräsentation eines historischen Unglücks im christlichen Zeitalter

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Typologisch unterscheidbare historische Varianten vom 17. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert

     

    - Trauerspiel des Barock

    - Heroische Bewunderungstragödie der Frühaufklärung

    - Bürgerliches Trauerspiel (Beispiel Emilia Galotti)

    - Hohe Tragödie in Blankversen um 1800 (im Rekurs auf die griechische Tragödie) (Beispiel Familie Schroffenstein)

    Vertreter: Schiller, Kleist, Grillparzer, Hebbel

    Goethe dagegen schreibt in der Phase der Weimarer Klassik strictu sensu keine Tragödien, sondern ‚Schauspiele‘; die zu     diskutierende Ausnahme wäre Faust: ist aber kein geschlossenes             Drama, sondern in Faust I (1808) eine reine Szenenfolge,       gekennzeichnet bereits durch metrische Vielfalt, die im fünfaktigen        Faust II (1832 posthum) noch zum Universaldrama gesteigert wird

     

     

    Bürgerliches Trauerspiel der Aufklärung

     

    Merkmale:

    - Anpassung der Ständeklausel:

       keine Fürsten bzw. hohe Personenn, sondern erfundene Figuren aus der Sphäre des Bürgertums bzw. niederen Adels: ‚mittlere Figuren‘ von ‘„gleichem Schrot und Korne“, z.B. Kaufleute, Gelehrte, niederer Adel

    - keine historischen, keine mythologischen Stoffe

     

    - Figurenrede in Prosa (statt Alexandriner):

    - natürliche Sprache des Herzens

                ® keine sprachliche Distanz, sondern Identifikation

     

     

    VL 7

     

    Tragikomödie

     

    à Verbindung von Komischem und Tragischem im Drama

     

    ® spezifische Kombination von Strukturmerkmalen, Funktionen und Wirkungen von Tragödie und Komödie

     

    Die Kombination tragischer und komischer Elemente bezieht sich auf:

     

    - Struktur und Handlungsführung: ernste Handlung mit glücklichem Ausgang (keine Katastrophe / kein Tod)

     

    - Figurenwahl: gemischt oder in Verkehrung der Ständeklausel (hohe Figuren werden als komisch präsentiert, niedere als ernst; beide Bereiche kommen zusammen)

     

    - Stilmischung / -verkehrung (pathetisch-komisch / einfach-ernst)

    z.B. Shakespeares Troilus und Cressida (1609): hohe Personen des trojanischen Kriegs (Achill, Odysseus) artikulieren in Blankversen ihre niedere Gesinnung und menschlichen Schwächen (Feigheit: Sie wollen nicht kämpfen, sind lieber faul und vergnügen sich sexuell: Achill mit Patroklos usw.)

     

    Zentraler Mechanismus

     

    Überblendung einer Grundstruktur mit szenischen Mitteln der Gegengattung (zum Zweck der Kontrastierung)

    also:      Entweder Grundstruktur der Tragödie mit Formen des Komischen

    oder:     Grundstruktur der Komödie mit tragischen Elementen

     

    ® Abkehr von den aristotelischen Vorgaben

    ® historisch entstanden (Shakespeare)

     

    ® Die Tragikomödie ist historisch, strukturell und funktional ein Übergangsphänomen

     

    Beispiele (neben Lenz, Lessing, s.u.):

     

    - Molière: Le Tartuffe ou l’Imposteur. Comédie en cinq actes (1669)

    - Schiller: Turandot, Prinzessin von China. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi (1802)

    - Kleist: Amphitryon, ein Lustspiel nach Molière (1807)

    - Hebbel. Trauerspiel in Sizilien (1847/51)

    - Hauptmann: Der rote Hahn. Tragikomödie (1901)

    - Wedekind: Der Marquis von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen (1900)

    - Schnitzler: Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten (1911)

    - Kaiser: Kanzlist Krehler. Tragikomödie in drei Akten (1922)

    - Beckett: Fin de partie (1957)

    - Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie (1956)

    - Thomas Bernhard: Der Theatermacher (1985)

     

    Tragikomödie bei Lenz: Die Soldaten

     

    àElemente der Tragödie:

    - ernste Themen / sozialpolitisch relevante Fragen, Darstellung sozialer Mißstände (im Soldatenstand, im Umgang mit Juden, väterliche Gewalt u.a.)

