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Heinrich-Heine Universität Düsseldorf

Interpretationskonflikte am Beispiel von Adalbert von Chamissos "Peter Schlemihl"

Thomas Manns Essay „Chamisso“

Inhaltsverzeichnis

Die kognitive Hermeneutik als Literaturtheorie. 1

Die kognitive Hermeneutik angewendet auf  Thomas Manns Essay Chamisso. 6

Fazit11

Literaturverzeichnis. 12

Die kognitive Hermeneutik als Literaturtheorie

Die kognitive Hermeneutik ist eine Interpretationstheorie, die sich mit dem Verstehen und der „Interpretation von Texten, mündlicher Rede und anderen Phänomenen – z.B. Gemälden, Filmen, Denkmälern – befasst“. Diese Interpretationstheorie will den Anwender anleiten, primär Literatur kritisch zu betrachten und textwissenschaftlich mit Primär- und Sekundärliteratur umzugehen.

„Kognition“ als ein uneinheitlich verwendeter Begriff soll in diesem Zusammenhang mit „die Erkenntnis betreffend“ übersetzt werden, „Hermeneutik“ (von griech.ἑρμηνεύεινhermēneuein mit den Bedeutungen: (Gedanken) „ausdrücken“, (etwas) „interpretieren“, „übersetzen“) wird ähnlich der angeführten Definition verstanden, nur spezieller in Hinsicht auf die Interpretation von Literatur.

Aufgrund des Ansatzes, dass die kognitive Hermeneutik eine Theorie ist, die zu einem breiteren oder besser wissenschaftlicheren Verständnis von Texten führen soll, bieten sich zwei grundlegende Zugangsarten zu einem Text an.

Der aneignende Textzugang oder die aneignende Interpretation liegt vor, wenn ein Leser/Autor der Frage folgt „was sagt mir oder uns der Text“ bzw. „Welchen Nutzen bringt mir oder uns dieser Text“. Übertragen auf eine reale Begebenheit könnte dies schon das Lesen eines Kriminalromans aufgrund einer Affinität für dieses Genre sein.  Das Lesen eines Erziehungsratgebers wäre ebenfalls ein aneignender Textzugang, denn der Leser zieht aus dem Text praktische Ratschläge zur Bewältigung eines ihm vorliegenden realen Problems.

Der aneignende Textzugang kann aber auch genutzt werden, um eine eigene Theorie (beispielsweise wissenschaftlicher oder philosophischer Natur) mit Hilfe schon da gewesener Gedanken zu stützen oder zu untermauern.

Der zweite Zugang zu einem Text ist von kognitiver Beschaffenheit. Diese Arbeit an einem Text lässt sich wiederum in zwei Ebenen aufteilen. Der erste Schritt folgt der Leitfrage „Wie ist der Text beschaffen“, wohingegen der zweite Schritt zu der Frage führt „Worauf ist es zurückzuführen, dass der Text die festgestellte Beschaffenheit aufweist“[1] oder einfacher ausgedrückt: „Wie kommt es, dass der Text so ist wie er ist“[2].

Während der erste Schritt eine Art Feststellung der vorhandenen Fakten darstellt, bietet die zweite Frage bereits einen interpretatorischen Ansatz zur weiterführenden Auseinandersetzung mit der gewählten Literatur.

Beim Vergleich der beiden Zugänge fällt schnell auf, wie unterschiedlich die Herangehensweise an einen Text sein kann. Zwischen dem Lesen eines Kriminalromans oder Ratgebers zur Unterhaltung oder um Ratschläge einzuholen und einer textwissenschaftlichen Fragestellung wie zum Beispiel„Wie kommt es, dass der Text so ist wie er ist“[3] liegen Welten über die sich jeder, der konkrete Textarbeit betreiben möchte, im Klaren sein sollte.

Denn reflektiertes Arbeiten mit einem Text ist immer nur dann möglich, wenn der Textwissenschaftler selbst erkennt, zu welchem Zeitpunkt er Literatur aneignend liestoder bearbeitet und wann er kognitiv vorgeht. Da häufig beide Zugangsarten nützlich sind um einen Text in seiner Fülle zu erschließen muss deutlich getrennt werden an welchen Stellen, wie gearbeitet wurde.

Nur so ist eine wissenschaftliche Leistung möglich.

