Installiere die Dokumente-Online App

word image
Seminararbeit / Hausarbeit

Verglei­chende Analyse der Stru­wel­liese und des Stru­wel­peter - Wertewelt nach Lüthje

6.336 Wörter / ~27 Seiten sternsternsternsternstern Autorin Anne S. im Okt. 2018
<
>
Download
Dokumenttyp

Seminararbeit
Literaturwissenschaft

Universität, Schule

Friedrich Alexander Universität Erlangen - Nürnberg - FAU

Note, Lehrer, Jahr

1, 2018

Autor / Copyright
Anne S. ©
Metadaten
Preis 5.00
Format: pdf
Größe: 1.08 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 77100







Die Konstruktion einer eindeutigen Wertewelt in der Struwelliese nach Dr. J. Lüthje


Vergleichende Analyse der Struwelliese und des Struwelpeter


Inhalt

1     Die Struwelliese als Mädchenbuch. 2

2     Die Wertewelt der Struwelliese. 3

2.1     Makroanalyse – Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Struwelpeter
 in Peritext und Aufbau
. 3

2.2     Mikroanalyse – Figuren- und Raumkonstellation zwischen
 warnender Moral und phantastischer Wirklichkeitsenthebung
. 7

2.2.1    Figurenkonstellation. 7

2.2.2    Raumsemantik. 16

3      Résumé: Die Struwelliese als Synthese diverser literarischer Einflüsse. 22

4      Primärliteratur der Analyse. 24


1        Die Struwelliese als Mädchenbuch

Das Kinderbuch ist ein uneindeutiger Gattungsbegriff, der sich vor allem durch seine Adressierung an einen kindlichen Rezipienten charakterisiert (vgl. Marquart 2007, S. 92). Der Mangel an eben solchen Kinderbüchern Mitte des 19. Jahrhunderts begründet die Entstehung des Struwelpeters (vgl. Hoffmann 1871). Der Erfolg des Buches, sowie die Zunahme an Kinderliteratur ab diesem Zeitpunkt sind vor dem Hintergrund der Entstehung eines literarischen Massenmarktes im 19. Jahrhundert zu sehen (vgl. Kreidt 1998, S. 40ff).

So folgt aus der Etablierung des Massenmarktes nicht nur eine Ausdifferenzierung bezüglich des Lesealters, sondern auch des Geschlechts. Während in den 1850er Jahren speziell an Mädchen adressierte Bücher nur etwa 7% der Kinder und Jugendliteratur ausmachten, sind im späten 19. Jahrhundert zahlreiche Parallelschriften für Jungen und Mädchen zu finden (vgl. Barth 1998, S. 736).

Ein Beispiel für die Erschließung der Mädchenliteratur sind weibliche Adaptionen des Struwelpeters, wie Die Struwelliese, Die Struwelsuse oder Die Locken-Christel (vgl. Brunken et.al 1998, S. 482). Die Adaptionen beschränken sich dabei nicht auf den Struwelpeter als Vorlage, wie beispielsweise Lies und Lene – Die Schwestern von Max und Moritz belegen. So entwickelt sich das Mädchenbuch als spezielles Kinderbuch, dessen Notwendigkeit in der (umstrittenen) Annahme einer grundlegend unterschiedlichen psychischen Konstitution von Jungen und Mädchen begründet wird (vgl. Marquart 2007, S. 108).

Das Mädchenbuch ist also ein Kinderbuch, dass an Mädchen als Kinder mit einer spezifischen psychischen Konstitution gerichtet ist und „ . sich das Mädchenbuch durch die Darstellung einer geschlossenen, die Akzente eindeutig setzenden Wertewelt aus[zeichnet]“ (ebd.). Während der Struwelpeter, ebenso wie Max und Moritz Gegenstand zahlreicher Sekundärtexte ist (vgl. Eckstaedt 1998, Brunken et.al 1998), finden die Adaptionen für Mädchen bislang wenig Beachtung in der Forschung.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Sie untersucht die Konstruktion einer eindeutigen Wertewelt exemplarisch anhand der Struwelliese im Vergleich zum Struwelpeter. Die Struwelliese ist zu diesem Zweck besonders interessant, da sie als einzige der genannten Adaptionen bis heute aufgelegt wird, womit sich die Frage nach der Aktualität ihrer Inhalte stellt[1].

