Tod in Venedig
Zeichen des Verfalls
Der Apolliniker Gustav von Aschenbach
Gustav von Aschenbach ist ein angesehener, berühmter
Schriftsteller, seine künstlerischen Leistungen haben ihm sogar einen
Adelstitel eingebracht. Er hat Größe, Würde und künstlerische Perfektion
erlangt.
„ Er war etwas unter Mittelgröße,
brünett, rasiert. Sein Kopf erschien ein wenig zu groß m Verhältnis zu der fast
zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel gelichtet, an
den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine hohe, zerklüftete und gleichsam
narbige Nase. Der Bügel einer Goldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in die
Wurzel der gedrungenen, edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß, oft
schlaff, oft plötzlich schmal und gespannt; die Wangenpartie mager und
gefurcht, das wohlausgebildete Kinn weich gespalten.“
Wie arbeitet Gustav von Aschenbach: Seine Werke erfordern
kontinuierliche, nervenaufreibende Arbeit, sein Körper, sein Geist und seine
Seele stehen unter permanenter Anstrengung. Dadurch werden seine Kräfte mehr
und mehr abgenutzt, ein chronisches Erschlaffen und eine chronische Müdigkeit
entstehen, die in einer Lebenskrise zu enden drohen.
Sein ganzes Leben ist auf das künstlerische Schaffen
ausgerichtet, so dass seine Existenz eingeschränkt ist. Zu dieser
anstrengenden, harten Lebensweise passt das Bild der „zusammengeballten Faust“.
Aschenbach ist ein Sklave im Dienste der Kunst. Sinnliche
Triebe und Regungen werden verdrängt, sie haben in der streng geregelten und
geordneten, von der Ratio beherrschten Welt Aschenbachs nichts zu suchen. Er
erkältet jedes Gefühl, Rauschgefühle sind ihm fremd, er verbietet sie sich.
Dadurch lebt er am eigentlichen Leben vorbei.
Die Lebensphilosophie Aschenbachs ist die folgende: der
Mensch der Grosses leisten will, muss gegen die eigene Schwäche und Müdigkeit
kämpfen, er muss ein Asket sein, und auf jegliche Freude und Lust verzichten,
koste es was es wolle.
Das Lieblingswort Aschenbachs ist gemäß seiner
Lebenseinstellung „Durchhalten“.
In Bezug aus Nietzsche gesehen, ist Aschenbach also
derjenige, der im apollinischen Schein lebt, an der Oberfläche des Seins, er
leugnet das wahre Sein hinter dem Schein, verdrängt seine Triebhaftigkeit und
jede Zweifel, täuscht sich und seine Leser, lebt im Maß und in der
Individuation und sieht seine Kunst als festes, unerschütterlichen Wert an, für
die zu kämpfen sein Hauptlebensinhalt ist.
Der Wandel des Gustav von Aschenbach
„ Der Tod in Venedig ist die Geschichte einer Reise
von München nach Venedig
aus der Ordnung ins Chaos
aus der Würde in die Würdelosigkeit
aus der Zucht in die Zucht- und Zügellosigkeit
aus der Unfreiheit in die Freiheit
aus dem Rationalen in das Irrationale
von Apoll zu Dionysos
aus dem engen, gegliederten Raum in das Weite und Bezuglose
aus dem Diesseits ins Jenseits
Es ist eine tragische Reise, denn Aschenbachs Untergang ist
unabwendbar. Seit seinem Spaziergang am Anfang bis hin zu seinem Tod, treten
immer wieder verschiedene Todes- und Dionysosboten auf. Diese Todesboten sind
Menschen, die in einer geheimnisvollen Beziehung zu stehen scheinen. Sie haben
alle ähnliche Auffälligkeiten in ihrer äußeren Erscheinung, die sie als
vorausdeutende Boten des Todes charakterisieren.
Es beginnt mit dem Wanderer auf dem Nordfriedhof, der
plötzlich verschwinden, der Matrose auf dem Schiff, der geschminkte Greis, der
als falscher Jüngling bezeichnet wird und mit seinem rötlichen Haar, der bunten
Kleidung und dem geschminktem Gesicht eine recht irritierende Gestalt abgibt, bis
hin zu dem Gondolieri, welcher man als Scharonfigur bezeichnen kann, mit seiner
brutalen und abwesenden Art, den Straßensängern und zuletzt, dem Todesboten
schlechthin Tadzio.
