Inhaltsverzeichnis
1.
Verfremdung – Definition
2.
V-Effekte in
Brechts „Mutter Courage und Ihre Kinder“
2.1.
Die Funktion der Lieder
2.2.
Historischer Hintergrund
2.3.
Gestus und gestische Sprache
2.4.
Verfremdung auf der Bühne und in Inszenierungen
2.4.1.
Arrangement
2.4.2.
Die Schauspieler
2.4.3.
Zuwendung zum Publikum
2.4.4.
Bühnenbild
2.4.5.
Illusionäre Elemente
2.4.6.
Führung der Fabel
3.
Warum lernt Mutter Courage nichts?
4.
Nachwort
1.
Verfremdung – Definition
Nicht
nur „Mutter Courage und ihre Kinder“, sondern auch andere Werke
Bertolt Brechts sind unter anderem auch durch den Verfremdungseffekt
gekennzeichnet. Es handelt sich um eine Technik, die in den Dramen
Brechts vorkommt. Im normalen Theater wird den Zuschauern eine solche
Welt vermittelt, die die Zuschauer gut kennen und die für sie
alltäglich wirkt. Es gibt sozusagen eine „vierte Wand“ zwischen
dem Publikum und der Bühne, die Brecht versucht hat zu beseitigen.
Die Verfremdung (verfremdetes Theater) lässt den Zuschauer erkennen,
dass die Handlung auf der Bühne nicht realistisch, sondern nur
künstlich ist, und die Schauspieler nicht identisch mit den Figuren
sind. Außerdem soll die Verfremdung veranlassen, dass der Zuschauer
nicht anfängt, sich in die Figuren einzufühlen. „Einen
Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach,
dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte,
Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Bewunderung zu
erzeugen."1
Eine kürzere Erläuterung wäre: die Verfremdung ist ein Mittel, um
die Illusionen der Zuschauer zu zerstören, die durch das Wirken der
sog. „vierten Wand“ entstehen. Diese Verfremdung ist
charakteristisch für das epische Theater, in dem die Schauspieler
ihre Rollen distanziert spielen sollen, um den Zuschauer zum
Nachdenken zu bewegen. Wichtig ist, dass der Zuschauer dabei
aufmerksam wird, seine Rezeption geändert wird und ihn die Situation
zwingt, sich nicht in die Haut der Figuren hineinzuversetzen und nach
einer Problemlösung zu suchen. Jürgen Link dagegen versteht unter
„Verfremdung“ in der Lyrik zwei
Bestandteile, und zwar eine automatisierte Folie und ein Novum. Er
vergleicht diesen Effekt mit einem Bild, das um 45 Grad gedreht
aufgehängt ist. Der Betrachter, so Link, „nimmt nicht nur das
realisierte gedrehte Bild auf, sondern in der inneren Vorstellung
auch ein normal aufgehängtes Bild“. (in Eicher/Wiemann:
Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft). Allerdings kommt diese
Verfremdung nur in der Lyrik vor und darf nicht mit der Verfremdung
bei Brecht verwechselt werden.
2.
V-Effekte in
Brechts „Mutter Courage und Ihre Kinder“
2.1.
Die Funktion der Lieder
In
mehreren Stücken Brechts kommen verschiedene Lieder vor, die Brecht
für entscheidende Merkmale des epischen Theaters bezeichnet hat.
Hier treffen die drei Gattungen aufeinander - episches Theater (Epik
und Drama) und Lyrik. Die Lieder sollen die Handlung untermalen und
herausheben, sie erzählen, was im Stück geschieht, bzw. geschehen
wird, werden aber nicht so verwendet, wie in anderen Dramen Brecht.
Die Lieder sind bei „Mutter Courage und ihre Kinder“ keine
Entspannungspausen zwischen den Szenen, sondern Einlagen, die die
Handlung nicht beeinflussen und die Lyrik mit dem Drama werden nicht
als eine zusammengesetzte Einheit verstanden. Die Rezeption der
Zuschauer soll damit verändert werden, wobei Erkenntnisse gewonnen
werden können.
2.2.
Historischer Hintergrund
In
„Mutter Courage und ihre Kinder“ ist die Hauptproblematik der
Dreißigjährige Krieg, der im 17. Jahrhundert ganz Deutschland
spaltete (Protestanten vs. Katholiken); es war Kampf um den richtigen
Glauben. Das Stück selbst entstand kurz vor Beginn des Zweiten
Weltkriegs, es werden also die im Krieg vorkommenden Prozesse
dargestellt und die Problematik des Krieges konkretisiert. Der
Zuschauer sieht, wie die damalige Situation war und es bewegt ihn die
Realität zu ändern, weil sie eben veränderbar ist.
2.3.
