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Seminararbeit / Hausarbeit

Übersetze­n und Interpre­tieren am Beispiel Das Fliegenp­apier von Robert Musil

9.708 Wörter / ~27 Seiten sternsternsternsternstern Autor Manuel D. im Jun. 2011
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Seminararbeit
Deutsch

Universität, Schule

Freie Universität Bozen

Autor / Copyright
Manuel D. ©
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Preis 5.00
Format: pdf
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Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 7574







Im Entwurf zu einem Vorwort für den Nachlaß zu Lebzeiten steht auch die folgende Charakterisierung der Vereinigungen, eines Buches, das als Ergebnis eines “2 1/2 jährigen verzweifelten Arbeitens” entstanden war:


Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt. Ich hatte nichts getan, um das zu erleichtern. [ .] Für mich entstand ein großer Mißerfolg daraus.[28]


Hier finden wir denselben Gebrauch des Vergrößerungsglases, eines Instruments, das den Blick schärfen hilft für Feinheiten, an denen der normale Beobachter achtlos vorübergeht, und zugleich eine Aufforderung an den Leser zu Vorsicht und Rücksicht auf das einzelne Wort, die beinahe wörtlich an Nietzsches Ideal des guten Lesens anklingt. Die geschärfte Aufmerksamkeit hat sich besonders jenem Aspekt des Textes zuzuwenden, den Musil selbst in seiner Reflexion über die Sinngebung von Literatur an erster Stelle erwähnt, der Dichte der Beziehungen, der gegenseitigen Beziehungen der einzelnen bedeutenden Glieder eines sinnhaften Gefüges.

Wer im ersten Satz des Textes Das Fliegenpapier meint, den Zug wissenschaftlicher Genauigkeit zu finden, gibt sich als ein Leser zu erkennen, der mit Sicherheiten rechnet: er beruft sich auf den Namen, das Herkunftsland, empirisch nachprüfbare Maßangaben — alles Elemente der Wirklichkeit, die ein Beobachter sachlich registrieren kann. Diese Einstellung, die mit einer direkten Verbindung von Realität und Text rechnet, kann im Einzelfall nicht widerlegt werden.

Wie könnte man auch einem Leser verständlich machen, er habe gerade interpretiert, wo er antworten wird, er habe doch nichts anderes getan, als auszusprechen, was er gerade gelesen hat? Stehen da nicht genaue Zahlenangaben über Länge und Breite eines Fliegenpapier.....[Volltext lesen]

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Den Sprecher gibt es erst im Moment des Sprechens; diesen Sprecher gibt es für uns erst in dem Moment, in welchem wir seine Sätze auf dem Papier wahrnehmen.

Die literarische Fiktion des sprechenden Ich ist für den Leser nur durch die Sätze konstituiert, mit denen die Figur ihm begegnet; dem Ich können daher auch keine anderen Eigenschaften zugesprochen werden, als diejenigen, die in seinen Sätzen zum Ausdruck kommen.

Im ersten Satz des Textes Das Fliegenpapier wird daher nicht bloß ein Fragment der Wirklichkeit beschrieben, sondern es wird im ersten Satz zugleich mit der Beschreibung ein sprechendes Ich geschaffen, das auf Sinnesdaten reagiert, indem es sie in seinen eigenen Horizont übersetzt. Dabei entsteht das Objekt der Beobachtung erst im Moment der Übersetzung.

Aber auch das beobachtende/übersetzende Subjekt entsteht erst im Moment der Beobachtung, bzw. im Moment des Sprechens, d. h., auf dem Medium Papier existiert es nur in Form der ihm zugeschriebenen Sätze. Subjekt und Objekt existieren nicht, bevor sie sich treffen und sich in einem willkürlichen aber motivierten Akt gegenseitig schaffen.