2         Die Wertewelt der Struwelliese

2.1       Makroanalyse – Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Struwelpeter
in Peritext und Aufbau

Die Struwelliese wurde von Dr. Julius Lüthje verfasst und von Franz Maddalena illustriert. Sie erschien erstmals 1867 und bereits im Jahr 1905 in der 74. Auflage. Wie der 1845 erschienene Struwelpeter ist das Bilderbuch an einen kindlichen Zuhörer adressiert und in einzelne Geschichten gegliedert, die Reime enthalten. Beide Bücher erscheinen heute in einer Sammelausgabe mit Max und Moritz im garant Verlag.

Die Betrachtung der Cover der Struwelliese und des Struwelpeters gibt erste Hinweise auf das Verhältnis der beiden Bücher zueinander. Auf der einen Seite referiert die Struwelliese durch Ähnlichkeit und Adaption auf ihr Vorbild. Auf der anderen Seite grenzt sie sich klar von ihm ab. Anhand des Vergleichs der aktuellen Cover von 2012, der 75. Ausgabe der Struwelliese sowie der 100. Jubiläumsausgabe des Struwelpeters lässt sich darüber hinaus nachvollziehen, dass sich dieses Spannungsfeld in der heutigen Ausgabe zu Gunsten der Ähnlichkeit zum Struwelpeter verschoben hat.

 

Jubiläumsausgabe 1876 Ausgabe von 201274. Auflage 1905Ausgabe 2012

Der Struwelpeter gelangte erst im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte auf das Cover des bis dahin unter Lustige Geschichten und drollige Bilder bekannten Bilderbuches. Die Struwelliese von 1905 greift beide Titel sowie die großformatige bildliche Darstellung einer Kinderfigur auf. Der Struwelpeter der Jubiläumsausgabe wird exponiert auf einem Sockel dargestellt.

Er wird von den beiden Titeln des Buches eingerahmt. Haare und vor allem Fingernägel sind hyperbolisch verlängert, seine Kleider hingegen sauber und ordentlich. Die Struwelliese wird weniger exponiert, ein wenig an die linke Seite verrückt und dynamisch bewegt abgebildet. Die geschwungenen Linien und der Mangel an Symmetrie erinnern an die ästhetischen Vorgaben des Jugendstil und eröffnet somit eine eigenwertige ästhetische Interpretation.

Der Unterschied wird unterstrichen durch eine Abwandlung und Abgrenzung des Motivs. So werden die überlangen Fingernägel ersetzt durch eine umso längere Haarpracht sowie zerrissene, unordentliche Kleidung. Auf diese Weise wird die Struwelliese als Figur präsentiert, die sich durch ihr Geschlecht, sowie anders ausgeprägte Normverstöße vom Struw.....[Volltext lesen]

Download Verglei­chende Analyse der Stru­wel­liese und des Stru­wel­peter - Wertewelt nach Lüthje
• Download Link zum vollständigen und leserlichen Text
• Dies ist eine Tauschbörse für Dokumente
• Laden sie ein Dokument hinauf, und sie erhalten dieses kostenlos
• Alternativ können Sie das Dokument auch kаufen
Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

2.2        Mikroanalyse – Figuren- und Raumkonstellation zwischen warnender Moral und phantastischer Wirklichkeitsenthebung

2.2.1     Figurenkonstellation

Die Struwelliese

Die Darstellung der Cover fortführend, präsentiert sich die Struwelliese zu Beginn des Buches als ambivalente Figur in ihrer Unterschiedlichkeit und Ähnlichkeit zum Struwelpeter. Anders als der Struwelpeter ist die Liese schüchtern und befangen. Dies wird im Text beschreiben und auf Bildebene durch ihren gesenkten Blick visualisiert. Als autodiegetische Ich-Erzählerin bittet sie demütig darum angenommen zu werden.

Auch in ihrem Handeln unterscheidet sie sich klar von dem ihres männlichen Pendants. Explizit betont die Struwelliese darüber hinaus, dass sie ein Weihnachtsgeschenk für Mädchen sei. Eine solche Selbstreferenz ist ebenfalls im Struwelpeter nicht zu finden. Sie wird verstärkt durch eine Mis en abyme auf Bildebene. So trägt die Liese das Buch Struwelliese in einer ästhetisch vereinfachte Version in den Händen.

