<
>
Download

Seminararbeit
Deutsch

Apian Gymnasium Ingolstadt

21, Herrmann, 2017

Melanie K. ©
8.50

0.39 Mb
sternsternsternsternstern
ID# 63136







Apian Gymnasium Ingolstadt

Abiturjahrgang 2015/2017


Seminararbeit

W-Seminar „Gegenwelten, Parallelwelten, Schreckenswelten – Utopie und Dystopie in Literatur und Film“


Thema:

Vergleich der Außenseiterfiguren in den Verfilmungen der anti-utopischen Jugendromane „Die Bestimmung – Divergent“, „Die Bestimmung – Insurgent“ und „Hüter der Erinnerung“


Verfasser:

Kursleiter: StRin Katharina Herrmann

Abgabetermin: 08.11.2016


Punktzahl für die schriftliche Arbeit: …… … in Worten: …………………… ……

Punktzahl für Präsentation und Prüfungsgespräch: ………… in Worten: …………………………

Gesamtleistung der Seminararbeit: ………… in Worten: …………………………

Anmerkung: Gesamtleistung = (Punktezahl der schriftlichen Arbeit x 3 + Punktezahl für Präsentation) : 2


  1. Die Antiutopie in Verfilmungen der modernen Jugendliteratur

Die Anti-Utopie ist momentan sowohl in der Jugendliteratur, als auch im Genre der Jugendfilme sehr stark vertreten. Sie erlebt eine Hochzeit und wird seit der Veröffentlichung der Panem-Trilogie von Suzanne Collins immer beliebter.1 Gründe für diese Beliebtheit werden im Folgenden genauer ermittelt. Zunächst befasst sich der Hauptteil der Arbeit allerdings, nachdem eine Definition des Begriffes der „Anti-Utopie“ erfolgt ist, mit den Verfilmungen der anti-utopischen Jugendromane Hüter der Erinnerung und Die Bestimmung.

Innerhalb dieser Anti-Utopien werden vor allem die jeweiligen Außenseiterfiguren, die die Protagonisten darstellen, genauer analysiert, indem die verschiedenen Außenseitermerkmale aufgezeigt werden, sowie auf die Bedeutung des Außenseiters für die Anti-Utopie eingegangen wird und die jeweiligen Hauptfiguren in Bezug auf weibliche und männliche Rollenmuster miteinander verglichen werden.

Abschließend wird noch auf die Zukunft der Anti-Utopie eingegangen. Die Begründung für die Auswahl der zuvor genannten Primärwerke liegt zum einen diesem Vergleich von männlichen und weiblichen Aspekten zu Grunde, da es in Die Bestimmung eine weibliche Protagonistin („Tris“) und in Hüter der Erinnerung einen männlichen Protagonisten („Jonas“) gibt. „Tris“ wurde dabei anderen weiblichen Protagonistinnen vorgezogen, da sie durch ihre „Unbestimmtheit“ sofort als Außenseiter auffällt und damit ein Merkmal der Außenseiterfigur, den Ausschluss aus der Gesellschaft, offensichtlich erfüllt.

Ebenso ist es bei „Jonas“, schon ganz am Anfang des Films wird deutlich, dass er als einziger, in einer schwarz-weißen Welt, die Eigenschaft hat, Farben zu sehen, er ist also nicht so gleich, wie jeder andere in der Gesellschaft. Auf die Verfilmungen der Jugendromane wird deshalb zurückgegriffen, da hier die Merkmale der Außenseiter durch filmanalytische Methoden besonders gut deutlich gemacht werden können.

Aufgrund dieser ausführlichen Auseinandersetzung mit den Außenseiterfiguren werden bei Die Bestimmung auch sowohl der erste Teil (Divergent), als auch der zweite Teil (Insurgent) zur Analyse der Außenseiterfigur hinzugezogen. Das Außenvorlassen des dritten Teils hängt damit zusammen, dass das anti-utopische System am Ende des zweiten Teiles zerstört wird, und der dritte Teil so keinen Zusammenhang mehr zur Thematik der Außenseiterfigur in einer Anti-Utopie hat.