    - szenische Reflexion zeitgenössischer Diskurse: Sexualität (männliche Definitionen der Frau als Hure, I/4, V/III); Erziehung (Vater vs. Gräfin La Roche: Pamela ® ‚gefährliche‘ = verderbliche Lektüren der Empfindsamkeit, vgl. III/10);  „Komödie“ (Diskurs über zeitgenössische Theaterverhältnisse, I/4)

    - unlösbare Konfliktlage bei Mariane

     

    àElemente der Komödie:

    - Selbstreflexion der Komödie im Stück (I/4)

    - karikaturistische Züge (groteske Übertreibungen, sprechende Namen)

    - Komik der Normverletzung (z.B. im Anspruch des Galanteriewarenhändlers Wesener, Zitternadeln nur an höhere Damen zu verkaufen)

     

    ® Gesellschaftsdramatik mit komischen Elementen

    ® Mischung komischer und tragischer Elemente

     

    Lessing: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück (1767)

     

    Ernste Komödie / Tragikomödie

    in der szenischen Verbindung komischer und tragischer Elemente und als Synthese aus Satirischer Verlachkomödie, Rührendem Lustspiel und Bürgerlichem Trauerspiel

     

     

    Dramatischer Dichter als zweiter Geschichtsschreiber

     

    - Dramatisierung historischer Stoffe  

    - wahrheitsgetreue Darstellung eines historischen Ereignisses: so, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold Ranke)

     

    „[...] der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe wie möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst

    (Büchner, Brief an die Familie, 28. Juli 1835),

     

    ® Realismus in der Darstellung

    ® realistisches Drama ( = keine Idealisierung wie noch in der Klassik)

     

    „Wenn man mir im übrigens noch sagen wollte, der Dichter müssen die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter [Schiller!] anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu und Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller“

    (Büchner, Brief an die Familie, 28. Juli 1835)

     

    ® Figuren werden so präsentiert, daß man sie sich als real existent vorstellen kann

    Drama als Schule der Wirklichkeit durch Ausbildung eines realistischen Sinns; die als Voraussetzung für politisches Handeln:

    - Verwirklichung einer sozialen Revolution oder

    - der nationalen Aufgabe (in den ‚vaterländischen Schauspielen)

     

    Grund für die Abkehr vom idealistischen Drama der Weimarer Klassik:

    - ‚Ende der Kunstperiode(Heine): Vormärz / Biedermeier Frührealismus (Faktoren: Industrialisierung: Verelendung der Massen, Restauration u.a.; z.B. die Rolle neuer Massenmedien (Zeitung) und neuer Techniken, so etwa der Telegraph in Grabbes Napoleon-Drama (RUB, 55, 64f.)

    ® Einsatz realistischer Darstellungstechniken bei Büchner auch nach dem Vorbild Lenz (vgl. dessen Novelle Lenz)

     

     

     

    Darstellungsformen des realistischen Dramas

     

    - Vermehrung und Differenzierung des Personals

    ® Auflösung hierarchischer und symmetrischer Figurenkonstellationen: Darstellung einer unübersichtlichen, komplexen Realität

    - keine eindeutigen Konfliktstrukturen mehr: Figur ist determiniert durch vielfältige Einwirkungen des Sozialen und Gesellschaftlichen; die Einzelfigur verliert als Handlungsträger an Bedeutung, weil sie selbst nicht mehr handlungs-, d.h. entscheidungsmächtig ist, sondern vielmehr dem „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ ausgeliefert (Büchner, Brief an die Braut, 9.-12. März 1834)

     

