Szeneninterpretation
Wald und Höhle + Gretchens Stube
Johann
Wolfgang Goethes „Faust. Der Tragödie Erster Teil.“,
veröffentlicht 1808 als Gesamtwerk „Faust. Eine Tragödie.“,
besteht aus einer Gelehrten- und einer Gretchentragödie. In der
Gelehrtentragödie so der Doktor Faust als Wissenschaftler, der alle
wichtigen Fakultäten seiner Zeit (Philosophie, Jura, Medizin und
Theologie) studiert hat, vorgestellt. Doch mit keiner dieser
Wissenschaften kann er „erkenne[n] was die Welt / Im Innersten
zusammenhält“ (V. 382-383). In seiner Verzweiflung, hervorgerufen
durch die Erkenntnis, dass Menschen „nichts wissen können“ (V.
364), geht er einen Pakt mit dem Teufel ein. Die Bedingungen legen
fest, dass Mephisto ihm auf Erden dienen muss, Faust dann aber nach
seinem Tod das gleiche für Mephisto tun muss. Dieser erfüllt ihm
durch Gretchen, einem 14 bis 15 jährigen Mädchen, seine
menschlichen Begierden. Die Beziehung mit Faust wird für sie, ihre
Mutter und ihren Bruder den Untergang herbeiführen.
Die
Szenen „Wald und Höhle“ und „Gretchens Stube“ befinden sich
in der Gretchentragödie. Faust ist in einer Liebesbeziehung mit
Gretchen, jedoch folgt auf ein Liebesgeständnis von Gretchen kein
Liebesgeständnis von ihm, sondern nur eine Ausrede. Darüber hinaus
steht Faust, das wird gerade in „Wald und Höhle“ deutlich, immer
in einem Konflikt seiner beiden Seelen: Während die eine nach
irdischer Befriedigung strebt, verlangt die andere das göttliche
Wissen über alles (vgl. V. 1112f.). Mephisto sieht seine Aufgabe
darin, Fausts Verlangen zum Ausleben seiner tierischen Triebe zu
stärken. Hier wird die Problematik deutlich, denn dies wird aufgrund
seiner anderen, nach Allwissen strebenden Seele, nie vollständig
möglich sein. Dennoch versucht Mephisto, ihn durch Gretchen dazu zu
bringen, seinen Wissensdrang zu besänftigen und sich auf irdische
Sinnlichkeiten zu konzentrieren.
Fausts
Monolog in „Wald und Höhle“ befasst sich mit seiner
zwei-Seelen-Problematik und stellt zuerst mittels erhaben wirkenden
Versen (vgl. V. 3228ff.) seine Glücksgefühle in der Natur da und er
dankt den Geistern, dass er diese Empfindung haben darf (vgl. V.
3217f.). Kurz darauf gibt es jedoch einen starken Stimmungsumschlag:
„O dass dem Menschen nichts Vollkommenes wird, / Empfind ich nun.
[…]“ (V. 3240-3241). Faust denkt an seine Abhängigkeit von
Mephisto („[…] [Der] Gefährt[e], den ich schon nicht mehr /
Entbehren kann […]“, V. 3243-3244) und merkt, wie Mephistopheles
seine Begierde nach Gretchen immer weiter steigert (vgl. V.
3247-3248). In den Fersen 3249 und 3250 zieht Faust ein Fazit seiner
Selbstreflektion: „So tauml‘ ich von Begierde zu Genuss, / Und im
Genuss verschmacht ich nach Begierde.“ Es wird ganz klar seine
Sucht nach Objekten, an denen er seine menschliche Begierde ausleben
kann, deutlich. Der Satz wirkt wie ein Kreislauf zwischen Genuss und
Begierde in dem Faust gefangen ist, denn er ist weder mit dem Genuss,
noch mit der Begierde beruhigt und wechselt zunehmend zwischen diesen
beiden Zuständen. Dem Monolog folgt ein Gespräch mit Mephisto, in
dem dieser Faust nur noch weiter anstachelt, seiner Begierde nach
Gretchen nicht entgegenzuwirken.
Zusammen
mit „Gretchens Stube“ stellt „Wald und Höhle“ eine Zäsur in
der Handlung dar. Die beiden Protagonisten reflektieren ihre
Situationen nach dem ersten Kuss in der vorangegangenen Szene (vgl.
„Ein Gartenhäuschen“) und versuchen jeweils ihre Position zu
finden. Fausts Lage in „Wald und Höhle“ steht Gretchens Zustand
in „Gretchens Stube“ gegenüber. Fausts Glücksempfinden in der
Natur repräsentiert seine freie, von keinen menschlichen Trieben
gesteuerte Seele, die sich an der Macht und Kraft der Natur erfreut
und ihn diese genießen lässt. Dieser Zustand hält jedoch nicht
lange an, da seine Stimmung beim Gedanken an Mephisto stark wechselt
und sich seine andere, auf irdische Sinnlichkeiten fixierte Seele,
bemerkt macht. Faust wird bewusst, dass er diese triebgesteuerten
Ziele ohne Mephistopheles nicht realisieren kann und erkennt seine
Abhängigkeit von dessen Macht und seinen Möglichkeiten (vgl.