Die Festlegung des Schwerpunkts der Arbeit auf die Analyse der Außenseiterfigur ist damit zu begründen, dass diese nicht nur das wichtigste Merkmal, sondern auch der auschlaggebendste Bestandteil der Anti-Utopie ist, da nur durch sie eine Bewertung des anti-utopischen Systems möglich ist und der Roman erst durch das konfliktschaffende Verhalten der Figuren ein spannendes Handlungsgefüge aufweisen kann.2 Das Ziel der Arbeit liegt also darin eine genaue Auseinandersetzung mit dem - wie noch zu zeigen sein wird - wichtigsten Baustein der Anti-Utopie, dem Außenseiter, dessen Rolle im System und seiner Wirkung auf den Rezipienten durchzuführen, sowie die geschlechtlichen Rollenmuster der Außenseiter in Anti-Utopien aufzuzeigen und außerdem die Beliebtheit der Anti-Utopie in Jugendliteratur und –film zu begründen.

  1. Vergleich der Außenseiterfiguren in den Verfilmungen der anti-utopischen Jugendromane „Die Bestimmung – Divergent“, „Die Bestimmung – Insurgent“ und „Hüter der Erinnerung“

    1. Definition des Begriffes Anti-Utopie

Zunächst ist es wichtig, den Begriff der „Anti-Utopie“ zu definieren und zu erklären, um später beweisen zu können, dass es sich bei den ausgewählten Primärwerken wirklich um Anti-Utopien handelt. „Anti-Utopie ist das Phänomen der literarisch verkleideten Utopiekritik“,3 das heißt, dass die Anti-Utopie im Grunde Kritik an einer Utopie, der Vorstellung einer perfekten Welt, ausübt.

Meyer wählt zur Benennung der Anti-Utopie die vorliegende Schreibweise, da so „die starke einerseits Abhängigkeit der Untergattung innerhalb der literarischen Gattung ‚Utopie‘, andererseits ihr eigenständiges, wenn gleich ambivalentes Verhältnis zur ‚Utopie‘ zum Ausdruck gebracht werden [soll]“.4 Die Anti-Utopie ist „eine literarische Negation literarisch-utopischer Idealstaaten“,5 so wird in ihr „ein Totalitarismusverdacht gegen klassische politische und literarische Utopie ausgesprochen“,6 wodurch es zu Spannungsverhältnissen zwischen individueller Freiheit und kollektivem Glück kommt.

In der Anti-Utopie hat die individuelle Freiheit dabei den Vorrang.7 Sie wird durch die Außenseiterfigur verkörpert, wo hingegen das kollektive Glück durch die repräsentative Figur dargestellt wird.8 Dennoch ist die Anti-Utopie immer noch verwandt mit der Utopie9 und behält Grundkonstituenten, wie Isolation, Selektion der Kräfte der Bevölkerung in Kasten, Klassen und Eliten und prästabilisierte Harmonie10 bei, richtet sich aber gegen bestimmte Motive oder Zielvorstellungen der Utopie, wie beispielsweise der völligen Einschränkung der Individualität.11 Die Isolation liegt dabei sowohl sozial, als auch geographisch vor.

In der anti-utopischen Gesellschaft herrscht also ein totalitäres Machtsystem, meist eine Diktatur, das durch Überwachung ermöglicht wird und in dem die Bevölkerung in Klassen geteilt ist. Außerdem ist diese in einem befestigten und geschützten Lebensraum sozial und geographisch isoliert, zudem sind die Menschen dort in ihrer individuellen Freiheit stark eingeschränkt.