    - offenes Drama in der Traditionslinie von Lenz; bei Büchner und Grabbe noch extrem gesteigert (isolierte Einzelszenen,  parataktisches Nebeneinander, komplexes Panorama  gesellschaftlicher Verhältnisse)

     

     

    Schauspiel

     

    Um 1800 verweist das Wort ‚Schaubühne‘ nach der im 18. Jh. vorwiegend noch synonymen Verwendung mit ‚Drama‘ und ‚Schauspiel‘ (vgl. VL 4) v.a. auf den

     

    - theaterpraktischen Aspekt, also die Umsetzung des dramatischen Texts auf der Bühne

     

    gegenüber dem nun

     

    - als Dichtkunst / Kunstwerk (nach Maßgabe der Autonomie-Ästhetik) aufgefaßten ‚Drama‘

     

    (Johann Georg Sulzer: Drama. Dramatische Dichtkunst. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1792 [11793], S. 705; in der UB vorhanden)

     

     

     

     

    Schauspiel vs. Tragödie

     

    - Tragödien schreibt in der Weimarer Klassik im Grunde genommen nur Schiller (und in dessen Gefolge dann Kleist, der allerdings nicht der Klassik angehört; vgl. Familie Schroffenstein: neben Antikenbezug Wirkung Shakespeares) 

    - Schauspiele dagegen nennt Goethe selbst zwei seiner klassischen Dramen:

    - Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel

    - Torquato Tasso. Ein Schauspiel

     

    Merkmale ‚Schauspiel‘ um 1800:

    - ernste Stücke mit gutem, also soweit versöhnlichem, aber darin durchaus gebrochenem Ausgang

    - keine Komödien (keine komischen Elemente vorhanden): Von daher ist die Verbindung von erstem Thema und gutem Ausgang auch nicht als Tragikomödie zu rubrizieren.

     

     

    à Goethes Torquato Tasso und Iphigenie auf Tauris als ‚Schauspiele‘ der Weimarer Klassik

     

     

    4.6.3 Weitere Dramenformen im Überblick

    Libretto

    Oper

    Operette

    Musical

    Singspiel

    Oratorium

    Schwank

    Sketch

    ......

     

    (1) Analytisches Drama

    Ein zeitlich vorausliegendes, aber noch wirksames Ereignis bzw. Geschehen wird enthüllt

    = Aufdeckung der Vorgeschichte: Enthüllungsdrama;

    z.B. Sophokles: König Ödipus

     

    (2) Synthetisches Drama

    Der durch die Handlung entfaltete Konflikt wird entschieden: Entscheidungsdrama; z.B. Lessing: Emilia Galotti

     

    (3) Stationendrama

    Keine durchgehende Handlung, kein zentraler Konflikt, sondern szenische Reihung einzelner Stationen: Diese zeigt eine Mittelpunktsfigur in einer Sinnkrise auf der Suche

    ® zyklische Abfolge der Stationen seiner Wanderung

    ® bevorzugte Dramenform des Expressionismus (seit Strindberg)

     

     

     

    Drama der Moderne: ‚Episierung’ des Dramas‘

    (nach Pfister, S. 103-122)

     

    - Aufhebung der Finalität

    durch „Selbständigkeit seiner Teile“ (Schiller im Brief an Goethe 21. April 1797. In: Briefwechsel Schiller - Goethe; hrsg. v. Emil Staiger, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977 [11966], S. 375).

     

    - Aufhebung der Konzentration

    Breite, Detailfülle, ‚Totalität‘ (gleich dem Roman): panoramatische Raum- und Zeitstruktur, umfangreich, hohen Figurenzahl Personal u.a

     

    - Aufhebung der Absolutheit

    Vermittelnde Elemente werden erkennbar.

    zum Begriff Absolutheit: „Das Drama ist absolut. Um reiner Bezug, das heißt: dramatisch sein zu können, muß es von allem ihm Äußerlichen abgelöst sein. Es kennt nichts außer sich.“ (Szondi, S. 15)

     

     

     

     

    VL 8

     

    Narrative Texte (fiktionale Erzähltexte)

     