3241ff.). Diese Unentbehrlichkeit ist allein durch Fausts Triebe
bedingt und das merkt er auch: „Er facht in meiner Brust ein wildes
Feuer“ (V. 3247) und stachelt so Fausts Lust nur noch weiter an.
Die wichtigsten Verse jedoch folgen auf diese Erkenntnis. Wie vorher
erwähnt, bezeichnen diese seine große Sucht nach Objekten der
Begierde. Folglich ist Faust nicht auf Gretchen aus, sondern sieht in
ihr ein Objekt, an dem er seine Sinnlichkeitsträume verwirklichen
kann und bezieht sich nicht auf sie als Individuum. Kontrastierend
dazu ist „Gretchens Stube“ verfasst. Gretchen sehnt sich sehr
nach Faust (vgl. V. 3383: „Ist mir verrückt“), kann nur noch an
ihn denken und bewundert alles an ihm: „Sein[en] hoher Gang, /
Sein[e] edle Gestalt, / [Sein] […] Lächeln [und seine] […] Augen
[…].“ (V. 3394f.). Es wird dazu ein einer refrainartigen Strophe
klar, dass sie nicht mehr ruhen kann (vgl. 3374-3377; 3386-3389;
3401-3405). Neben ihrer Bewunderung wird auch noch ihr sexuelles
Verlangen nach Faust deutlich: „Mein Busen drängt / Sich nach ihm
hin.“ (V. 3406-3407). Die Folgen dieses Verlangens werden schon in
der Regieanweisung deutlich gemacht: Gretchen
am Spinnrade allein.
Die soziale Isolation, die hier geäußert wird, geht einher mit
einem noch entscheidender zu deutenden Merkmal: Vorher immer
„Margarete“ genannt, nennt Faust sie jetzt „Gretchen“. Dies
zeigt Gretchens Loslösung von den sozialen Normen der Stadt, denn
sie lässt sich auf eine Liebesbeziehung außerhalb der Ehe ein.
Ferner löst sich das religiöse Mädchen auch von den von der Kirche
vorgegebenen Normen und Regeln und stellt so eine andere Person dar.
Die Begierde auf den anderen ist hier also auf der reinen Liebe zu
Faust begründet und bezieht sich im Gegensatz zu Fausts
objektbezogener, sexueller Sucht nur auf ihn und auf nichts anderes.
Der
Kontrast wurde durch die Abänderung der Verse 3406-3407 von
sexueller Begierde („Mein Schoos! Gott! drängt / Sich nach ihm
hin“) zu mehr sinnlicher Lieber noch verdeutlicht und stellt die
Wichtigkeit dieser zwei Pole heraus, wie es auch in anderen Teilen
des Werkes der Fall ist (z.B. Faust – Wagner; Tag – Nacht, etc.).
Goethe greift am Ende des ersten Teils von Faust auch noch einmal die
Umbenennung Gretchens auf, indem er sie wieder „Margarete“ nennt,
als sie sich dem Gericht Gottes übergibt und so das Menschenbild des
Herrn bestätigt.
Die
Entwicklung der Beziehung zwischen Faust und Gretchen wird in diesen
Szenen schon vorweggenommen. Kaum verhüllte Aussagen wie „Dass ich
die Felsen / Und sie zu Trümmern schlug!“ (V. 3359-3360) oder „Wo
ich ihn nicht hab / Ist mir das Grab“ (V. 3378-3379) beziehen sich
direkt auf Gretchens späteres Schicksal. Sowohl Faust erkennt, dass
er Gretchens Welt in „Trümmer“ (V. 3361) schlagen wird durch
sein Handeln, als auch Gretchen sieht sich schon Bildlich gesprochen
in ihrem „Grab“ (V. 3379), falls sie sich auf eine Liebesnacht
mit ihm einlässt. Faust fühlt sich für dieses Schicksal jedoch
nicht verantwortlich: „Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben!“
(V. 3361), er sieht es aber kommen und weiß, was passieren wird.
Nach „Gretchens Stube“ folgt die Szene „Marthens Garten“, wo
Gretchen Faust signalisiert, dass sie sich auf eine Nacht mit ihm
„gern“ (V. 3506) einlässt (vgl. V. 3905ff.). Diesen Entschluss
hat sie vermutlich vorher gefasst und mit diesem Entschluss kommt
auch die Katastrophe der Gretchentragödie in Gang: Sie wird
schwanger, bekommt ein Kind und bringt dieses um.
Beide
Protagonisten fassen am Ende ihrer Monologe einen Entschluss, wo sie
ihre Position sehen: Faust mit „Lass mich an ihrer Brust erwarmen“
(V. 3346) und Gretchen mit „Ach dürft ich [ihn] fassen / […],
halten […] und küssen […]“ (V. 3408-3410). Das
Aufeinandertreffen des fast schon sexuell erregten Fausts und der
sehnlichst verliebten Margarete führt schlussendlich nur zu großem
Unglück.
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