Diese Einschränkung erfolgt beispielsweise durch die Familienpolitik, bei der das Familienleben vollständig nach den Vorstellungen des Staates gestaltet wird oder den Kollektivismus, der eine vollkommene Lebensweise ohne Konflikte, sowie planbares Glück gewährleisten soll, in dem man sich dem Staat fügt. In der Anti-Utopie werden Merkmale, wie Überwachung und Manipulation hinterfragt und die individuelle Freiheit zurückgefordert.12 So erweist sich die Außenseiterfigur, die das anti-utopische System kritisiert, als wichtigstes Merkmal und wichtigster Baustein der Anti-Utopie, da gerade sie die genannte Forderung formuliert und verkörpert.13

So muss der Außenseiter ein sogenannter „round character“ sein, es findet im anti-utopischen Roman also eine ausführliche Darstellung seines komplexen, individuellen Motivationssystems und seiner differenzierten Persönlichkeitsstruktur statt.15 So zeigt sich , dass sich die Außenseiterfigur von der allgemeinen Bevölkerung abhebt und die Widersprüchlichkeiten zwischen dem anti-utopischen Normensystem und den individuellen Wertevorstellungen darstellt, „denn erst durch die Distanzierung vom überindividuellen Normen- und Ordnungsgefüge von Staat und Gesellschaft wird der Einzelmensch zum Außenseiter“.16 Deshalb gehört dieser auch oft der geistigen Elite des Systems an.

Im Gegensatz zu den unteren Schichten, die die breite Masse der Bevölkerung beinhalten, sind die Mitglieder der intellektuelleren Oberklassen von geringerer Anzahl und nicht so manipulierbar. Sie erfahren das anti-utopische Normensystem durch ihre individuelle Denkweise meist als Zwang, wodurch bewusst oder unbewusst Abwehrmechanismen entstehen können, die sich schließlich auch in Rebellion gegen das System verwandeln können.17 Diese differenzierte Persönlichkeit äußert sich oft in „abweichendem Sexualverhalten“18 und führt zu einem Ausschluss der Außenseiterfigur aus der Gesellschaft, wodurch die Figur sozial isoliert wird.19


    1. Kurze Darstellung des Inhalts von „Die Bestimmung – Divergent“, „Die Bestimmung – Insurgent“ und „Hüter der Erinnerung“

Bevor die Außenseiterfiguren der Primärwerke genau analysiert werden, soll eine kurze Zusammenfassung des Inhalts dieser erfolgen, um die anschließende Analyse nachvollziehbar zu machen. Zunächst wird dies bei Hüter der Erinnerung erfolgen, danach bei Die Bestimmung.

Zudem soll an den Zusammenfassungen erkenntlich werden, dass es sich bei den Primärwerken wirklich um Anti-Utopien handelt. Der Film Hüter der Erinnerung beginnt mit dem Hineinzoomen in die Gesellschaft, es wird simuliert, dass man auf die Welt zu fliegt,20 und hier ist bereits eindeutig die geographische und soziale Isoliertheit festzustellen,21 es gibt keine Möglichkeit für die Bevölkerung, Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer Gesellschaft aufzunehmen und umgekehrt.

Außerdem wird jedes Mitglied der Gemeinschaft von Kindesalter an beobachtet, um ihm im Jugendalter die Aufgabe zuzuteilen für die es, nach der Meinung der Regierung, am besten geeignet ist. Somit ist auch die stark eingeschränkte Individualität des Einzelnen klar erkennbar,22 die Berufswahl erfolgt nicht nach dem Willen der Person, sondern nach seiner Fähigkeit und muss ausgeführt werden. Ähnlich verhält es sich bei der Familie.

Die Babys werden beliebigen Familien zugeteilt und auch die Partnerwahl wird vom Staat übernommen und beruht nicht auf einer Entscheidung der jeweiligen Personen.23 Um alle diese Regelungen konsequent durchzusetzen wird das Volk durchgehend und überall von Kameras beobachtet und so von der Regierung überwacht.24 Jonas, der Protagonist des Films, hält sich zunächst, wie jeder andere, an alle Regeln seiner Gesellschaft.