    Die Beobachtungen zum Drama in den letzten VL waren geleitet von bestimmten formalen und thematischen   Unterscheidungen:

     

    - offenes vs. geschlossenes Drama

    - Komödie Tragödie Tragikomödie

    (= Gattungsdifferenzierungen nach Dominanz und Verteilung komischer und tragischer Elemente)

     

    Diese Kriterien spielen bei der systematischen Klassifizierung narrativer = erzählender Texte keine Rolle ® Zur strukturellen Offenheit und damit ausgeprägten Flexibilität narrativer Texte gegenüber dem Drama

     

    Schiller/Goethe: Über epische und dramatische Dichtung (1797)

     

    Der Epiker trägt

    - „Begebenheit als vollkommen vergangen“ vor (521) [Tempus Präteritum]

    - stellt „den außer sich wirkenden Menschen“ dar: „Schlachten Reisen, jede Art von Unternehmung die eine gewisse sinnliche Breite fordert“ (522) [Totalität]

    - „übersieht“„in ruhiger Besonnenheit das Geschehene“; „sein Vortrag wird dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse egal verteilen, weil er nicht im Stande ist, einen allzulebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft.“ (523)

     

    (Briefwechsel Schiller - Goethe; hrsg. v. Emil Staiger, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977 [11966], S.521-524)

     

    Diese spezifische Unbestimmtheit und strukturelle Offenheit hängt entscheidend mit dem zentralen Merkmal narrativer Texte zusammen: ihrer Vermitteltheit durch einen Erzähler

     

     

    Prosa vs. Poesie

     

    - im allgemeinen Sinn: metrisch nicht gebundene, stilistisch variable Mitteilungsform von Texten

    ® Gegenbegriff zur metrisch gebundenen Rede (‚Poesie‘); gilt insofern für alle Textsorten

    - im engeren Sinn für Erzählprosa: „Poesie des Herzens“ vs. „Prosa der Verhältnisse“ im Roman, der „modernen bürgerlichen Epopöe“ (Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil: Die Poesie, hrsg. v. Rüdiger Bubner, Stuttgart 1971, S. 177)

     

    - Sammelbezeichnung für unterschiedliche kürzere erzählende, beschreibende, argumentierende, reflektierende   Texte mit literarischem Anspruch

    - v.a. in der Moderne wird ‚Prosa‘ zur generellen Bezeichnung von kleineren narrativen Texten unterhalb der Großgattung Roman gebraucht, daneben für beschreibende und philosophisch reflektierende Kurztexte

     

     

    Grundlagen der Erzähltheorie

     

    3 Hauptgattungen: Drama Epik / Erzählung Lyrik

    àKennzeichen epischer Texte: Mittelbarkeit

     

    ® Der Erzähler wie präsent auch immer er ist fungiert als vermittelnde Instanz zwischen Erzähltem / Erzählen und Leser.

     

    ® Das Dargestellte wie die Darstellung selbst wird dadurch grundsätzlich perspektivisch vermittelt: Erzählen präsentiert also die Welt aus der bestimmten (und damit bedingten = an Bedingungen geknüpften = spezifisch eingeschränkten) Perspektive einer Vermittlungsinstanz.

     

    Erzählung (1) vs. Erzählung (2)

     

    (1): Oberbegriff für die Textsorten-Klasse ‚narrativ vermittelte Texte‘ (löst zunehmend den traditionellen Oberbegriff ‚Epik‘ in der Gattungstrias nach Goethe ab; siehe dazu VL 1)

     

    (2): narrative Texte kürzeren bis mittleren Umfangs

     

    Was heißt Erzählen?

     

    Mindestens 2 Ereignisse werden sprachlich verknüpft:

    - Ein einzeln berichtetes Ereignis (‚Es regnete‘) ist noch keine Erzählung (weil: nur ein Ereignis)

    - Zwei Ereignisse, die nicht miteinander verknüpft sind (‚Es regnete. Der Krakatau brach im Jahre 1883 aus‘), sind auch noch keine Erzählung (es sei denn, der ganze Erzählkontext macht eine Verknüpfung plausibel).