Die Unterscheidung zwischen einem aneignenden und einem kognitiven Textzugang sollte aber nicht nur auf die eigene Lesart von Texten übertragen werden, sondern kann auch, auf bestehende Arbeiten anderer Wissenschaftler angewendet, zu neuen Erkenntnissen führen. Da viele Textwissenschaftler die Unterscheidung zwischen den beiden Zugangsarten nicht kennen, oder trotz der Kenntnis für ihre persönliche Arbeit ignorieren, sind sowohl Primärtexte wie auch vor allem Sekundärtexte gespickt von der Vermengung zwischen aneignenden und kognitiven Erkenntnissen.

Die kognitive Hermeneutik ist also ein Instrument um herauszufiltern welche Teile einer Arbeit welchem Textzugang zuzuordnen sind. Um noch differenzierter vorgehen zu können empfiehlt es sich, den aneignenden Textzugang noch in die Bereiche offene Form und verdeckte Form zu unterscheiden. Die offene Form des aneignenden Interpretierens lässt sich so beschreiben, dass Teile des vorliegenden Textes sowohl aneignende, wie auch kognitive Erkenntni.....

Da nun mit Hilfe der kognitiven Hermeneutik ein Bündel von Fragen an einen Text gestellt werden, müssen auch die Antworten betrachtet werden. Die Antworten die ein literarischer Text geben kann, sind streng betrachtet wissenschaftliche Erklärungen des Interpreten. Da Erklärungen aber auch das Risiko bergen einseitig auszufallen, muss der Begriff Erklärung differenziert betrachtet werden.

Auch im Alltag werden Erklärungen zur Hilfe genommen, um Antworten auf Fragen zu interpretieren. In diesem Falle begnügt man sich häufig mit der Erklärung, die in der spezifischen Situation am wahrscheinlichsten ist. Da diese Vorgehensweise nicht wissenschaftlich ist, braucht die kognitive Hermeneutik Abstufungen von Erklärungen und unterschiedliche Erklärungstypen, um den Thesen eines literarischen Textes gerecht zu werden.

Wird nun die Argumentation eines Autoren wissenschaftlich untersucht, so ist der Interpret stets gewillt eine möglichst vollständige Erklärung für das vorliegende Phänomen zu geben. Es ist also sinnvoll einen ersten Erklärungsversuch auf einer vorwissenschaftlichen Ebene anzusiedeln, während eine wissenschaftliche Erklärung dann die eigentliche Erkenntnisleistung darstellt.

Desweiteren empfiehlt sich eine Unterscheidung von Erklärungstypen hinsichtlich  der Tatsache, ob ein einzelnes Phänomen eines literarischen Textes Gegenstand der Untersuchung ist oder ob eine Gruppe von Phänomenen auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten hin untersucht wird. Für die kognitive Hermeneutik bedeutet dies, dass das kognitive Interpretieren eines Textes eine Erklärungsleistung darstellt, eine Opposition zwischen „vor allem naturwissenschaftlichem) Erklären und (geisteswissenschaftlichem) Verstehen“[7] ist also hinfällig.

Ein weiterer Punkt, in dem sich die kognitive Hermeneutik von anderen literaturwissenschaftlichen Theorien unterscheidet, ist der Umgang mit dem Autor eines Textes. Im Gegensatz zu vielen Literaturtheorien behauptet die kognitive Hermeneutik, dass eine der Kernfragen der Interpretation „Wie kommt es, dass der Text so ist wie er ist“[8] sich nur dann befriedigend beantworten lässt, wenn man auch die Frage nach der Intention des Autors stellt.

Ausgehend vom Autorintentionalismus, dessen Existenz von einigen Literaturtheorien bei der Analyse berücksichtigt wird, schlägt die kognitive Hermeneutik eine Theorie der textprägenden Instanzen vor, zu denen sie auch die Autorabsichten zählt. Dieses erfahrungswissenschaftlich geprägte Modell begreift die kognitive Hermeneutik als eine Weiterentwicklung des verbreiteten Autorintentionalismus, nicht aber als dessen Ablehnung.

Auch der Begriff von Textsinn bzw. Textbedeutung soll an dieser Stelle aus der Sicht der kognitiven Hermeneutik kurz erklärt werden. Entweder man folgt der Vorstellung, dass der Sinn des Textes durch die Rezeption desselben gebildet wird (Sinn-Subjektivismus), oder man geht davon aus, dass der Textsinn bereits im Text enthalten ist (Sinn-Objektivismus).

Die kognitive Hermeneutik orientiert sich an der zweiten Idee und führt dazu noch zwei differenzierende Thesen an.

