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Seminararbeit
Soziologie

Goethe Universität Frankfurt

1,0, Ruokonnen, 2009

Monique K. ©
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ID# 58202







Hausarbeit


Transdifferenz –


ein angemessener Umgang mit binären Oppositionen?!


Hauptseminar Soziologie:

„Sozial- und kulturwissenschaftliche

Konzeptionen von Identitäten und Zugehörigkeiten im Zeitalter

der Globalisierung“ im Wintersemester 2008/09


Inhaltsverzeichnis


Einleitung 3


1. Sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurse 4


1.1. Auseinandersetzung mit Identität und Differenz im postkolonialen Kontext 6


2. Das Konzept der Transdifferenz 8


2.1. Der Entstehungskontext des Transdifferenzbegriffs 9


2.2. Zur Definition von Transdifferenz 9


2.3. Beispiel für die Anwendung desTransdifferenzkonzepts 11


3. Die Verankerung binärer Denkstrukturen im menschlichen

Geist nach Lévi-Strauss' strukturalistischen Denkansätzen 14


3.1. Jaques Derridas' Dekonstruktivismus 16


4. Das Hybriditätskonzept: eine kurze Darstellung 17


4.1. Gegenüberstellung von Hybridität und Transdifferenz 19


5. Fazit 20


6. Literaturverzeichnis 22


Einleitung


Im Kontext meiner Frage „Transdifferenz – ein angemessener Umgang mit binären Oppositionen?“ möchte ich in dieser Arbeit das Transdifferenz-Konzept und seine Besonderheiten vorstellen.

Das Konzept versucht wie andere Hybriditätsansätze Differenzen und Zonen der Unbestimmtheit sichtbar zu machen. Es hebt sich jedoch klar von seinen verschwisterten Hybriditätsansätzen in seinem Umgang mit Grenzen ab: Es versucht diese nicht aufzulösen, da Transdifferenz nicht ohne Differenzen existieren kann.

Differenzen werden durch transdifferente Positionen sichtbar gemacht und lediglich temporär ins Oszillieren gebracht.

Anhand der strukturalistischen Ansätze von Claude Lévi-Strauss, möchte ich zeigen, dass ein Vesuch, Grenzen aufzulösen zwecklos ist, da der menschliche Geist prädestiniert ist, in binären Oppositionen zu denken.

Auch Jaques Derrida zeigt mit seinen dekonstruktivistischen Ansätzen, wie verankert Differenzen in den westlichen Kulturtraditionen sind.

Meiner Meinung nach setzt Transdifferenz an der richtigen Stelle an, Differenzen nicht auflösen zu wollen, sondern sie durch transdifferente Positionen zu komplementieren, um somit angemessen Phänomene zu beschreiben und zu analysieren, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können.


Im ersten Punkt möchte ich den Transdifferenzbegriff in seinem Kontext verorten und dabei auf die drei Hauptdiskursebenen über Identität in den Sozialwissenschaften eingehen: Der erste Diskurs setzt sich mit Identität in Verknüpfung mit Kultur und Bedeutung auseinander, der Zweite behandelt Identität in Bezug auf Moderne und Haltung und der dritte Diskurs schließlich behandelt Identität in enger Verknüpfung mit Differenz.

Auf diesen letzten Diskurs werde ich ausführlicher eingehen, da hier der Transdifferenz-Ansatz seine Anwendung findet.

Unter Punkt Zwei werde ich dann eine Definition des Begriffes geben und seine geschichtliche Entstehung abhandeln.

Danach folgt ein Beispiel für die Anwendung des Transdifferenz-Konzepts, wobei ich hoffe veranschaulichen zu können, wie wichtig das Verständnis ist, dass man kulturelle und soziale Differenzen nicht einfach verwischen oder auflösen kann.