     

    ® Die Erzählung ist die sprachlich-mentale Verknüpfung von Ereignissen (Bode 2005, 11), die jemand als etwas Besonderes mitteilt (Scheffel/Martinez 1999, 9)

    ® Sie ‚macht Sinn‘, denn die Ereignisse sind erzählenswert, weil sie etwas Besonderes, z.B. Erfahrungen eines Menschen mitteilen (etwa Odysseus‘ Irrfahrt nach dem trojanischen Krieg und seine Heimkehr nach Ithaka in Homers Odyssee; vgl. Bode 2005, 2f.)

     

    Erzählen – Fiktionalität

     

    Man kann von realen oder fiktionalen (d.h. erfundenen) Ereignissen erzählen:

     

    ® faktuales vs. fiktionales Erzählen

     

    Vorwurf seit Platon: Dichter lügen, weil sie etwas erfinden, das nicht notwendig möglich / wahrscheinlich und schon gar nicht wahr sein muß. Diesem Einwand kann man mit der spezifischen Logik fiktionalen Erzählens begegnen:

     

    Zunächst stellt sich dazu die Frage, worauf Erzählen allgemein abzielt: auf das Vergegenwärtigen von Ereignissen „in einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden“

     

     

    VL 9

     

    Epos

     

    - epische=narrative Großform in Versen (metrisch gebunden: Zeilenrede = stichisch)

    - Die stichische (seltener strophische) Organisation unterscheidet das Epos von allen anderen erzählenden Formen.

    - Totalität in der Darstellung größerer zeitlicher, biographischer und weltlicher Zusammenhänge

    - im allgemeinen ausgerichtet auf eine mündliche Darbietungsweise (der Erzähler ist Rhapsode), die u.U. bereits in der Schriftform deutlich wird: Organisation in Gesängen, z.B. durch Dreireim am Abschnittsende in mittelalterlichen Texten

    (Der REA-Artikel von Fromm legt den Schwerpunkt deshalb erkennbar und dabei ganz zu Recht auf das Mittelalter.)

    - überindividuelles, heroisches Sprechen: Typisierung, hohe Figuren und Gegenstände, keine Psychologisierung, die seit dem 18. Jahrhundert zum zentralen Kennzeichen des Romans als Schriftphänomen wird

     

     

     

     

    Roman

     

    - Sammelbegriff für umfangreiche, selbständig veröffentlichte fiktionale Erzähltexte in Prosa, keine weitere formale Einschränkung (im Vergleich zum grundsätzlich metrisch gebundenen Epos)

     

    - Übergänge zur Erzählung sind fließend, mögliches Differenzkriterium nach dem Kriterien Umfang und Darstellungsinteresse:

     

    Totalität vs. Ausschnitt

     

    (auch hier sind Übergänge denkbar

    - Die Entwicklung des deutschsprachigen Romans seit Mitte des 18. Jahrhunderts lässt zwei maßgebliche Tendenzen erkennen:

     

    1. Bildungsroman

    2. Gesellschafts-/ Zeitroman

     

    ® Romanmodelle als Idealtypen

    (zum Begriff des Idealtypus siehe VL 4 = typologische Unterscheidung nach einer bestimmten Merkmalsmatrix, die kein Text tatsächlich erfüllt, die aber Zuordnungen zu unterscheidbaren Darstellungsmodellen erlaubt)

     

     

    1. Bildungsroman (vor allem in Deutschland im 18./19. Jahrhundert):

    Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67)

    Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

    Gustav Freytag: Soll und Haben (1855)

    Keller: Der grüne Heinrich (1854/55; 1879/80)

    Stifter: Der Nachsommer (1857)

     

     

    Bildungs- und Gesellschaftsroman

    (Mischformen der Moderne)

     

    z.B. Thomas Manns Zauberberg (1924):

    Je nach Interpretationsakzent sind unterschiedliche Klassifikationen möglich:

     

    - z.B. Merkmale des Bildungsromans:

    Hans Castorp ist innerhalb eines längeren Zeitraums (7 Jahre) unterschiedlichen Weltauffassungen, Lebensformen und Meinungen ausgesetzt; eine Lebenstotalität von der Kindheit bis zur jeweiligen Gegenwart des Erzählens wird aber nicht mehr dargestellt

    - z. B. Merkmale des Gesellschafts- und Zeitromans: Darstellung eines gesellschaftlichen Querschnitts in der Abgeschlossenheit des Sanatoriums, in der zeitgeschichtliche Themen verhandelt werden; historisch lokalisierbar auf die Zeit vor dem 1.  Weltkrieg

     

    Novelle

     

    - Unterklasse der Erzählung

    - Herkunft: zyklisch angelegte Kurzform des Erzählens mit betontem Geschehensmoment nach dem Vorbild von Boccaccios Decamerone

     

    ® Doppelung:

    - Rahmenerzählung von der Gesellschaft, die sich zum Zeitvertreib auf der Flucht vor der Pest Geschichten erzählt

    - Binnenerzählung: erzählte Geschichten

     

    Diese Doppelung wird im 19. Jahrhundert innerhalb einer Novelle in der Rahmen- und Binnenstruktur durch Erzählungen von weiteren oder gleichen Erzählern realisiert (z.B. Storm: Pole Poppenspäler, potenzierte Rahmentechnik: Dreifachrahmen in Der Schimmelreiter)

     

     

     

    Wh. VL 3: Zusammenfassung und Ausblick

     

     

    lyrische Texte                             narrative Texte (Prosa)

     

                Ballade               korrespondiert             Novelle

           (geschlossen, dramenähnlich, unerhörtes Ereignis, Konfliktstruktur)

     

           Erzählgedicht      korrespondiert            Erzählung

                                  (strukturoffener, prosaisch)

     

    Kennzeichen der Novelle

    - stofflich und thematisch offen, aber empirisch mögliche Sachverhalte (im Unterschied zum Wunderbaren im Märchen)

    - oft zentriert auf einen Konflikt: konflikthafte Zuspitzung, oft mit überraschender Wendung zur Lösung des Konflikts

    ® Geschlossenheit (nach Aristoteles: Anfang-Mitte-Schluss ähnlich dem Drama der geschlossenen Form) gegenüber der strukturoffeneren Erzählung (expositionslos, offener Schluss; gemeinsames Merkmal: Ausschnitthaftigkeit)

    - gedrängter Ereigniszusammenhang (Aufmerksamkeit auf Geschehensfolge im Unterschied zur simultanen Breite / Totalität im Roman)

    - Besonderheit = Nicht-Alltäglichkeit des Ereignisses in einem real, d.h. empirisch möglichen Kontext  (® Etymologie novus / novellus: neu, kleine Neuigkeit)

     

    Pole Poppenspäler als Novelle

     

    - Rahmentechnik (s.o.)

    - zentraler Konflikt: Künstler- vs. Bürgertum (Außenseiter vs. Integrierte); vermittelt im Handwerk, gelöst mit der Integration des Außenseiters (die Puppenspieler-Tochter Lisei) in die bürgerliche Gesellschaft; erzählt am Hochzeitstag, am zentralen Ort der Familie: auf einer Bank an der Linde (gibt Halt) mit offenem Blick in verschiedene Himmelsrichtungen (Ost, West) und auf verschiedene Perspektiven (Kirche = Religion, Felder = ‚freie Luft‘ der Naturlandschaft)

    - Geschlossenheit durch Kasperl als ‚Falke‘: „kleine Kunstfigur“ (= Symbol der Poesie des Herzens), die beide Teile (die idyllische Kindergeschichte im Sommer, die desillusionierende Erwachsenengeschichte im Winter) verbindet; auch sein Tod durch die Prosa der Verhältnisse im Grab Tendlers hält die jederzeit mögliche ‚Auferstehung‘ (durch die Stimme des Erzählers) präsent

     

    Lit.: Stefan Scherer: Pole Poppenspäler. Romantische Poesie der Kindheit in realistischer Prosa der Erwachsenwelt. In: Interpretationen: Novellen von Theodor Storm, hrsg. v. Christoph Deupmann, Stuttgart 2008, S. 48-67.