Doch am Tag an dem den Jugendlichen ihre Aufgaben zugeteilt werden, wird Jonas keines der üblichen Ämter auferlegt, sondern das des „Hüters der Erinnerung“. Als dieser soll er das Wissen über eine Welt voller Unvollkommenheiten, Aggressionen, Liebe und Solidarität bewahren und dem „Rat der Ältesten“, der Regierung der Anti-Utopie, bei Entscheidungen behilflich sein.

Durch die Erfahrungen über die unvollkommene Welt, erkennt er, dass die neue, schöne, perfekte Welt eigentlich nicht perfekt ist, nur auf Lügen basiert und den Menschen ihre Erinnerungen und Gefühle raubt. Dadurch realisiert er auch das totalitäre Machtsystem, das in seiner Welt vorherrscht und will dieses stürzen. Durch das Brechen der Regeln bringt Jonas die Regierung gegen sich auf.

In „Die Bestimmung“ befindet sich der Handlungsort im zerstört und verfallen wirkenden Chicago der Zukunft, das von einem meterhohen Zaun umgeben ist, der die Bevölkerung abschirmt, um sie vor der angeblich zerstörten und lebensbedrohlichen Außenwelt zu schützen. Auch hier sind die Einwohner also in einem befestigten und geschützten Lebensraum geographisch und sozial von der Außenwelt isoliert.25 Innerhalb der Bevölkerung sind die Menschen in fünf Fraktionen aufgeteilt, von denen jede eine bestimmte Funktion hat.26 So sind die Altruan die Selbstlosen, die die Regierung und sozialen Leistungen übernehmen, die Ferox die Furchtlosen, die für Polizei und Militär verantwortlich sind, die Ken die Gelehrten, und damit für Wissenschaft und EDV zuständig, die Candor die Freimütigen, die die Justiz innehaben und die Amitee die Freundlichen und Friedfertigen, deren Aufgaben in Landwirtschaft und Verwaltung liegen.

Die Menschen müssen sich einem Test in Form einer Gedankensimulation, die durch ein Serum hervorgerufen wird, unterziehen, um festzustellen für welche Fraktion sie am geeignetsten sind, allerdings ist es ihnen freigestellt welche Fraktion sie wählen. In der Fraktion für die sie sich entschieden haben, muss jedoch nochmals eine Aufnahmeprüfung absolviert werden.

Diese Unbestimmten gelten als Gefahr für die Gesellschaft und werden von der Regierung gejagt.27 Um nicht aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden verschweigt sie das wahre Ergebnis und schließt sich der Fraktion der wagemutigen Ferox an. Dort trifft sie auf Four, der während der Initiation, der Aufnahmeprüfung, merkt, dass sie eine Unbestimmte ist, ihr aber hilft dies weiterhin geheim zu halten. Sie finden heraus, dass eine andere Fraktion, die Ken, eine Art Transmitter zu den Ferox bringt, die diesen implantiert werden und sie durch eine Simulation zu willenlosen Soldaten machen können.

Eines Nachts wacht Tris auf und alle anderen Ferox befinden sich in der, durch die implantierten Transmitter ausgelösten, Simulation, nur bei ihr wirkt diese, auf Grund ihrer Unbestimmtheit, nicht. Um nicht aufzufallen stellt sie sich ebenfalls willenlos und findet Four, bei dem die Simulation auch nicht wirkt, der also ebenfalls ein Unbestimmter ist. Die beiden durchschauen das Vorhaben der Ken, durch die Willenlosen Ferox die Fraktion der Altruan, der Tris Eltern angehören, auszulöschen, und versuchen es zu verhindern, indem sie in die Kommandozentrale, von der aus die Simulation durch die Transmitter gesteuert wird, eindringen und sie abbrechen.

