Textanalyse
„Vor dem Gesetz“ (Franz Kafka, 1915)
Die
Parabel „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka aus dem Jahre 1915
thematisiert die Entfaltung der menschlichen Existenz zwischen Recht,
Macht und Begehren und lässt wie die meisten Kafka-Parabeln
verschiedene Deutungsansätze zu.
Auf
der Bildebene wird beschrieben, wie ein Mann vom Lande Einlass in das
Gesetz erbittet und vom davorstehenden Türhüter abgewiesen wird. Da
der Eintritt in das Gesetz nach Aussage des Türhüters grundsätzlich
möglich sei, verbringt der Mann sein ganzes Leben mit sinnlosem
Warten und Hoffen und geht schließlich dem Tode entgegen, ohne
jemals einen Einblick in das Gesetz erhalten zu haben. Der Türhüter
nimmt sämtliche Bestechungsversuche des Mannes bereitwillig an und
unterwirft ihn belanglosen Verhören, die jedes Mal eine erneute
Eintrittsverweigerung zur Folge haben. Außerdem ermutigt er den Mann
unter Erwähnung der ihm höhergestellten Türhüter dazu, sich über
sein Verbot hinwegzusetzen, was dieser jedoch zu keinem Zeitpunkt
versucht. Als der Mann den Türhüter kurz vor seinem Tode fragt,
warum denn in all den Jahren niemand außer ihm Einlass in das Gesetz
verlangt habe, wird deutlich, dass der Eingang von Anfang an
ausschließlich für den Mann bestimmt war und mit dessen Tode
geschlossen wird.
Fasst
man „Vor dem Gesetz“ im Ganzen als Allegorie auf, so lässt sich
der Schluss der Parabel als implizit formulierte Lehre für all
diejenigen Menschen verstehen, die dazu neigen, sich von äußeren
Einflüssen einschüchtern zu lassen und somit den Sinn ihres Lebens
verfehlen. Diese Deutungshypothese wird dem Leser durch die
erzählerische und sprachliche Gestaltung des Textes nahegelegt: Die
verwendete Tür-Metapher wird gezielt dazu eingesetzt, eine
Verbindung zwischen „dem Gesetz“ und der Außenwelt zu kreieren
und auf eine prinzipielle Offenheit „des Gesetzes“ für den Mann
vom Lande hinzuweisen. Die hier verwendete Paradoxie, dass ein
Eintreten in das Gesetz grundsätzlich
immer
aber
zum
Zeitpunkt der Frage niemals
möglich
ist, wird durch die zeitliche Gestaltung der Parabel noch verstärkt:
Während der gesamte Text durchgängig im Präsens geschrieben ist
und das erlebte „Jetzt“ des Mannes anzeigt, referiert der
Türhüter auf ebendiesen Zeitraum zuletzt im Präteritum („dieser
Eingang war nur für dich bestimmt“) und impliziert damit, dass die
Chance des Eintritts in
der Vergangenheit
möglich gewesen wäre, mit der Beendigung seines Ausspruchs
allerdings endgültig
vertan
sei. Dass das Leben des Mannes dadurch gänzlich sinnlos erscheint,
wird nicht zuletzt auch durch den Aufbau der Parabel hervorgehoben:
Während Anfang und Ende des Textes weitgehend zeitdeckend, z.T. auch
unter Verwendung von wörtlicher Rede erzählt sind, wird das
dazwischenliegende Warten in stark zeitraffender Form und aus der
Innenperspektive des Mannes beschrieben („dieser erste scheint ihm
das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“; „er weiß
nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob nur seine Augen
ihn täuschen“). Die tendenzielle Unzuverlässigkeit und Vagheit
dieser subjektiven Sichtweise wird durch die Verwendung von Verben
wie „scheinen“ oder „täuschen“ angezeigt und lässt das
gesamte Geschehen wie eine Illusion erscheinen. Gleichzeitig wird
der Türhüter durch sachlich-beschreibende, teilweise wertende
Erzählerkommentare als optisch furchteinflößend
(„Größenunterschied“), „teilnahmslos“ und autoritär
beschrieben („stellt kleine Verhöre mit ihm an, […] wie sie die
großen Herren stellen“), wodurch der oben erwähnte Traumcharakter
immer wieder aufgebrochen wird.
Zur
Entwicklung einer umfassenden Deutungshypothese des Textes müssen
neben der textimmanenten Lesart auch verschiedene
rezeptionsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt werden. Wird das
„Gesetz“ als Metapher für das Vorhandensein gesellschaftlicher
Zwänge verstanden, so kann die Parabel im soziologischen Sinne als
Kritik an der Bürokratie und einem erbarmungslosen,
„entmenschlichten“ Verwaltungsapparat der modernen Gesellschaft
betrachtet werden. Ebenso ist es möglich, die zentrale Textaussage
in einen philosophischen Deutungszusammenhang zu stellen und das
lebenslange Warten des Mannes auf Eintritt in das Gesetz als frei
gewählte Lebensgestaltung zu interpretieren, deren Scheitern er
gewissermaßen selbst zu verantworten hat, denn der Eintritt in das
Gesetz sei ja prinzipiell sein mögliches Recht gewesen.
Ebenso
denkbar ist es, „Vor dem Gesetze“ als autobiografisches Werk
Kafkas zu lesen, mit dessen Hilfe er seine eigenen
Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Vater zum Ausdruck bringt.
Der Türhüter wird auf diese Weise zur bedrohlichen Vaterfigur,
deren willkürlich festgelegte Regeln der Sohn niemals vollständig
befolgen kann, wodurch er mehr und mehr zu einem „kindischen“,
„rücksichtslosen“ und zutiefst verunsicherten Menschen wird, der
dem eigenen Leben keinen tieferen Sinn zuzusprechen vermag. Wird die
biografische Lesart um einen psychoanalytischen Rezeptionsansatz
ergänzt, so stellt die Figur des Türhüters kaum mehr eine äußere
Instanz sondern vielmehr das internalisierte Schuldgefühl des Mannes
vom Lande (bzw. Kafkas) dar, das in Form eines allmächtigen
Über-Ichs als unüberwindbares, Hindernis auftritt. Die karikierende
Überhöhung des Gesetzes als Ort des „Glanz[es]“, das dem
Sterbenden in seinen letzten Momenten entgegenstrahlt, legt zudem
eine Deutung als religiöses Motiv dar: Der Eintritt in das Gesetz
steht somit sinnhaft für den Eintritt in eine göttliche Sphäre,
die dem Menschen in diesem Falle auf ewig verwehrt bleibt.
Kafkas
rätselhafte, teilweise bedrohlich wirkende Darstellung
gesellschaftlicher Machtstrukturen und seelischer Abgründe bedingt
die tendenzielle Offenheit des Parabolischen bzw. die begründete
Polyvalenz rezeptionsästhetischer Deutungsversuche. Die Verwendung
von sprachlichen Gestaltungsmitteln wie Paradoxien, Metaphern und
Allegorien ist dabei charakteristisch für Kakfa-Parabeln und Teil
seiner eigentümlichen Erzählweise (kafkaesk).