Die Fiktionalität der Figur offenbart sich hier, nicht wie im Struwelpeter durch starke Überzeichnung, sondern in den Momenten der Selbstreferenz. Diese wirken orientierend für den Rezipienten. Er erfährt, um welche Art von Text und es sich handelt, nämlich um eine Art Struwelpeter-Geschichte, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Charakteristika von Mädchen zugeschnitten ist.

Mädchen die so wird hier vermittelt, einer schüchtern befangenen Identifikationsfigur bedürfen.

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit zum Struwelpeter folgt die Beschreibung der Liese dem Schema des Struwelpeters. In Analogie zu seinen Reimen werden dem Rezipienten in Bild und Text die Defizite der Liese dargestellt. Mit dem Wechsel der Erzählperspektive von einem autodiegetischen zu einem heterodiegetischen Erzähler[2] und einer direkten Leseranrede „Seht einmal“, wird der Rezipient aktiviert und distanziert sich zugleich.

Die Leseranrede kann weiterhin ebenfalls der Funktion die Lehre und moralische Botschaft zu sichern, dienen (vgl. Kreidt S. 40). Liese wird dadurch vom Identifikations- zum Betrachtungsgegenstand, der exemplarisch eine moralische Botschaft vermittelt. Verstärkt wird die Distanz durch einen weiteren Wechsel der Ansprachen vom Leser direkt an die Figur der Liese: „Pfui, Du garst'ge Liesel Du!“.

Deutlich markiert der Erzähler hier, dass die Liese zwar für Mädchen gemacht, nicht jedoch als erstrebenswerte Identifikationsfigur gedacht ist. Sie ist nicht das Objekt neutraler Betrachtung, sondern dient der exemplarischen Demonstration kindlicher Defizite. Sofern das Kind von diesen Betroffen ist, soll es sich mit der Liese identifizieren. Zugleich soll es die Defizite, durch das Anschauungsbeispiel der Liese, prinzipiell als solche verstehen und vermeiden.

Liese ist somit eine ambivalente Figur. Sie erklärt wie Mädchen sind, nämlich wie sie. Zugleich demonstriert sie, wie sie nicht sein sollen, nämlich wie sie. Das Kind soll ein Verständnis entwickeln für die Gefahren der in ihm angelegten Defizite und aus dem abschreckenden Beispiel lernen Handlungsalternativen zu entwickeln. Mit dieser Intention wird die Ambivalenz der Liese-Figur plausibel und nachvollziehbar.

Sie orientiert den Leser in Richtung einer moralisch belehrende Lesweise. Die Öffnung der Lesart, die durch karikaturistische Überzeichnung in der Struwelpeter-Figur angelegt ist, offenbart sich bei der Betrachtung der Liese-Figur nicht. Erst mit das Auftreten weiterer, phantastischer, numinöser Figuren öffnet den Deutungsraum, wie im Folgenden dargelegt wird.

Anthromorphismen

Im Struwelpeter treten vor allem sprechende Tiere als mahnende Interaktionsfiguren auf. Während die Katzen in der Die gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzeug sowie die Fische im Die Geschichte vom Hans-guck-in-die-Luft beobachten, mahnen und kommentieren, kommt dem Hund in Die Geschichte vom bösen Friedrich darüber hinaus eine strafende Funktion zu.

Auch kommt es zum hyperbolischen Rollentausch, indem der Hund am Ende der Geschichte Friedrichs Platz am Tisch einnimmt. In ihrer mahnenden und bestrafenden Funktion können die Tiere als erzieherische Instanzen, bzw. als „Ersatzobjekte“ der Eltern verstanden werden (vgl. Brunken et.al S. 471; Schüttler-Janikulla S. 47ff.). Dies würde eine belehrende Lesart suggerieren. Zugleich verweist die übertriebene Installation des Hundes an Friedrichs Platz auf eine humoristische Interpretation.

Die Integration von tierischen Interaktions- bzw. Strafinstanzen wird in der Struwelliese in der Geschichte Die mutwilligen Liese aufgegriffen. Ebenso, wie der böse Friedrich mahnt der Hund und straft schließlich, jedoch ohne die hyperbolische Installation des Hundes auf dem Platz des Mädchens. Eindeutiger als im Struwelpeter kann der Hund daher als moralisches „Ersatzobjekt“ der abwesenden Elt.....

Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

Die märchenhaften Elemente dienen jedoch nicht der unrealistischen Enthebung des Moral ohne Bezug zur kindlichen Wirklichkeit, sondern machen das Thema im Gegenteil erst für Kinder zugänglich (vgl. Hoffmanns Erklärungen zum Struwwelpeter 1871).

Phantastische und metaphysische Figuren

Neben Anthromorphismen treten Kobolde als phantastische Figuren in der Struwelliese auf. Mit den Kobolden erfolgt ebenfalls eine intertextuelle Referenz jenseits des Struwelpeters auf das Märchenhafte. Beispielsweise besteht ein Bezug auf Andersens Märchen Erlenhügel. Kobolde sind darüber hinaus als Figuren im Volks- bzw. Aberglaube zu verorten (vgl. von Bahder 1897), sie bringen also eine quasi religiöse Dimension in den Kontext des Märchenhaften.

Das wird gesteigert durch das Auftreten von Instanzen aus dem Aberglauben wird gesteigert durch das Auftreten metaphysischer, religiöser Instanzen. Engel werden abgebildet, interagieren aber nicht direkt mit dem Kind. Als Interaktions- und Straffigur fungiert der Knecht Rupprecht. Dieser erscheint als Pendant zur im Struwelpeter auftretenden „Superautorität“ des Nikolaus.

Wie der Nikolaus ist auch der Knecht Rupprecht eine semantisch aufgeladene, in sich ambivalente Figur:

Gut und Böse, Lob und Strafe liegen so dicht beieinander, daß sie sich durchaus in einer Gestalt zugleich personifizieren lassen; in einer Persönlichkeit, deren Omnipotenz sich für Hoffmann als derart attraktiv erweist, daß er sie zur Darstellung dieser „Superautorität“, des Weltgewissens wählt. (Schüttler-Janikulla, S. 86f.)

Knecht Rupprecht verkörpert, wie der Nikolaus den „moralisch-sittlicher Charakter von Religion“ (ebd. S. 82). Von den übrigen phantastischen Gestalten ist er klar abzugrenzen als Figur, die nicht dem Spiel mit der Einbildungskraft dient, sondern einer heiligen Wahrheit zuzuordnen ist. Struwelpeter und Struwelliese folgen in dieser Darstellung einem Trend der Zeit, „der dem Kind das Wunderbare, Unbegreifliche und Heilige der Religion zurückzugeben trachtet“ (Kreidt S. 38).

Der hier sichtbar werdende Einfluss romantischer Elemente führt jedoch nicht zu einer Aufhebung des Belehrungscharakters der Geschichte, sondern verstärkt diesen, indem die vormoderne Logik von Strafe als gottgegebener Naturnotwendigkeit aufgegriffen wird: „Erkenntnis wird zur Erkenntnis eines inneren Zusammenhangs von Sünde und Strafe“ (Nyssen 1989, S.99). Die moralisch belehrende Lesweise wird durch das Auftreten von Knecht Rupprecht religiös vera.....

Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

Der Eingriff einer unvermittelt auftretenden, allwissenden Instanz, wie sie der Schneider darstellt, wird hier in nahezu kafkaesker Weise auf die Ebene einer öffentlichen Einrichtung verlagert. Somit wird eine allgegenwärtige, für die kindliche Protagonistin nicht nachvollziehbare Kontrolle institutionalisiert und gesamtgesellschaftlich verankert. Hier werden eindeutige Elemente einer Warngeschichte sichtbar.

Zugleich deutet das unangemessene Verhältnis von Vergehen (Schläfrigkeit) und strafender Instanz eine Überzeichnung an, welche die Geschichte der realen Vorstellungswelt enthebt (vgl. dazu Brunken et.al im Fall des Daumenlutschers). Vor allem das Wecken der schlafenden Liese mit einem Wasserstrahl durch das geöffnete Fenster suggeriert eine unrealistische Dimension und humoristischen Lesart.