Four und Tris verlassen sie, da sie gegen einen Krieg sind und um zur Fraktion der Candor, den Rechtschaffenden, zu gehen und diesen Janines grausames Handeln aufzuzeigen. Die Führung der Candor will sie sofort an Janine ausliefern, Four schlägt jedoch vor, an ihnen ein Wahrheitsserum auszuprobieren, um ihre Unschuld zu beweisen. Dann werden die Candor jedoch von den Ken überfallen, die alle Unbestimmten, die nicht Janines Vorgaben entsprechen, töten wollen, doch Tris und Four gelingt es wiederum zu fliehen.

Sie suchen Schutz bei den Fraktionslosen, aber Evelyn beschwört Tris fortzugehen, da sie die Fraktionslosen in Gefahr bringt. Daraufhin stellt sich Tris Janine und den Ken. Diese verlangt von ihr, dass sie sich einem Test, in Form einer Simulation, unterzieht, dessen Bestehen eine Botschaft der Erbauer der Fraktionsgesellschaft öffnet. Dieser Test kann allerdings nur von Unbestimmten bestritten werden, und alle die Janine bisher dazu gezwungen hat, haben ihn nicht überlebt.

Auch Tris scheint zunächst zu scheitern und zu sterben, jedoch wurde ihr durch einen Trick, vor dem Test ein Narkosemittel gegeben, um sie zu retten. Sie erinnert sie dann aber daran, dass ihre Eltern die Box mit der Botschaft jahrelang versteckt hielten und beschließt sich erneut an dem Test zu versuchen. Dadurch gelingt es ihr die Botschaft zu öffnen und eine Nachricht der Erbauer abzuspielen.29 Janine wird besiegt und die Nachricht lautet, dass die Fraktionsgesellschaft lediglich eine Art Test der Menschheit sei, ob sie es schafft, tolerant zusammen zu leben.


    1. Charakterisierung der Außenseiterfiguren

      1. Aufzeigen der Außenseitermerkmale von „Jonas“

        1. Fähigkeit des Sehens von Farben

Nachdem die Handlungen der Primärwerke nun bekannt sind, wird im Folgenden die Analyse und Charakterisierung der jeweiligen Außenseiterfiguren erfolgen. Zuerst werden dabei die Außenseitermerkmale von Jonas aufgezeigt und mit seiner Fähigkeit Farben sehen zu können begonnen.

Wie oben bereits erwähnt ist die gesamte Welt in Hüter der Erinnerung grau, es gibt keine Farben. Doch schon innerhalb der ersten Minuten des Films zeigt sich, dass Jonas in der Lage ist, zumindest teilweise, Farben wahrzunehmen.30 Dadurch wird dem Zuschauer schnell deutlich gemacht, dass Jonas anders ist als die restlichen Figuren des Films. „Regisseure nutzen Farbe in einem Schwarzweißfilm, um ein bedeutungsvolles Detail in den Blickpunkt zu rücken“,31 in diesem Fall wird dadurch betont, dass Jonas ein Außenseiter der Gesellschaft ist, aber auch gezeigt, dass Jonas eine besondere Beziehung zu Fiona hat, da er ihre Haarfarbe als eine der ersten Farben wahrnimmt. 32Nach seiner Ernennung zum Hüter der Erinnerung, als er vom Geber, dem alten Hüter der Erinnerung, lernt, was Farben sind, und er zum ersten Mal bewusst die gelben Streifen einer Biene und das Rot eines Apfels wahrnimmt, stellt dies einen wichtigen Meilenstein bei seinem Erkennen der Utopie als Anti-Utopie dar, weil er sich anschließend die Frage stellt, warum den Menschen seiner Gesellschaft Farben vorenthalten werden.33 Je mehr sich seine Gedanken und Handlungen gegen das System richten, desto mehr und kräftiger kehren die Farben in den Film zurück, was wieder darauf hinweist, dass der Regisseur die Farben nutzt, um den Erkenntnisprozess der Utopie als Anti-Utopie zu unterstreichen.34

Abb. 3: Jonas erkennt verschwommene Farben (Noyce, P .Hüter der Erinnerung, 00.02.02)