In Punkt Drei möchte ich anhand der groben Skizzierung der strukturalistischen Ansätze von Claude Lévi-Strauss und den poststrukturalistischen Ansätzen des Philosophen Jaques Derrida ausführlicher darauf eingehen, warum ich der Auffassung bin, dass Hybriditätsansätze, welche das Ziel formulieren, Grenzen aufzulösen, häufig nicht für angemessen in der praktischen Umsetzung halte.

Unter Punkt Vier werde ich anhand einer kurzen Darstellung des Hybriditätskonzepts und einer darauf folgenden Gegenüberstellung mit dem Transdifferenz-Ansatz zeigen, dass es verschiedene Formen gibt, mit Differenzen umzugehen und hier nochmals die Besonderheit des Transdifferenzkonzepts hervorheben.

Abschließend möchte ich im Fazit meine eigene Meinung darlegen und somit die Arbeit abschließen.


1. Sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurse


Um den Transdifferenz-Ansatz verständlich zu machen, scheint es mir wichtig, ihn zuerst einmal in seinem sozial- und kulturwissenschaftlichen Hintergrund zu verorten und diesen Kontext zu beleuchten.

Der Transdifferenz-Ansatz ist eingebettet in die sozial- und kulturwissenschaftliche Debatte, welche sich mit Identität auseinandersetzt, genauer mit dem Diskurs über Identität und Differenz.

Obwohl mir eine tiefergehende Darlegung der Identitätsdebatten hier nicht möglich erscheint, möchte ich sie doch wenigstens in ihren groben Zügen darstellen, um sie zu der hier wichtigen Debatte von Identität und Differenz hinleiten zu können.

Bei dieser Erläuterung beziehe ich mich vornehmlich auf die Ausführungen von Peter Wagner in seinem Text „Fest-Stellungen“.1

Laut Wagner gibt es in den Sozialwissenschaften drei Diskurse über Identität, die sich klar voneinander unterscheiden, da ihnen verschiedene Fragestellungen zugrunde liegen. Jedoch weisen sie auch viele Schnittpunkte auf.

Der erste Diskurs setzt sich mit Identität in Verknüpfung mit Kultur und Bedeutung auseinander, der Zweite behandelt Identität in Bezug auf Moderne und Handlung und letzterer schließlich, der für diese Hausarbeit bedeutungsvoll ist, debattiert Identität in engem Zusammenhang mit Differenz.

Beim ersten Diskurs steht die Frage der normativen Integration von Gesellschaften im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Diskursen, die in ihren Ansätzen davon ausgingen, dass das soziale Leben bzw. der Mensch durch seine Rollen und Interessen innerhalb determinierter Strukturen gelenkt sei, wird das soziale Leben bei diesem Diskurs mit Bedeutungen und Werten interpretiert.

Bei der Auseinandersetzung wird aber noch nicht nach dem Individuum gefragt, sondern nur nach identitätsschaffenden Gemeinsamkeiten der Menschen. Obwohl bei genauerer Betrachtung die Gemeinsamkeiten in den Hintergrund verschwinden und die Unterschiede zu Anderen in den Vordergrund gestellt werden.

Die zweite Diskursebene konzentriert sich auf die Möglichkeiten und Bedingungen der Herausbildung personaler Identität. Während also der davor beschriebene Diskurs sich auf kulturwissenschaftlicher, gesellschaftlicher Basis mit Identität auseinandersetzt, befasst sich dieser Ansatz mit der personalen Identität und stellt den Menschen als Individuum in das Zentrum des Diskurses.

Die Verknüpfung mit der Moderne rührt daher, dass in diesem Denken die stabile, essentielle Identität nur bei Menschen der Moderne als möglich angesehen wird.

Modern bedeutet hier, dass der Mensch seine Identität selbst konstruiert, im Gegensatz zum Menschen in primitiven Gesellschaften, die ihre Identität eben nicht selbst konstruieren, da sie nicht über eine solche Form des Bewusstseins über sich selbst verfügen.