Die erste These umfasst den Gedanken, dass in jedem Roman eine Textwelt  mit Textfiguren erschaffen wird. Alles was zu dieser Textwelt hinzuzählt, nennt die kognitive Hermeneutik Textwelt-Sinn[9]und der eigentliche Sinn dieser Textwelt ist ein objektiver, bereits im Text enthaltener Sinn. Aufgabe des Rezipienten ist es, den Sinn eines Textes, also die Textwelt mit Hilfe von Imagination derselben, vollständig zu erfassen.

Die zweite These beschreibt die Prägung eines Textes durch Instanzen. Die Prägung geht hierbei soweit, dass die Instanzen den Text erst überhaupt zu dem gemacht haben, was er ist. Diese Tatsache nennt sich Prägungs-Sinn[10], ebenfalls ein objektiver, im Text enthaltener Sinn. Zusammenfassen betrachtet ist ein literarischer Text so wie er ist, weil die Absichten und Ideen des Autors im Text fest verankert sind und nicht vom Rezipienten hineingelesen werden.

Das Begreifen und Erkennen von Textwelt und Prägungssinn sind ein Vorgang, welcher durch das häufige aneignende Vorgehen der Rezipienten nicht sofort beherrscht wird, sondern mit einigem Arbeitsauf.....

„Französische Lieder erklangen an seiner Wiege. Die Luft, das Wasser, die Kost Frankreichs bildeten seinen Körper, der Rhythmus der französischen Sprache trug alle seine Gedanken und Empfindungen, bis er halbwüchsig war."[12]

Mann betont, wie schwer diese Versetzung in ein fremdes Volk und eine fremde Sprache gewesen sein muss, besonders in der Hinsicht, dass bereits in dem sehr jungen Chamisso ein Dichter heranreifte der nun die „tiefe Vertrautheit“[13] und die „letzten Feinheiten und Heimlichkeiten“[14] die er im Französischen kannte auch in der deutschen Sprache für sich entdecken musste.

Gerade in diesen Passagen des Essays kann man Manns Mitgefühl herauslesen, welches seine Interpretation maßgeblich beeinflusst. Er kommt aber nicht sogleich zu dem Schluss, Chamisso hätte unter der Umsiedelung in so großem Maße gelitten, dass der Schattenverlust in seiner wohl bekanntesten Novelle auf jeden Fall mit dem Vaterlandsverlust gleichzusetzen sei, nein, er führt sogar einige Textbeispiele an die zeigen sollen, dass sich Chamisso mehr und mehr als Deutscher fühlte.

„Ich glaube fast, ich sei ein Deutscher Dichter“[15]

Wirklich aussagekräftig sind diese Ausschnitte allerdings nicht, denn die Gleichsetzung „ein Dichter sein, das hieß beinahe schon ein Deutscher sein“[16]stammt von  Thomas Mann selbst.

In dem Essay folgt nun ein langer Abschnitt über Chamissos Leben und Wirken. Mann führt detailliert die einzelnen Stationen in Chamissos Leben auf, ohne diese allerdings bereits in irgendeiner Weise zu bewerten oder mit Werken Chamissos in Verbindung zu bringen. Erst als Mann auf die Entdeckungsreise zum Nordpol zu sprechen kommt und von Chamissos Heimkehr berichtet, wirken einige Aussagen Manns über Chamissos Gefühlsleben sogar aneignend-projektiv:

„Chamissos sanftes und anschlussbedürftiges Herz hatte gelitten unter dem Zweispalt doppelter Nationalität, unter der Unentschlossenheit, in welchem Boden er einst ruhen sich wünschen sollte: Die Wanderschaft ließ ihn erfahren, daß, wenn er Gedanken und Empfindungen >heimwärts< sandte, Deutschland es war, wohin er sie sandte; dass alle seine Neigungen und Hoffnungen, Sprache , Wissenschaft und Freundschaft ihn mit dieser Heimat verbanden und daß er durch Schicksalsfügung nun wirklich ganz und im Herzen ein Deutscher geworden sei.“[17]

Diese Gedanken Manns zu Chamissos Nationalgefühl stammen nicht von Mann selbst, sondern wohl ursprünglich von dem Herausgeber der zweibändigen Groteschen Chamisso Ausgabe und persönlichem Bekannten Chamissos, Wilhelm Rauschenbusch.[18] Mann macht weder für die Übernahme der Zitate Rauschenbuschs Angaben, noch vermerkt er, dass Chamisso selbst sich zu seinem Nationalgefühl nie derart aus.....