     

    Novellendefinitionen des 19. Jahrhunderts (in dieser Zeit besondere Wertschätzung des Genres):

     

    - Goethe (im: Gespräch mit Eckermann, 25.1.1827) bestimmt die Novelle thematisch: Darstellung „einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit“

     

    - Tieck bestimmt die Novelle strukturell: Wendepunkt (der Ereignisgang nimmt eine einschneidende Wendung)

     

    - Heyses Bestimmung ist sowohl strukturell als auch motivisch: durch den Falken als Leitmotiv (aus Boccaccios Decamerone, 5. Tag, 9. Geschichte: ‚Falkennovelle‘) = wiederkehrende stoffliche/motivische Einheit (dinglich, konkret), die den Ereigniszusammenhang organisiert und damit das Darstellungsinteresse verdeutlicht.

     

     

     

     

     

    Kunstmärchen:

     

    Märchen: wunderbare Begebenheiten / Motive (Bedingungen der Wirklichkeit sind hier aufgehoben) werden wie selbst-verständlich genommen (kein Anstoß an der Nichtachtung des Realitätsprinzips)

    ® Das Wunderbare als tertium comparationis von Märchen, Sage, Legende ist hier der Gegenbegriff zum Alltäglichen bzw. Gewöhnlichen (= real Möglichem nach dem je historischen Auffassung von Wirklichkeit)

     

    Märchen – Sage – Legende

    - Märchen: wunderbare Begebenheit

    (seit 1800: Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen)

    - Legende: wunderbare Begebenheit im religiösen Bereich (Heiligenvita)

    - Sage: wunderbare Begebenheit mit zeitlicher und lokaler Anbindung; berichtet von außergewöhnlichen, im Kern als wahr geglaubten Ereignissen; Unterschied zum Märchen: Wahrheitsanspruch; zur Legende: profanes Personal

     

    Volksmärchen

    - mündlich überliefert

    - Variationen durch Überlieferung (durch Weitererzählen)

    - Verfasser, Entstehungszeit, -ort und -zweck unbekannt

     

    Kunstmärchen

    - schriftlich fixiert (und damit festgelegt, also nicht durch Überlieferung variiert) durch namentlich bekannten Autor als Verfasser

    - Prosatext als literarisches Kunstwerk: ästhetische Formprinzipien, komplex erzählt (Artifizialität / Poetizität)

     

    Beispiel Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert (1796)

     

    Essay

     

    Prosaform, in der ein Autor seine reflektierte Erfahrung in freiem, verständlichen Stil mitteilt.

     

     

    Feuilleton

    - publizistisch-literarische Textsorte mit Anspruch auf unterhaltsame und stilistisch ausgefeilte Behandlung eines (auch ernsthaften) Themas

    - gebunden an die Zeitung: ‚Unter dem Strich’ (vgl. Frankfurter Zeitung in den 1920er Jahren)

    - kleine Prosaform neben Skizze, Essay, Aphorismus, Kurzgeschichte, Anekdote, Glosse: hybride Mischung in  vielfältigen Spielarten / Varianten ohne bestimmte Gattungsmerkmale

    - stilistische Kennzeichen: Prägnanz, Sprachwitz,  Anschaulichkeit, Leichtigkeit und Ironie

    ® Prosa-Miniaturen als Schulen des Sehens und Betrachtens; subjektive, persönliche, meinungsfreudige Form; am vermeintlich Beiläufigen, Kleinen, Unscheinbaren wird aus aktuellem Anlass etwas Allgemeines aufgezeigt: etwas Zeit-Typisches oder gar das Profil der eigenen Zeit abgelesen

    Lit.: Ulrich Püschel: Feuilleton (2). In: REA I, 584-587.

     

     

     

     

     


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