Gestus und gestische Sprache
Brecht
versteht unter „Gestus" einen Komplex von Gesten, Mimik und
für gewöhnlich auch Aussagen, die ein Mensch (oder auch mehrere) an
einen (oder mehrere andere) Menschen richtet. Die gestische Sprache
versucht Gefühle und Emotionen auszudrücken, die dann durch das
gesellschaftliche Handeln dargestellt werden.
Ein
Beispiel für diese gestische Sprache wäre:
„Sagen
Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen ist […].“ 2
Man könnte das als einen Vergleich zwischen dem Krieg und Frieden
betrachten (der Krieg bricht aus, der Frieden kehrt ein/zurück). Man
kann hier merken, dass der Frieden für Mutter Courage eigentlich das
„Ungute“ darstellt, weil sie vom Krieg lebt. Im Drama werden in
jeweiligen Szenen die Figuren dargestellt, derer Haltungen,
Meinungen, Entwicklungen und psychologische Lagen durch ihre Sprache
der Zuschauer wahrnehmen und aufdecken kann.
2.4.
Verfremdung auf der Bühne und in Inszenierungen
2.4.1.
Arrangement
Das
Arrangement soll den Sinn und die Widersprüchlichkeit der Vorgänge
aufdecken. Man kann sehen, ob die Interessen und Haltungen der
Figuren übereinstimmen, oder ob sie sich widersprechen.
2.4.2.
Die Schauspieler
Der
V-Effekt wird erzielt, in dem auf der Bühne statt einer alten,
leidgeprüften Bäuerin, die im Krieg ihre Kinder verloren hat, diese
Rolle eine junge Schauspielerin darstellen könnte. Es wäre möglich,
die Rollen zu vertauschen, z. B. eine weibliche Figur würde man
durch eine männliche darstellen lassen oder umgekehrt. Beim Singen
der Lieder wird eine künstliche Sängerhaltung der Schauspieler
realisiert, die Beleuchtung ändert sich, und die ganze Situation auf
der Bühne wird herausgehoben, da diese Lieder die Handlung
unterbrechen, aber zugleich auch resümieren.
2.4.3.
Zuwendung zum Publikum
Mit
Hilfe der direkten Adressen an das Publikum soll die Gefahr der
Einfühlung vermieden werden. Es handelt sich nicht länger um eine
Suggestion von Wirklichkeit, sondern wird durch das Heraustreten der
Schauspieler aus der Rolle zur Beurteilung an das bewusst sehende
Publikum übergeben, z. B. in den Liedern werden bestimmte
Erläuterungen direkt an den Zuschauer gerichtet.
2.4.4.
Bühnenbild
Laut
Brecht ist für „Mutter Courage“ ein sparsames und auf das
Notwendigste konzentriertes Bühnenbild am idealsten. Auf der Bühne
ist oft kein Vorhang, oder nur ein kleiner Vorhang,
Theatermaschinerie ist sichtbar, und es gibt Umbauten auf offener
Bühne. Wichtig ist auch die Verwendung von Masken, was bedeutet,
dass der Schauspieler die Rolle distanziert spielt, weisen aber auch
auf die starre Unbeweglichkeit des Denkens der Figuren hin.
2.4.5.
Illusionäre Elemente
Auf
der Bühne entsteht eine indirekte Illusion oder ein illusionäres
Element der flachen Landschaft wegen dem Rundhorizont. Es wirkt im
Zuschauer und entwickelt eine gewisse poetische Regung. Später wird
aus der leeren, wüsten Bühne, auf der der Zuschauer am Anfang nur
wenig sah, eine bevölkerte Bühne voller Erkenntnisse und
Handlungen. Das Auftreten der Schauspieler und das schon erwähnte
Austreten aus ihrer Rolle ist ein ganz wichtiges Element. Die Kostüme
sind keine Tracht. Sie tragen zwar Merkmale des Landlebens, sollten
aber den Charakter der jeweiligen Person ausdrücken.
2.4.6.
Führung der Fabel
Auch
durch die Führung der Fabel wird die Unnatürlichkeit der
dargestellten Handlung ersichtlich. Mutter Courage ist eine Figur,
die vom Krieg lebt und nur dann überleben kann, wenn der Krieg nicht
zu Ende ist (oder wie sie selbst sagt: „Der Friede bricht aus.“).
Dann kommt auch der Kontrast zwischen Schlechtigkeit und der Tugend
noch dazu. Der Zuschauer beobachtet die Handlung und ist in der Lage
es kritisch zu besichtigen, wobei er in die Rolle eines kritisch
argumentierenden Gegenspielers gerät. Es zeigt sich kein Ausweg der
kleinen Bäuerin und ihrer Kinder, obwohl sich Mutter Courage am Ende
für ihre Tochter und den Wagen entscheidet, allerdings viel zu spät.
Die Einstellung zeigt sich bei Courage auch am Ende des Stücks,
nachdem sie alle Kinder verloren hat, weiterzieht und ihr
Courage-Lied singt. Hier muss sie leider feststellen, dass sie nichts
gelernt hat.