Identität wird hier - sobald einmal herausgebildet - als grundlegend stabil angesehen und ist von Kontinuität und Kohärenz gekennzeichnet.

Dieser Ansatz geht auf das Catesianische Subjekt zurück, welches auf der Philosophie von René Descartes beruht.


.


1.1 Auseinandersetzung mit Identität und Differenz im postkolonialen Kontext


Die dritte Diskursebene, welche ich hier ausführlicher darstellen möchte, da hier der Transdifferenz-Ansatz seine Anwendung findet, stellt eine sehr kritische Sichtweise dar, die die vorangegangenen Diskurse grundlegend in Frage stellt.

Im Allgemeinen problematisiert diese Diskursebene die negativen Effekte, die essentielle Identitätsvorstellungen im Sinne des Cartesianischen Subjekts mit sich bringen.

Kritisiert wird hierbei die essentialistische Darstellung des Subjekts als einheitliche abgeschlossene und selbstidentische Kategorie. Durch diese festen Kategorien werden Ausschluss- und Herrschaftsmechanismen reproduziert und Differenzen systematisch ausgeblendet3.


Durch die Identität ergibt sich die Positionierung des Individuums in der Gesellschaft, wobei Identität als ein Zusammenspiel von persönlicher und sozialer Identität angesehen wird.

Gesellschaftliche Differenzen, wie beispielsweise Geschlecht, Rasse, Klasse oder Sexualität werden hier als Strukturkategorien angesehen, die in die Identität eingeschrieben sind. 4

Durch die ungleiche Verteilung dieser Differenzen werden gesellschaftliche Machtpositionen legitimiert und die Konstruktion des „Differenten“ lässt Ungleichbehandlung zu.

Denn Identität wird erst durch das Aufeinandertreffen mit dem Anderen konstruiert und entsteht durch die Abgrenzung zu dem Anderen.

Das Andere zum Anderen zu machen, wird bei den Identität/Differenz-Ansätzen als Teil der hierarchisierten Binaritäten der westlichen Kulturtradition entlarvt.

Durch diesen Ansatz wird die sogenannte Krise der Identitätsdebatte hervorgerufen, da die Identität des Subjekts hier nicht als selbstidentisch und stabil verstanden wird, sondern sich durch das Aufeinandertreffen mit dem Differenten immer wieder neu konstruiert.

Die soziale Identifikation mit einer Gruppe die beispielsweise auf Geschlecht, Rasse oder Sexualtität beruht, ergibt sich aus binären Systemen, wie „Wir versus die Anderen“, also durch die Abgrenzung zu dem Anderem.5

Der Diskurs über Identität und Differenz kommt ursprünglich aus den Postcolonial-Studies, die sich mit binären Oppositionsstrukturen, bzw. dem „Othering“ auseinandersetzen, wie beispielsweise „Moderne“ versus „Traditionale Gesellschaften“, „entwickelte“ versus „unterentwickelte Länder“, „Osten“ versus „Westen“, „Norden“ versus „Süden“,etc.

Durch die Kenntlichmachung dieser binären Oppositionspaare, werden sie als eurozentristische Denkweisen angeprangert und als Herrschaftsdiskurs kritisiert.

Es werden Differenzen sichtbar gemacht, um gegen gesellschaftliche Diskriminierungen vorzugehen. Alle Ansätze im Diskurs über Identität und Differenz sind herrschaftskritisch ausgelegt.

Sie stellen identitätslogische Konstruktionen von Differenz und Andersheit in Frage und machen die dadurch entstehenden Marginalisierungen oder aber auch Exotisierungen und Ikonisierungen sichtbar.6


Festzuhalten ist der grundlegende Gedanke, dass jede Epoche neue Fragen aufwirft, die neue zeitgemäße Antworten benötigen.

Auch wenn Globalisierung schon immer stattgefunden hat bzw. der Austausch der Kulturen, durch den die Kulturen überhaupt erst entstanden sind, ist das Besondere an unserer Zeit, dass der Kulturaustausch in sehr kurzer Zeit an sehr enormen Zuwachs gewonnen hat.