Auf den Akt der Aneignung des [Noch-nicht-] Objekts durch den Sprecher folgt in Musils Text ein weiterer Sprechakt, der — in Anlehnung an H. Weinrichs Tempus-Buch — als Besprechen bezeichnet werden soll.[29] Aneignung und Besprechen erhalten ihren Sinn aus dem Interesse, das Subjekt und Objekt miteinander verknüpft. Erlischt dieses Interesse, wird die ursprüngliche Distanz wieder hergestellt, Subjekt und Objekt werden wiederum autonom — und hören damit auf, zu existieren.

Der Text ist zu Ende. Das ist das Thema des letzten Satzes des Textes, des Satzes mit dem unverständlichen Verbum bezeichnen.

Der Beobachter sieht an diesem Punkt nämlich noch recht gut, was an den beinahe toten Fliegen noch zu beobachten ist und er sagt es noch aus der Sicht seines individuellen Horizonts mit einem jener Sätze, die den zuvor übersetzten Sinnesdaten gelten: “es sieht wie ein winziges Menschenauge aus”.

Aber bevor er diesen Satz spricht, hat der Sprecher den Wunsch nach Distanz ausgesprochen: er sucht nach der wissenschaftlich adäquaten Bezeichnung für das von ihm beobachtete Organ. Mit diesem Wunsch, nicht mehr weiter so zu sprechen, wie er es im Text nach dem ersten Satz getan hat, nämlich in Bildern der eigenen vertrauten Welt, ist das im ersten Akt der Aneignung begründete Verhältn.....

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Die Differenz besteht nur als Bewußtsein dieser Differenz — ihr Ort ist im Kopf des Sprechers, nicht in der Welt. Die Vergleiche erhellen keine Aspekte der Wirklichkeit, sie geben nicht Auskunft über beobachtete Einzelheiten, sondern geben Auskunft über den Horizont, in welchem diese Beobachtung wurzelt.

Diese Sätze geben Auskunft über den Sprecher und seine Sprechhaltung, bzw. über ihre Realisierung im Text selbst. Diese Haltung, die ebenfalls Gegenstand einer Interpretation sein muß, zeigt sich als Versuch, nach der vollzogenen Aneignung Distanz zu gewinnen; als sei die Aneignung, das Übersetzen in seine eigene Welt, ein natürliches, unvermeidbares Ereignis, dem der Sprecher nun in seiner Individualität Widerstand entgegensetzt.

Mittel hierfür ist die Ironie, die den Text auf dem Höhepunkt der Anstrengungen der Fliegen so stark prägt:


Ihr Kopf ist braun und haarig, wie aus einer Kokosnuß gemacht; wie menschenähnliche Negeridole. Sie biegen sich vor und zurück auf ihren festgeschlungenen Beinchen, beugen sich in den Knieen und stemmen sich empor, wie Menschen es machen, die auf alle Weise versuchen, eine zu schwere Last zu bewegen; tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon.


3. Übersetzungskritik

Der Übersetzungsfehler im letzten Satz der italienischen Übersetzung von Musils Fliegenpapier ist ein Indiz für eine Lesestrategie des Übersetzers, wie sie in ganz ähnlicher Form auch bei den germanistischen Interpretationen desselben Textes nachgewiesen werden kann. Die Leser sehen im Text einen Erzähler mit Eigenschaften, den sie sich als vollständig geformte literarische Rolle vorstellen, ohne sie allerdings in ihrer Vollständigkeit tatsächlich zu kennen.

Der Leser, der sich unter diesen Voraussetzungen den Text aneignet, wird dazu verführt, über die ihm unbekannte Figur Vermutungen anzustellen. So mutmaßt er, der Sprecher habe ein Vergrößerungsglas zur Hand, wenngleich im Text von einem Vergrößerungsglas gesprochen wird, das nicht verwendet wird.

Dieses Auffüllen einer leeren Figur mit Eigenschaften ist der erste und alle weiteren Schritte bestimmende Akt des Lesers. Dieser Figur wird sodann in einem klassischen hermeneutischen Kurzschluß genau das zugemutet, was dem Leser jew.....