3.
Warum hat Mutter Courage nichts gelernt?
Nachdem
Courage ihre Kinder im Krieg verloren hat, kommt es zu einer
Reaktion, wo sie den Krieg verflucht. Es handelt sich hier aber nur
um einen kurzen Moment, um einen […] „spontanen Gefühlausbruch
[…], nicht aber eine verändernde Haltung […]“.3
Courage wird als eine Mutter dargestellt, durch derer Habgier ihre
eigenen Kinder ums Leben kommen, und die nach den Ereignissen einfach
weiterzieht und vom Krieg weiterprofitiert. Hier stellt man sich die
Frage, warum eine Mutter so handelt. Die Ereignisse im Stück weisen
darauf hin, wie die Lage und das Denken der Menschheit in der Zeit
des Krieges war. Es war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als „Mutter
Courage und ihre Kinder“ entstand, und Brecht wollte zeigen, wie
viele Menschen in dieser Epoche durch ihre Blindheit ins Unglück
stürzten und viele andere mitgerissen haben. Mutter Courage bleibt
am Ende immer noch blind und zieht einfach weiter. Man könnte auch
sagen, dass die Reaktion normal war, für eine Mutter, die alles
verloren hat, erst jetzt die Ausweglosigkeit ihrer Lage nachvollzieht
und nichts mehr zu verlieren hat.
4.
Nachwort
Obwohl
das Drama nicht allzu lang ist und innerhalb eines Tages durchgelesen
werden kann, enthält es viele Elemente und Mittel, die umfangreich
beschrieben werden können. Außerdem beschäftigt man sich mit
diesem Werk in zwei Wissenschaftsbereichen: sowohl in der Literatur-,
als auch in der Theater- und Filmwissenschaft. Das Ziel dieser
Proseminararbeit war die Grundzüge des epischen Theaters in Brechts
Sinn zu vermitteln und den V-Effekt und seine Grundgedanken zu
beschreiben als auch in den Inszenierungen darzustellen. Zum Schluss
beschäftigte ich mich mit dem Bühnenbild und den Schauspielern, als
auch mit dem Ausganspunkt des Dramas.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
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Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder. In: Ausgewählte Werke in
sechs Bänden. Bd.2. Frankfurt am Main 1997. S. 111-190.
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Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder. Suhrkamp. Berlin 1963.
Sekundärliteratur
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Karl: Erläuterungen zu Bertolt Brechts Mutter Courage. 4.
Aufl. Hollefeld/Obfr.: C. Bange Verlag 1967.
Eversberg,
Gert: Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Beispiel für
Theorie und Praxis des epischen Theaters. Joachim Beyer Verlag.
Hollfeld/Ofr. 1976.
Hecht,
Werner: Materialien zu Brechts Mutter Courage und ihre Kinder.
Suhrkamp. Frankfurt/ Main 1964.
Müller,
Klaus-Detlef (Hg.): Brechts Mutter Courage und ihre Kinder. Suhrkamp.
Frankfurt/Main 1982.
Thiele,
Dieter: Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder. 4. Aufl.
Moritz Diesterweg. Frankfurt/Main 1997.
Bibliographie
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Ali:
Theorie und Praxis politischen Theaters im Spätwerk Bertolt Brechts.
Frankfurt am Main [u.a.]:
Lang 1995.
Bekes,
Peter:
Verfremdungen : Parabeln von Bertolt Brecht, Franz Kafka, Günter
Kunert. Stuttgart: Klett 1988.
Boner,
Jürg:
Dialektik und Theater : die Dialektik im Theater Bertolt Brechts.
Zürich: Zentralstelle der
Studentenschaft 1995.
Engelhardt,
Jürgen:
Gestus und Verfremdung : Studien zum Musiktheater bei Strawinsky u.
Brecht/Weill / Jürgen Engelhardt. München
[u.a.]: Musikverlag Katzbichler 1984.
Erpenbeck,
Fritz:
'Der kaukasische Kreidekreis' von Bertolt Brecht beim Berliner
Ensemble am Schiffbauerdamm : (Zuerst 1954). In:
Brechts Theaterarbeit 1985,
Grimm,
Roderich:
Verfremdung in Bertolt Brechts "Leben des Galilei".
Frankfurt am Main [u.a.]:
Lang 1987.
Hallet,
Wolfgang:
Der kleine Mönch und der große Galilei : Einfühlung und
Verfremdung in Brechts 'Leben des Galilei' und im
Literaturunterricht. In:
Diskussion Deutsch 25 1994, H.139, 305/312.
Weber,
Horst:
Bertolt Brecht und Friedrich Schlegel : zur Theorie und Praxis von
"Verfremdung" und "romantischer Ironie". In:
Weber, Horst : Beiträge zur neueren Literatur 1985.
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