Klarer wurde dadurch, dass Kulturen nicht mehr als abgrenzbare autonome Einheiten aufgefasst werden können, sondern vielmehr, wie ich oben bereits erwähnt habe, durch den Kontakt mit anderen Kulturen entstehen, durch Formulierung von Grenzen bzw. Abgrenzung zu anderen Kulturen.

Vielmehr werden Austauschphänomene, Verschiebungen der Differenzen und das Aufscheinen eines „Dritten“ sichtbar und stehen im Vordergrund der sozialwissenschaftlichen Diskurse.7

Die Bedeutung von Differenz ist stark in den Vordergrund gedrungen: Differenzsetzungen werden auf ihren Macht- und Herrschaftsgehalt abgeklopft und identitäre Politikkonzepte werden in Frage gestellt.

Alte Erklärungsmodelle von Gesellschaft und somit auch in diesem Falle Modelle von essentieller Identität werden verworfen, da sie die Sachverhalte nicht mehr angemessen erklären können und somit für empirische Umsetzungen irreführend und unbrauchbar sind.

In diesem Kontext möchte ich nun im nächsten Punkt den Transdifferenz-Ansatz beschreiben.


2. Das Konzept der Transdifferenz


Wie oben dargelegt, wird im Identität/Differenz-Diskurs versucht offen zu legen, dass Differenzsetzungen auf Machtkonstellationen und Herrschaftsinteressen zurück zu führen sind, die es zu überwinden gilt. Diese Überwindung kann durch eine neue Verortung der Kultur in einem Zwischenraum, der eben solche Machtkonstellationen und Herrschaftsinteressen zurückweist, geschehen.8

Der Transdifferenz-Ansatz hingegen versucht mit den Grenzen und Differenzen zu arbeiten.

In den strukturalistischen Ansätzen Lévi-Strauss, welche ich in den Aussagen hinsichtlich binärer Denksysteme unterstütze, wird davon ausgegangen, dass Differenzen nicht aufgelöst werden können, da das menschliche Denken bereits selbst nach binären Strukturen bzw. Differenzsetzungen funktioniert.9

Es wäre also utopisch zu versuchen, Differenzen welche hier als binäre Oppositionen verstanden werden, unsichtbar machen zu wollen.

Deshalb setzt meiner Meinung der Transdifferenz an der richtigen Stelle an, Differenzen nicht auflösen zu wollen, sondern sie durch Transdifferenz zu komplementieren, um somit Phänomene zu beschreiben und zu anlysieren, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können.10

Bevor ich mich jedoch der Definition von Transdifferenz widme, möchte ich noch einmal kurz auf die Entstehungsgeschichte des Konzepts eingehen.


2.1 Der Entstehungskontext des Transdifferenz-Begriffes


Das Konzept der Transdifferenz ist noch ein recht junges und geht aus dem Graduiertenkolleg „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hervor.

Dabei war noch nicht klar und das ist es bis heute nicht, ob es sich bei Transdifferenz um einen Begriff, ein Phänomen oder tatsächlich um ein Konzept handelt. Der Ansatz befindet sich noch im Aufbau und verlangt weiterhin noch an vielerlei Präzisierung.

Das Graduiertenkolleg sollte unter dem Motto entstehen, Sichtweisen zu entwickeln, die die Funktionen binären Differenz-Denkens aufgreifen, aber auch um neue Ansätze zu unterbreiten, welche Zwischenpositionen also Unsicherheiten, Unreinheiten, Figuren des Dritten behandeln. Viele Hybriditätsbegriffe kritisierten die Teilnehmer des Graduiertenkollegs immer mehr und so kam es zu Entstehung des Begriffes Transdifferenz, der von Helmbrecht Breinig ins Leben gerufen wurde.