Und doch erfahren Kontrolle und Strafe hier zugleich einen plausiblen Stellenwert in Bezug auf die kindliche Entwicklung. So wird abschließend explizit die moralische Erkenntnis formuliert „nie wieder faul im Bett zu bleiben“, während die Sinnhaftigkeit des Eingriffs in die kindliche Entwicklung beim Daumenlutscher offen bleibt (vgl. Fulda et.al 2010). Auch mit dem Auftreten einer öffentlichen Strafinstanz wird somit deutlich, dass die Struwelliese die Ausgestaltung von Hyperbeln und Offenheit zugunsten einer nachvollziehbaren Transformation und expliziten Moral einschränkt.

Die Eltern

Die Handlungsentwicklung von Vergehen und Strafe basiert im Struwelpeter und der Struwelliese  auf der Abwesenheit der Eltern. Die so entstehende Leerstelle wird vor allem in der Struwelliese durch überzeichnete, phantastische und metaphysischen Instanzen besetzt. Jedoch wird in beiden Büchern mit diesem Muster gebrochen.

Der Struwelpeter weist zwei, die Struwelliese drei Geschichten auf, in denen die Eltern als Interatkionsfiguren auftreten. In Bezug auf die Mutter lassen sich dabei Unterschiede in den Darstellungen der beiden Bücher ausmachen. Die Mutter im Struwelpeter wird als passive, stumme und unwirksam appellierende Figur dargestellt. Im Zappel-Philipp fungiert sie als stumme Akteurin, die passiv die moralischen Appelle des Vaters unterstützt.

Im Daumenlutscher bekommt sie eine Stimme, deren Mahnung jedoch ohne Wirkung bleibt. Sie füllt die Leerstelle, die ihre Abwesenheit in den anderen Geschichten markiert nicht aus. Gleichsam als „Ersatzobjekt“ verweist sie auf eine bürgerliche Norm, deren Bruch auf einer übergeordneten Ebene bestraft wird. Im Gegensatz zu der stummen, bzw. der wirkungslos appellierenden Mutter im Struwelpeter, tritt die Mutterfigur in der Struwelliese aktiv strafend auf.

Sie züchtigt Liese in „Das naschhafte Lieschen“ und „Die schlafmützige Liesel“ körperlich mit der Rute. Die Mutter zeichnet sich nicht länger nur durch passive und appellierende Anwesenheit aus, sondern fordert die Einhaltung ihrer Regeln strafend ein. Jedoch folgt ihrer Züchtigung im Gegensatz zu den durch andere Strafinstanz durchgeführten Strafen keine konkrete moralische Erkennt.....

Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

Er ist jedoch, wie die Mutter eine aktivere Figur als der Vater im Struwelpeter. So leitet er „Die Lügenliese“ zum Überqueren der Brücke an. Wie die Mutter kann der Vater das defizitäre Verhalten des Kindes nicht verhindern, jedoch ist es ihm möglich, rückwirkend moralischen Einfluss darauf zu nehmen. Er trägt somit dazu bei das Verhalten des Kindes nachhaltig zu verändern.

Obwohl er nicht strafend auftritt, verkörpert er somit eine Interaktionsinstanz, die über der Figur der Mutter steht.

Struwelpeter und Struwelliese unterscheiden sich also klar in der Darstellung ihrer Figuren und Handlungsverläufe, die sich im Struwelpeter vor allem durch Überzeichnung charakteristieren. Anders als der Struwelpeter verzichtet die Struwelliese weitestgehend auf das Stilelement der Hyperbel. Sie installiert im Gegenzug konsequent phantastische, nibulöse und metaphysische Strafinstanzen.

Sichtbar wird hier eine Durchmischung von Belehrendem und Erzählendem, welche das Buch klar von Warngeschichten der Aufklärung unterscheiden (Kreidt S. 44). Nichtsdestotrotz dienen auch die phantastischen Figuren der Aufrechterhaltung der Logik von Schuld und Strafe.

2.2.2     Raumsemantik

Der übergeordnete, moralisch aufgeladene narrative Raum

Zu Beginn jeder Geschichte der Struwelliese führt der heterodiegetische Erzähler explizit in die Ordnung des moralischen Raumes ein. Liese bewegt sich als Stellvertreterin der kindlichen Rezipientin in diesem Raum, ohne seine Regeln zu kennen. Somit eröffnet sich ein untergeordneter Raum des kindlichen Unwissens. In diesem Raum handelt die Protagonistin norm-, bzw. moralwidrig und somit defizitär im Kontext des übergeordneten Moralraumes[3].