Er stellt sich also die Frage wie der ihm vorliegende Text generell beschaffen ist und leistet deskriptiv-feststellende Textarbeit.

„ [ .] man hat den >Schlemihl< ein Märchen, ja, indem man sich auf des Dichters lässige Erklärung berief, er habe ihn für die Kinder eines Freundes geschrieben, sogar ein Kindermärchen genannt. Er ist es nicht, ist, obgleich auf unbestimmtem Grund und Boden spielend, zu novellistischer Natur, bei allem grotesken Einschlag zu erst, zu modern-leidenschaftlich, um der Gattung des Märchens eingeordnet werden zu können“[21]

Thomas Mann wählt die Bezeichnung „Phantastische Novelle“[22], um sowohl die märchenhaften Elemente, wie auch den realistisch-bürgerlichen Kern der Geschichte in gleichem Maße zu erfassen. Nun folgt eine kurze Inhaltsangabe der Novelle, in welche Mann aber auch seine persönliche Meinung deutlich mit einfließen lässt und zu erwähnten Figuren und Begebenheiten sofort persönlich Stellung bezieht.

Eine Trennung von Beschreibung, Erklärung und Wertung liegt hier demnach nicht vor:

„Das der Lafontaine-Lektüre entstammende Motiv wird sogleich auf den ersten Seiten mit Glück verwandt durch die überaus diskrete Einführung des Grauen - [ .] Es ist der Teufel, und er ist vorzüglich gezeichnet [ .]“[23]

Ähnlich verfährt Mann bei der Bewertung des Schattenmotivs, nachdem er beschreibt wie der Graue den Schatten aufnimmt und Peter ohne Schatten auf die Straße tritt schreibt Mann:

„Wenn mir in der Sonne ein Mensch begegnete, der keinen Schatten würfe, - würde es mir auffallen? Und wenn es mir wirklich auffiele, würde ich nicht einfach im stillen auf irgendwelche mir unbekannte optische Ursachen schließen, die die Entstehung eines Schlagschattens in diesem Falle zufällig verhindern?“[24]

So stellt Mann zwar die Schattenlosigkeit bzw. die Reaktionen darauf persönlich in Frage (kennzeichnet aber auch deutlich, dass dies seine eigene Meinung ist), er sieht aber in dieser Unkontrollierbarkeit den eigentlichen Witz der Novelle. Es folgen weitere Ausführungen zum Inhalt der Novelle, in denen Mann seine individuelle Reaktion auf den Text ohne nähere Untersuchung der Reaktionsweisen anderer als allgemeingültig betrachtet.

Er vollzieht eine offen-a.....

„Aber alles ist neu beseelt, neu belebt, und ein so bewegter Ernst des Ausdrucks, ein solches Wahrheitsdetail herrschen hier, dass man die Phantastik der Vorraussetzungen völlig vergisst, dass auch der Dichter sie völlig vergessen zu haben scheint. Nirgends ist die Erzählung so wenig Märchen wie hier, nirgends so ganz Novelle [ .]“[29]

Der gesamte Absatz über die Liebe zwischen Peter und Mina liest sich bei Mann leicht und flüssig. Mann schwärmt „Man möchte nacherzählen, möchte den Finger auf jeden Absatz legen;“[30]und lässt sich von Chamissos Schreibkunst in den Bann ziehen. Durch diese aneignende Lesart trennt Mann erneut nicht klar zwischen seiner Interpretation und der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Außerdem nimmt er die eigene Reaktion auf den Text wieder für die allgemeine Leserschaft an. In der Äußerung „Nichts amüsanter als die Pointe“[31]stellt Mann einerseits eine Behauptung auf, die er als evident ausgibt, nimmt diese Behauptung für alle Leser der Passage an und seine Interpretation ist im gesamten Abschnitt einzig darauf ausgelegt, die positive Wirkung des Textes zu bestätigen.

Mann verfährt sicherlich nicht vorsätzlich auf diese Weise. Er ist von Chamisso in den Bann der Geschichte gezogen und es gelingt ihm an dieser Stelle nicht (oder er möchte es vielleicht auch gar nicht) Peter Schlemihls wundersame Geschichte auf einer abstrakteren Ebene zu betrachten.