Weitere Todesmotive findet man schon in dem Nachnamen
Aschenbach, also Asche= Tod, die Gondel, die Aschenbach wie ein Sarg vorkommt,
die Flussüberfahrt, der Geruch der Stadt, die überreifen Erdbeeren, das Meer
und das Wetter.
Der strenge Rationalist und Apolliniker, müde des Denkens,
fühlt sich angezogen vom irrationalen, lustvollen, dionysischen Dasein und
kehrt seiner ehemaligen Existenz den Rücken zu.
Er steckt in einer Krise und ihn ergreift die Reiselust, die
zugleich auch eine Flucht ist.
„ein jugendlich durstiges
Verlangen in die Ferne“
Er beschließt nach Venedig zu reisen, jene Stadt die genauso
unstabil ist wie er, auf Pfählen steht und keinen festen Untergrund hat. Er
verlässt somit die Ordnung, Bürgerlichkeit, Abgeschiedenheit und somit alles
was ihm in seinem Leben einen festen Halt gegeben hat.
Mehrmals kommt ihm der Gedanken abzureisen, da ihm das Klima
nicht bekommt, doch mit der Begegnung mit Tadzio erreicht er seinen Höhe- und
Wendepunkt.
„ Mit Erstaunen merkte
Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war.“
Diese androgyne Gestalt Tadzios, mit seiner bleichen
Gesichtsfarbe, dem gekräuseltem Haar und den durchsichtigen Zähnen ist für ihn
die Verkörperung der Schönheit.
„ein langhaariger Knabe von
vielleicht vierzehn Jahren. Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von
honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen
Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische
Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so
einmalig persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch in bildender
Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.“
Er kann nun nicht mehr abreisen, sondern gibt offen zu, dass
er wegen Tadzio bleibt.
„Ich bleibe hier, solange du
bleibst.“
Ihn überkommt den unbändigen Drang zu schreiben, er will
die Gefühle und Leidenschaft die er in sich hat zu Papier bringen in der Nähe
von Tadzio.
„Nie hatte er die Lust des
Wortes süßer empfunden nie so gewusst dass Eros im Worte sei.“- „Und zwar ging
sein Verlangen dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den
Wuchs des Knaben um Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers
folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu
tragen.“
Von nun an lebt er nur noch in den Tag hinein, macht sich
keine Gedanken oder Pläne. Er tut alles um in Tadzios Nähe zu sein; er verfolgt
ihn und seine Familie heimlich und passt sich ihrem Tagesablauf an. Eines
Abends im Speisesaal kommt es dann zum Augenkontakt und Tadzio lächelt
Aschenbach an. Dieser ist erschrocken und entrüstet.
„Du darfst so nicht lächeln!
Höre, man darf so niemandem lächeln! Er warf sich auf eine Bank, er atmete
außer sich den nächtlichen Duft der Pflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden
Armen, überwältigt und mehrfach von Schauern überlaufen flüsterte e die
stehende Formel der Sehnsucht, - unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich
und heilig doch, ehrwürdig auch hier noch: Ich liebe dich!“
Er ist verloren, hat keine Kontrolle mehr, er kann nicht
mehr zurück und ist an Venedig gefesselt. Er verschweigt sein Wissen um die
Seuche, nur um zu verhindern, dass Tadzio abreist.
„dieses Geheimnis der Stadt,
das mit seinem eigensten Geheimnis verschmolz“
Trotz seinem körperlichen Verfall versucht er sie Fassade
krampfhaft zu bewahren. Er geht öfters zum Frisör, denn er möchte gefallen.
„Wie irgendein Liebender
wünschte er, zu gefallen und empfand bittere Angst, dass es nicht möglich sein
möchte. Er fügte seinem Anzuge jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er
legte Edelsteine an und benutzte Parfums, er brauchte mehrmals am Tage viel
Zeit für seine Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische.“
Ein letztes Mal beobachtet er Tadzio am Meer, dieser dreht
sich um und blickt über die Schulter zum Ufer. Minuten vergehen bis man
Aschenbach zur Hilfe kommt, doch es ist zu spät.