        1. Fähigkeit Gefühle und Emotionen zu entwickeln

Eine weitere Fähigkeit, die Jonas als Außenseiter hat, ist, dass er echte Emotionen entwickelt, obwohl die Morgenmedizin diese eigentlich unterdrückt und nur oberflächliche Gefühle zulässt. Dies zeigt sich zum einen bereits bevor er zum Hüter der Erinnerung ernannt wird, da er sich oft nicht an den vorgegeben Sprachgebrauch zum Ausdrücken von Erlebnissen und den dabei entstehenden oberflächlichen Gefühlen der Menschen hält, sondern seine Gefühle deutlicher beschreiben will, als es erlaubt ist.35 Auch das Sehen von Fionas Haarfarbe weist, wie zuvor bereits angedeutet, auf seine Entwicklung von Gefühlen hin, genauso wie die Tatsache, dass er nach seinen ersten Erfahrungen, die er als neuer Hüter der Erinnerung macht, diese sofort mit Fiona teilen will36 und von ihr träumt.37Auch werden einige Momente in denen Jonas Fiona in die Augen sieht mit Musik untermalt, wodurch der emotionale Aspekt der Szene und zwischen den beiden hervorgehoben wird.38Außerdem fühlt er eine außergewöhnliche Beziehung zu dem Baby Gabriel, von dem er glaubt, dass er später einmal der nächste Hüter der Erinnerung werden wird.39Die erste bewusste Erfahrung von echten Emotionen macht er jedoch erst in einer der Erinnerungssimulationen durch den Geber, als er gleichzeitig lernt was Musik ist.40 Durch diese Simulationen, die der Geber mit ihm teilt, lernt er was wahre Gefühle und Emotionen sind und beginnt wiederum sich zu fragen, warum diese der Gesellschaft durch das System vorenthalten werden. 41 Durch die Musik, die in dieser Szene eine wichtige Rolle spielt, erfährt der Rezipient dieselben Emotionen, wie Jonas und befindet sich auf einer Ebene mit ihm.42 Nach dieser Erkenntnis beginnt Jonas die Morgenmedizin nicht mehr einzunehmen, wodurch seine Gefühle und Emotionen weiter verstärkt werden.43 Insgesamt ist Jonas Entwicklung von echten Gefühlen und Emotionen wiederum ein Teil seiner differenzierten Persönlichkeitsstruktur und damit ein eindeutiges Außenseitermerkmal.44

Dies wiederum ist teilweise nötig, um es ihm zu ermöglichen, die vom Geber aufgestellten Regeln einzuhalten. So darf er lügen, um nichts über seine Tätigkeit als Hüter der Erinnerung verraten zu müssen, und Fragen stellen, um immer mehr lernen zu können.48 Außerdem muss er „Schmerzen weit größer als alles, was [die Bewohner der Anti-Utopie] kennen“49 auf sich nehmen, wodurch nochmals seine besondere Stärke und Rolle im System deutlich gemacht werden.

Seine Aufgabe als Hüter ist es, die Erinnerungen der Vergangenheit zu bewahren und den Rat der Ältesten bei schwierigen Entscheidungen, durch sein Wissen, zu beraten und zu unterstützen.50 Dies verleiht ihm eine sehr machtvolle Position in der Gesellschaft.

        1. Jonas’ Erkennen der Utopie als Anti-Utopie und sein Beitrag zu deren Zerstörung

Im Folgenden sollen nun die einzelnen Schritte dargestellt werden, in denen Jonas das utopische System seiner Gesellschaft als eine Anti-Utopie erkennt und wie er diese daraufhin zerstört. Die erste ausschlaggebende Szene, die hierzu herangezogen wird, ist die, als er seine erste Erinnerungssimulation hat, in der er mit einem Schlitten einen Berg voller Schnee hinunterrutscht und sich anschließend die Frage stellt: „Warum wissen die Menschen nichts davon? Was ist schon so gefährlich an der Erinnerung an einen Schlitten?“.51 Ebenso wichtig ist, als er lernt was Farben sind, und sich wie oben bereits erwähnt, fragt warum den Menschen etwas so schönes genommen wurde52 und dadurch anfängt das System in dem er lebt zu hinterfragen.