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Dieselbe Erwartungshaltung des Übersetzers zeigt sich auch im Schlußteil des Textes, der wegen seines programmatischen Inhalts schon öfter Gegenstand germanistischer Interpretationen gewesen ist:


Aber du deutest doch an — suchte sich Aeins vorsichtig zu vergewissern —, daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat? Du lieber Himmel — widersprach Azwei —, es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!


Im italienischen Text finden wir den zentralen Passus wie folgt wiedergegeben:


[ .] Dio mio, — rispose A 2, — è successo per l’appunto così; e se ne conoscessi il senso, non avrei bisogno di raccontarti nulla.


Wenn wir den Sinn dieses Textabschnittes auf die Verbalsyntagmen reduzieren, stellt er sich als Opposition von raccontare und non raccontare dar, nicht aber — wie die Übersetzung suggeriert —, als Opposition zwischen raccontare qualche cosa und non raccontare niente/nulla.[32] Nur jemand, der etwas Bestimmtes weiß, kann wählen, ob er über dieses Thema sprechen will oder ob er es vorzieht, nichts zu sagen.

In der italienischen Übersetzung ist das erzählende Subjekt mit seiner Geschichte und seinem Wissen vorausgesetzt und unproblematisch, bei Musil aber undenkbar ohne die unauflösbare Bindung an den Sprechakt selbst, mit einem Erzähler, der den Sinn seiner Erzählung erst in dem Moment zu erfahren hofft, in welchem er sie erzählt. Schon im Akt des Lesens entsteht also eine vollständige Figur, die es im Text in Wirklichkeit nicht gibt — sie in der Darstellung erst zu schaffen, ist Ziel des Textes, nicht sein Ausgangspunkt.

In der italienischen Übersetzung von Musils Text Hellhörigkeit kommt der Fehler bereits im Titel Percezioni finissime (Feinste Wahrnehmungen) zum Ausdruck, der sich gegenüber dem originalen Wortlaut durch genau die eben beschriebene Differenz unterscheidet. Wer von Wahrnehmungen spricht, hat in Gedanken bereits einen Menschen im Sinn, der diese feinsten Wahrnehmungen noch aufzunehmen imstande ist, und jeder Satz des Textes kann sodann aus dieser ganz spezifischen Sicht — die eben keineswegs natürlich ist — gegenüber dem Original entsc.....

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Spätestens an diesem Punkt — zu Ende des ersten kurzen Absatzes — erscheint im übersetzten Text eine jener schlampigen, ungenauen Formulierungen, wie sie in Musils Texten gerade nicht zu finden sind.

Die Weichen für die Übersetzung sind damit gestellt; das perzepierende Ich hat die Haltung eines tätigen Menschen angenommen, und so wird aus “Ich höre dich nur”: Sto soltanto in ascolto, eine Formulierung, die das sprechende Ich wiederum als aktiv Handelnden charakterisiert, während es im Originaltext ein aufnehmendes ist. Analog bei “Ich sehe nicht hin”: non lo vedo, sowie die Übersetzung von “etwas” mit non so che.

Dieses im italienischen Text als volle Figur präsente Ich — ein Ich mit Eigenschaften könnte man sagen — gliedert den Text auch zeitlich; es breitet sich sozusagen in seinem deiktischen Raum aus. So wird im Mittelteil des Textes, wo im Deutschen die Zeitangaben eher dazu dienen, den Eindruck von Sukzession in einer Art Neutralisierung der Abläufe in der Zeit aufzuheben, im Italienischen mit adesso ein präziser Bezugspunkt gesetzt, auf den sich das ma ecco che des nachfolgenden Satzes bezieht und somit eine klar gegliederte zeitliche Abfolge schafft.


Dann Wasserschwälle in das Waschbecken. Vorher schon das Abstreifen von Kleidern; jetzt wieder; es ist mir unverständlich, wieviel Kleider du ausziehst. Nun bist du aus den Schuhen geschlüpft. Danach aber gehn deine Strümpfe auf dem weichen Teppich ebenso unablässig hin und her wie vordem die Schuhe.