Lieses Handlungen wirken teilweise negativ in den Moral- bzw. Erwachsenenraum: „Kleine Kinder, wenn sie lügen, Machen Kummer und Verdruss“. Diese Ebene des Schadens anderer als Konsequenz kindlichen Fehlverhaltens ist im Struwelpeter beispielsweise in Die Geschichte vom Zappel-Philipp zu finden. Der einseitigen Überschreitung der Raumgrenzen vom Kind zum Erwachsenen folgt eine negative Konsequenz.

Häufiger tritt jedoch die Grenzüberschreitung in die andere Richtung auf, also aus dem moralischen, erwachsenen in den kindlichen Raum. Sie nimmt dabei ausschließlich die Form von Mahnung und Straf an. Mahnung und Strafe bilden also die zentrale und verbindende Interaktionsform zwischen der Protagonistin und den übrigen Figuren des Buches, bzw. das Verbindungselement zwischen den unt.....

Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

Dass der kindliche Autonomieraum auf dieser Ebene trotz der Macht der Mutter, willkürlich in ihn einzudringen, für sich Bestand hat, wurde unter 2.1 mit der Wirkungslosigkeit der mütterlichen Strafe aufgezeigt. Der erwachsene und der kindliche Raum werden hier nur für den Moment der Strafe füreinander geöffnet, existieren darüber hinaus aber weiterhin als getrennte Räume.

Diese klar getrennte Raumgestaltung verändert sich mit dem Auftreten des Hundes als phantastischer Strafinstanz. Der Hund repräsentiert auf Bildebene von Beginn der Geschichte an eine moralische Präsenz im kindlichen Raum. Zwar könnte er bei der Betrachtung der ersten drei Bilder als realitätsgetreues Tier interpretiert werden, doch wird er spätestens mit der Mahnung: „Du böse Liesel, Lass das sein!“, phantastisch und moralisch aufgeladen.

Diese phantastische Aufladung des kindlichen Raumes wird durch die Vermenschlichung der Puppe, aus deren Bein Blut sickert, unterstrichen. Die Trennung zwischen einem moralischen Erwachsenenraum und einem klar davon getrennten Kinderraum wird hier aufgelöst. Der kindliche Raum wird explizit von einer moralischen Präsenz, hier in Gestalt des Hundes, bewohnt. 

Die räumliche Hierarchie zwischen Kind- und Erwachsenenraum wird hier zu einer innerräumlichen Hierarchie zwischen den Figuren. In diesem Raum handelt das Kind nicht frei, sondern intentional   im Sinne oder entgegen der Moral. Der Akt des Zuwiderhandelns stellt den Versuch dar, einen kindlichen Autonomieraum zu schaffen.

Er wird jedoch sogleich durch den Biss des Hundes unterbunden. Das daraus folgende Leiden der Liese wird auf Bildebene überdeutlich durch einen starken Blutstrom visualisiert. Schmerzhaft wird sie über die Omnipräsenz des moralischen Raumes belehrt. Trotz der Abwesenheit der Eltern - oder gerade durch ihre Abwesenheit und die Installation einer phantastischen Gestalt wird ein Raum der permanenten Kontrolle geschaffen.

In diesem Raum scheint selbst der akausale Zusammenhang von Verhalten, Strafe und Läuterung plausibel. So folgt der Biss des Hundes direkt auf das Schlagen des Mädchens, das als Fehlverhalten nicht thematisiert wird. Die Läuterung, die darauf folgt besteht hingegen darin, dass Liese das Quälen ihrer Puppe unterlässt. Deutlich wird hier, ebenso, wie in der zeitlichen Verzögerung der mütterlichen Strafe die Idee von Strafe der damaligen Zeit.

Sie muss nicht in einem direkten Verhältnis oder Maß zur Tat stehen, sondern markiert die Schuld des Kindes. Unabhängig von ihrer Ausgestaltung ist sie daher im Sinne einer Grundschuldigkeit des Kindes per se angemess.....

Dieser Textabschnitt ist in der Vorschau nicht sichtbar.
Bitte Dokument downloaden.

Swop your Documents