So startete das Graduiertenkolleg im Jahre 2001 seine Forschungen im Rahmen der Differenz und Transdifferenz- Ansätze.11


2.2 Zur Definition von Transdifferenz:


Klaus Lösch beschreibt Transdifferenz „als ein analytisches Konzept […] das es ermöglicht, Phänomene zu untersuchen und zu beschreiben, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können.“12

Obwohl Transdifferenz ein Konzept neben anderen kulturtheoretischen Konzepten darstellt, welche sich allesamt mit kulturellen Differenzen, Überlagerungen und/oder Mischungen beschäftigen, lautete die anfängliche Definition des Konzeptes wie folgt:


„Heuristically speaking, transdifference is an umbrella concept that allows us to inspect phenomena that do not neatly fit models of clear-cut difference, thus defying – at least to a certain extent – explanation on the basis of binary logic. […] Transdifference can be seen as a part of the wide range of phenomena of non-linearity that has come increasingly under investigation in recent times“.14


Die Definition von Transdifferenz als ein „umbrella concept“ wurde wieder verworfen.

Mit der Erhebung des Begriffs als „umbrella concept“, also als ein Oberbegriff für verschiedene Hybriditätsbegriffe, würde der Begriff an seiner Trennschärfe verlieren, nämlich das er im Gegensatz zu allen anderen Konzepten, die Grenzen als unauflöslich bzw. nur als temporär auflöslich anerkennt.

Jedoch das Besondere liegt darin, dass der Transdifferenz-Ansatz auf zweiter Ebene an der Bedeutung von Grenzen festhält, welche durch Transdifferenz immer wieder neu rekonstuiert werden können.15

Gerade diese zweite Ebene ist für diese Arbeit von hoher Bedeutung, da ich aufzeigen möchte, dass es tatsächlich unmöglich ist, binäre Oppostionen, also Differenzen aufzulösen.

Dazu werde ich später auf die strukturalistischen Ansätze von Jaques Derrida und Lévi-Strauss eingehen, die sich beide auf strukturlinguistischen Denkansätzen berufen und diese auf die Sozialwissenschaften weiter anwendbar machen.

Zuerst möchte ich jedoch den Sachverhalt der Unmöglichkeit der Grenzauflösung hier an einem Beispiel augenscheinlicher illustrieren. Ein Beispiel, welches Benjamin Vauteck in seinem Text „Transdifferenz als Dissens in der Differenz: Das Beispiel von kanadischen Ureinwohnergruppen“ beschreibt.16


2.3 Beispiel für die Anwendung des Transdifferenz-Konzepts


Die Ureinwohner Kanadas bezeichnen sich selbst als „First Nation“ und machen sich deshalb auch bestimmte Sonderrechte geltend, für die sie lange Zeit gekämpft haben.

Die kanadischen Ureinwohner leben in Reservaten, die sie kollektiv mit allen Stammes-Angehörigen verwalten und die von einer eigenen Ureinwohnerbehörde kontrolliert werden. Kollektiv aus dem Grund, da somit unter Anderem vermieden werden kann, dass das Land doch auf irgend einem Wege in die Hände von „Weißen“ gelangen kann.

Weiterhin wird den kanadischen Ureinwohnern eine Praxis erlaubt, die sie selbst als „healing“ bezeichnen, um mit Straftätern gemäß ihrer kulturellen Traditionen umzugehen.

Dabei werden Straftäter nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in einem „healing circle“ zur Rede gestellt, um sie dann unter bestimmten Bedingungen so schnell wie möglich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren.

Das Erb- und Statusrecht, also kollektive Landverteilung und eigene Bestrafungsregelungen, werden oft als grundlegende Basis für die Abgrenzung gegenüber den Weißen gesehen und als Basis für die Überlebensfähigkeit der Ureinwohnerkultur.