Abgestimmt auf die Szenenfolge der Novelle fährt auch Mann in seiner Interpretation nun mit Peter Schlemihls Forschungsreisen in den Siebenmeilenstiefeln fort. Diese Forschungsreisen bezeichnet Mann als Ersatz für das bürgerliche Glück, welches Schlemihl aufgrund seines nicht vorhandenen Schlagschattens verwährt blieb. Mann meint, Chamisso gelänge es mit seinen geografisch höchst präzisen Angaben, die  eigentliche Phantastik der Reise mit den Siebenmeilenstiefeln in einen realistischen Kontext einzubetten.

Diese Hypothese stützt Mann, indem er auf die Verwendung der >Hemmschuhe< verweist, welche seiner Meinung nach dem ganzen Wunder der Reise eine bürgerliche Wirklichkeit verleihen. Doch diese Stützung seiner Hypothese ist nur kurz angerissen, näher geht Mann auf seine Argumentation nicht ein. Er fährt nun fort in einigen Sätze die Reisen des Peter Schlemihl zu umreißen und kommt dann zu dem Schluss, dass die Äußerung Schlemihls:

„Ich habe nur seitdem, was da hell und vollendet im Urbild vor mein inneres Auge trat, getreu mit stillem, strengen, unausgesetztem Fleiß darzustellen gesucht, und meine Selbstzufriedenheit hat von dem Zusammenfallen des Dargestellten mit dem Urbild abgehangen“[32]

An dieser Stelle fasst Mann nicht nur eigene Fragen an den Text zusammen, sondern zieht auch ein Resümee, welche Fragen im Zusammenhang mit der Novelle besonders häufig in der Literaturkritik behandelt wurden. Zuerst geht Mann auf die Frage der Schattenlosigkeit ein und führt an, dass die Kritiker zu großer Zahl in dem Schattenverlust den Vaterlandsverlust Chamissos gesehen haben.

Diese Meinung vertritt Mann nicht. Ihm ist diese eine Deutung für das gesamte Werk nicht umfassend genug. Mann drückt sich so aus, dass Chamisso ein so lebendiges Märchen nur zu schreiben in der Lage war, wenn er Weisheit und Erfahrung aus seinem Leben mit in das Werk einfließen ließ. Mann möchte sich aber vorerst nicht auf eine Deutung festlegen und zitiert stattdessen Chamissos selbstverfasstes Vorwort zur französischen Ausgabe von Peter Schlemihls wundersame Geschichte.

An das Ende dieses Vorwortes setzt Chamisso den Ausruf:

„Songez au solide!“[36]– „denket an das Solide!“. Thomas Mann hat den Ausruf als Ironie eines Schriftstellers verstanden, dem die bürgerliche Solidität lange gefehlt hat; das ist jedoch schon wieder eine sehr verschwommene und idealistische Vorstellung vom Schatten, der doch auf etwas Greifbarem beruht. Mann hat selbst erkannt, dass Chamisso kein Autor von gedanklichen Konstrukten ist:

„Der Schlemihl ist keine Allegorie, und Chamisso war nicht der Mann, dem etwas Geistiges, eine Idee jemals das Primäre bei seiner Produktion gewesen wäre.“[37]

Es verhält sich andersherum: Chamisso entwickelt keine Idee, sondern die faktischen Verhältnisse und beschreibt diese allegorisch. Der Schatten ist nach Meinung Manns also das Bewusstsein des gesellschaftlichen Seins, ob Chamisso dieser Meinung zugestimmt hätte ist fraglich, da er ja in dem erwähnten Vorwort schreibt:

„Gegenwärtige Geschichte ist in die Hände von besonnenen Leuten gefallen, die [ .] sich darüber beunruhigt haben, was denn wohl der Schatten bedeute. Mehrere haben darüber curiose Hypothesen aufgestellt; andere, indem sie mir die Ehre erwiesen, mich für gelehrter zu halten als ich es bin, haben sich an mich gewandt, um durch mich die Lösung ihrer Zweifel bewirkt zu sehen.“[38]

Nun sollte der Leser des Vorwortes natürlich auch nicht dem Autor „auf dem Leim gehen“ und wirklich vermuten der Schatten habe keine Bedeutung. Ich führe dieses Beispiel vor allem an um zu zeigen, dass Mann zuerst das französische Vorwort zitiert, was zum Inhalt hat, dass Chamisso dem Schatten keine besondere Bedeutung beimisst, um dann direkt im Anschluss doch eine Interpretatio.....


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