Im Laufe des Films erfährt er nun immer mehr Erinnerungen, fängt an sich lebendig zu fühlen und genießt die Vielfalt der Dinge und Emotionen die er in den Simulationen spürt und sieht, „ je mehr [er] erfuhr, desto mehr wollte [er] erleben“.57 Sein Zweifel daran ob die Gesellschaft wirklich so perfekt ist, wie behauptet wird, verstärkt sich dadurch immer mehr, er „Wusste nicht mehr, was [er] denken und was [er] glauben sollte“.58 Auch, dass ihm der Geber sagt, dass er „niemals etwas einfach so akzeptieren [darf], nur weil es von jemandem kommt den [er] respektiert“59 und es „bei Erinnerungen […] nicht nur um die Vergangenheit [geht], sondern sie […] auch unsere Zukunft [bestimmen]. [Er] kann Dinge verändern und [er] kann Dinge verbessern.“60 kann darauf anspielen, dass der Geber will, dass Jonas sich gegen das momentane System stellt und ihn mit diesen Aussagen dazu ermutigt.

Durch das absetzten seiner Morgenmedizin, beginnt Jonas schließlich Liebe zu spüren, zu Fiona, aber auch zu dem Baby Gabriel. Jedoch wird ihm auch klar, dass die Menschen in seiner Gesellschaft überhaupt nicht mehr in der Lage sind zu begreifen, was Liebe ist, als er seinen Vater fragt: „Vater, liebst du mich?“61 und daraufhin nur zu hören bekommt: „Jonas! Präziser Sprachgebrauch!“.62 Er fängt nun an Fiona auf seine Seite zu ziehen und stiftet sie dazu an ihr Morgeninjektion auszulassen, um es zu ermöglich, dass sie fühlt, was er fühlt,63 im weiteren Verlauf küsst er sie auch und überzeugt sie dadurch, dass es noch mehr gibt, als das Leben, das sie kennt.64 Die nächste große Erkenntnis, die er durch den Geber bekommt, ist, was die Wahrheit über die sogenannte „Freigabe nach Anderswo“ ist.

Außerdem will er Gabriel retten und zur Grenze der Erinnerung mitnehmen.70 Seine Rebellion, bleibt der Regierung aber nun nicht weiter verborgen und sie beginnt ihn zu verfolgen.71 Dennoch gelingt es ihm, durch Fionas Hilfe, Gabriel zu retten und seinen Verfolgern zu entkommen.72 Er macht sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung der Grenze, weg von der Gemeinschaft, und schafft es letztendlich diese zu überqueren.73 Wodurch alle Farben, Erinnerungen, Gefühle und Emotionen in die Gemeinschaft zurückkehren.

Auch viele der für die Anti-Utopie ausschlaggebenden Szenen, die in diesem Punkt genannt werden, sind, wie zuvor schon exemplarisch gezeigt, mit Musik untermalt, die dem Rezipienten vermitteln soll, dass es sich um wichtige Ereignisse handelt.74


        1. Jonas als Bewertung des anti-utopischen Systems durch den Autor

Wie im Punkt „Bedeutung der Außenseiterfigur für die Anti-Utopie“ bereits aufgezeigt, ist eine der wichtigsten Funktionen des Außenseiters, dass der Autor durch dessen Erkenntnisprozess der Anti-Utopie Kritik an seiner selbst entworfenen Gesellschaft ausübt.75 Es soll nun ermittelt werden, um welche Kritik es sich in Hüter der Erinnerung handelt.


| | | | |
Tausche dein Hausarbeiten

G 2 - Cached Page: Friday 29th of March 2024 01:20:27 AM