Es besteht außerdem die Angst, dass wenn diese Erb- und Statusrechte nicht aufrecht erhalten blieben, es zu einer Assimilation der Ureinwohner durch die „Weißen“ kommen könnte.

Kanadische Ureinwohnerinnen protestierten gegen das Erb- und Statusrecht, da es nur eine männliche Erbfolge vorsah, so dass Frauen, die beispielsweise eine „Weißen“ heirateten, ihrer Rechte enteignet wurden, während umgekehrt Männer, die „weiße“ Frauen heirateten, ihre Rechte behielten und sogar die „weißen“ Frauen in den Genuss der Ureinwohnerrechte kamen.

Zweitens protestierten Ureinwohnerinnen gegen das traditionelle Strafrecht, da zum Beispiel für Vergewaltiger nur eine milde Strafe verhängt wurde und die Frauen gezwungen waren, mit ihren Vergewaltigern weiterhin in einer Gruppe zu leben.

Bei den Protesten beriefen sich die kanadischen Ureinwohnerinnen auf ihre individuellen Grundrechte, die allen Kanadiern zustehen, somit auch den Ureinwohnern.

Obwohl sie ihre kollektiven Rechte nicht aufgeben wollten, sondern sie lediglich verändern wollten, versuchten sie deutlich zu machen, dass die individuellen Grundrechte als Kanadierinnen einen höheren Stellenwert einnehmen, als die kollektiven Ureinwohnerrechte.

Zwar war es nicht ihr Ziel kulturelle Demarkationslinien zu dekonstruieren, bzw. die kollektiven Rechte der Ureinwohner aufzuheben. Sie verlangten lediglich eine Veränderung ihrer Kultur.

Sie begaben sich also nur zeitweise zwischen die Grenzen, in den Zwischenraum, den man hier als transdifferente Position bezeichnen kann, um sich für eine Neuverhandlung der Differenzen einzusetzen. Sie sind in diesem Moment temporäre Grenzgängerinnen, die die Differenzen nur für einen kurzen Zeitraum auflösen, um sich für eine Veränderung der Differenzen einzusetzen, dann aber so bald wie möglich wieder in ihren bekannten kulturellen Kontext zurückkehren zu können.

Der Akt der Neuverhandlung symbolisiert hier den Ort der Transdifferenz.

Leider ergaben die Proteste kein positives Ergebnis für die kanadischen Ureinwohnerinnen. Entweder wurden sie dazu gezwungen sich mit ihrer nachteiligen Lage abzufinden, oder sie sollten die Reservate verlassen.

Natürlich hatte die Ureinwohnerbehörde große Angst, durch solche Protestaktionen ihre Sonderrechte zu verlieren, was ein Verschwinden ihrer Kultur durch Assimilation der „Weißen“ mit sich bringen würde.

Auch wenn das Beispiel kein positives Ergebnis hat, zeigt sich hier das Potential des Transdifferenz-Konzepts.

Mit Hilfe der Transdifferenz, können Situationen wie diese hier, wobei es sich um komplexe, miteinander verwobene kulturelle Grenzziehungen handelt, klarer beschrieben werden und ein unangemessener Umgang mit diesen Problemfeldern kann durch sie verhindert werden.

Es kann eine Alternative zur „Entweder-Oder-Logik“ unterbreiten, die von allen Seiten akzeptiert werden könnte: Es vermeidet die radikale Dekonstruktion von Grenzen. In diesem Falle würde das die Angst der Ureinwohnergruppe um die Auflösung ihre Sonderrechte bzw. ihrer Kultur besänftigen und auf der anderen Seite kommt es nur zu einer partiellen, temporären Dekonstruktion von Differenzen, wobei es den Ureinwohnerinnen zu gute kommt, die kein Interesse haben, eine Sphäre zwischen den Kulturen längerfristig aufzubauen, um in dieser zu leben, sondern diese Sphäre nur temporär erzeugen wollen, um diese als Ort der Neuverhandlung über ihre Kultur zu nutzen.


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