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Interpretation

Text­ana­lyse `Vor dem Gesetz` (Franz Kafka, 1915)

817 Wörter / ~2½ Seiten sternsternsternsternstern Autorin Anna K. im Feb. 2018
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Dokumenttyp

Interpretation
Deutsch

Universität, Schule

Ruhr-Universität Bochum - RUB

Note, Lehrer, Jahr

2017

Autor / Copyright
Anna K. ©
Metadaten
Format: pdf
Größe: 0.07 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 72367









Textanalyse „Vor dem Gesetz“ (Franz Kafka, 1915)

Die Parabel „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka aus dem Jahre 1915 thematisiert die Entfaltung der menschlichen Existenz zwischen Recht, Macht und Begehren und lässt wie die meisten Kafka-Parabeln verschiedene Deutungsansätze zu.

Auf der Bildebene wird beschrieben, wie ein Mann vom Lande Einlass in das Gesetz erbittet und vom davorstehenden Türhüter abgewiesen wird. Da der Eintritt in das Gesetz nach Aussage des Türhüters grundsätzlich möglich sei, verbringt der Mann sein ganzes Leben mit sinnlosem Warten und Hoffen und geht schließlich dem Tode entgegen, ohne jemals einen Einblick in das Gesetz erhalten zu haben. Der Türhüter nimmt sämtliche Bestechungsversuche des Mannes bereitwillig an und unterwirft ihn belanglosen Verhören, die jedes Mal eine erneute Eintrittsverweigerung zur Folge haben. Außerdem ermutigt er den Mann unter Erwähnung der ihm höhergestellten Türhüter dazu, sich über sein Verbot hinwegzusetzen, was dieser jedoch zu keinem Zeitpunkt versucht. Als der Mann den Türhüter kurz vor seinem Tode fragt, warum denn in all den Jahren niemand außer ihm Einlass in das Gesetz verlangt habe, wird deutlich, dass der Eingang von Anfang an ausschließlich für den Mann bestimmt war und mit dessen Tode geschlossen wird.

Fasst man „Vor dem Gesetz“ im Ganzen als Allegorie auf, so lässt sich der Schluss der Parabel als implizit formulierte Lehre für all diejenigen Menschen verstehen, die dazu neigen, sich von äußeren Einflüssen einschüchtern zu lassen und somit den Sinn ihres Lebens verfehlen. Diese Deutungshypothese wird dem Leser durch die erzählerische und sprachliche Gestaltung des Textes nahegelegt: Die verwendete Tür-Metapher wird gezielt dazu eingesetzt, eine Verbindung zwischen „dem Gesetz“ und der Außenwelt zu kreieren und auf eine prinzipielle Offenheit „des Gesetzes“ für den Mann vom Lande hinzuweisen. Die hier verwendete Paradoxie, dass ein Eintreten in das Gesetz grundsätzlich immer aber zum Zeitpunkt der Frage niemals möglich ist, wird durch die zeitliche Gestaltung der Parabel noch verstärkt: Während der gesamte Text durchgängig im Präsens geschrieben ist und das erlebte „Jetzt“ des Mannes anzeigt, referiert der Türhüter auf ebendiesen Zeitraum zuletzt im Präteritum („dieser Eingang war nur für dich bestimmt“) und impliziert damit, dass die Chance des Eintritts in der Vergangenheit möglich gewesen wäre, mit der Beendigung seines Ausspruchs allerdings endgültig vertan sei. Dass das Leben des Mannes dadurch gänzlich sinnlos erscheint, wird nicht zuletzt auch durch den Aufbau der Parabel hervorgehoben: Während Anfang und Ende des Textes weitgehend zeitdeckend, z.T. auch unter Verwendung von wörtlicher Rede erzählt sind, wird das dazwischenliegende Warten in stark zeitraffender Form und aus der Innenperspektive des Mannes beschrieben („dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“; „er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob nur seine Augen ihn täuschen“). Die tendenzielle Unzuverlässigkeit und Vagheit dieser subjektiven Sichtweise wird durch die Verwendung von Verben wie „scheinen“ oder „täuschen“ angezeigt und lässt das gesamte Geschehen wie eine Illusion erscheinen. Gleichzeitig wird der Türhüter durch sachlich-beschreibende, teilweise wertende Erzählerkommentare als optisch furchteinflößend („Größenunterschied“), „teilnahmslos“ und autoritär beschrieben („stellt kleine Verhöre mit ihm an, […] wie sie die großen Herren stellen“), wodurch der oben erwähnte Traumcharakter immer wieder aufgebrochen wird.

Zur Entwicklung einer umfassenden Deutungshypothese des Textes müssen neben der textimmanenten Lesart auch verschiedene rezeptionsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt werden. Wird das „Gesetz“ als Metapher für das Vorhandensein gesellschaftlicher Zwänge verstanden, so kann die Parabel im soziologischen Sinne als Kritik an der Bürokratie und einem erbarmungslosen, „entmenschlichten“ Verwaltungsapparat der modernen Gesellschaft betrachtet werden. Ebenso ist es möglich, die zentrale Textaussage in einen philosophischen Deutungszusammenhang zu stellen und das lebenslange Warten des Mannes auf Eintritt in das Gesetz als frei gewählte Lebensgestaltung zu interpretieren, deren Scheitern er gewissermaßen selbst zu verantworten hat, denn der Eintritt in das Gesetz sei ja prinzipiell sein mögliches Recht gewesen.

Ebenso denkbar ist es, „Vor dem Gesetze“ als autobiografisches Werk Kafkas zu lesen, mit dessen Hilfe er seine eigenen Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Vater zum Ausdruck bringt. Der Türhüter wird auf diese Weise zur bedrohlichen Vaterfigur, deren willkürlich festgelegte Regeln der Sohn niemals vollständig befolgen kann, wodurch er mehr und mehr zu einem „kindischen“, „rücksichtslosen“ und zutiefst verunsicherten Menschen wird, der dem eigenen Leben keinen tieferen Sinn zuzusprechen vermag. Wird die biografische Lesart um einen psychoanalytischen Rezeptionsansatz ergänzt, so stellt die Figur des Türhüters kaum mehr eine äußere Instanz sondern vielmehr das internalisierte Schuldgefühl des Mannes vom Lande (bzw. Kafkas) dar, das in Form eines allmächtigen Über-Ichs als unüberwindbares, Hindernis auftritt. Die karikierende Überhöhung des Gesetzes als Ort des „Glanz[es]“, das dem Sterbenden in seinen letzten Momenten entgegenstrahlt, legt zudem eine Deutung als religiöses Motiv dar: Der Eintritt in das Gesetz steht somit sinnhaft für den Eintritt in eine göttliche Sphäre, die dem Menschen in diesem Falle auf ewig verwehrt bleibt.


Kafkas rätselhafte, teilweise bedrohlich wirkende Darstellung gesellschaftlicher Machtstrukturen und seelischer Abgründe bedingt die tendenzielle Offenheit des Parabolischen bzw. die begründete Polyvalenz rezeptionsästhetischer Deutungsversuche. Die Verwendung von sprachlichen Gestaltungsmitteln wie Paradoxien, Metaphern und Allegorien ist dabei charakteristisch für Kakfa-Parabeln und Teil seiner eigentümlichen Erzählweise (kafkaesk).


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