Poi lo scrosciare dell’acqua nella catinella. Prima avevo già udito che ti spogliavi dei vestiti, ora di nuovo: non si può concepire quanta roba hai indosso. Adesso ti sei sfilata le scarpe. Ma ecco che le calze vanno avanti e indietro sul tappeto morbido, come le scarpe poco fa.


Da alle Sinnesempfindungen auf den Fixpunkt des aufnehmenden Erzählers bezogen sind, werden Geräusche, die diesem nicht verständlich sind, zu unsinnigem Tun abgewertet: “es ist mir unverständlich, wieviel Kleider du ausziehst” wird zu: “es ist unvorstellbar, wieviel Zeug du anhast”; dieser Eindruck des Sinnlosen erscheint im nachfolgenden Satz dadurch verstärkt, daß der Übersetzer den Plural Gläser als Singular wiedergibt:


Du schenkst Wasser in Gläser; drei-, viermal hintereinander, ich kann mir gar nicht zurechtlegen, wofür. Ich bin in meiner Vorstellung längst mit allem Vorstellbaren zu Ende, während du offenbar in der Wirklichkeit immer noch et.....

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So che ti spicci per riguardo a me; dunque si vede che tutto è necessario, che fa parte del tuo Io più profondo e come il muto affaccendarsi degli animali il tuo movimento non sarresta dal mattino alla sera; con piccoli gesti incoscienti e innumerevoli, di cui non sai renderti conto, tu ti immergi in un vasto spazio dove nemmeno un soffio di me stesso tha mai raggiunta.


An Stelle von Musils Formulierung, derzufolge auch der Mensch in jenen Bereich des unbewußten Seins hineinreicht, der Tieren natürlich vorgegeben ist, — “und wie das stumme Gebaren der Tiere von Morgen bis zum Abend” — wird in der Übersetzung die Frau, “die von Morgen bis zum Abend ununterbrochen in Bewegung ist”, mit Tieren verglichen. Aber selbst diese Fehlleistung scheint im innovativen Kontext der Übersetzung noch einen plausiblen Sinn zu ergeben.

Jeder italienische Leser, dem ich die Übersetzung vorgelegt habe, verstand das Adjektiv incoscienti im zuletzt angeführten Satz in der gebräuchlichen Bedeutung von verantwortungslos, gewissenlos. Im Italienischen ist inconscio das gebräuchlichere Wort für unbewußt; der Leser war durch eine Vielzahl von Indizien, die ihm der Text schon vor dem zweideutigen Wort geboten hatte, dazu geführt worden, die falsche Variante zu wählen, denn ihm bietet sich — rückübersetzt — in etwa der folgende Text dar:


[ .] offenbar ist das alles also notwendig, gehört zu deinem tiefsten Ich, und wie das stumme Tun der Tiere bist du vom Morgen bis zum Abend ununterbrochen in Bewegung; mit unzähligen kleinen verantwortungslosen Gesten, über die du dir keine Rechenschaft ablegst, tauchst du in einen immensen Raum, in dem dich nie ein Hauch von mir erreicht hat.


Die Interpretation wird also von einem Punkt aus dominiert, von einer schwer verständlichen Stelle, oder von einer Stelle, die bei der Übersetzung in eine bestimmte Sprache besondere Schwierigkeiten bereitet — oft ist es auch nur die spontane Interpretation, die den Wortlaut des Textes von Grund auf verändert, wenn nämlich die vom Leser gewählte Sinnvariante (die für den Text den Status einer innovativen Variante hat), das Gefüge des Textsinnes verändert, da sie, auf den Text ausstrahlend, den zu ihr kompatiblen Kontext selbst schafft.

Der Kardinalfehler, um den die Neuorganisation der Textbedeutung in der italienischen Musil-Übersetzung von Anita Rho rotiert, liegt in der Hypostasierung des Erzählers — jener traditionellen Figur, deren Fehlen Musils Texte .....

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