Interpretation
einer Dramenszene aus Gerhart Hauptmanns “Vor Sonnenaufgang”
In der Szene aus dem 1889 geschriebenen Drama “Vor Sonnenaufgang”
thematisiert Gerhart Hauptmann die unterschiedlichen politischen
Ansichten und Wertvorstellungen der beiden Protagonisten Loth und
Hoffmann.
Hauptmann stellt in dieser Szene zwei Figuren vor, die
unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Gespräch gehört zur
Exposition des Dramas, da in ihm zwei Hauptfiguren und der zwischen
ihnen bestehende grundlegende Konflikt vorgestellt werden.
Die Szene spielt im Haus der Familie Krause und besteht aus dem
Dialog zwischen Hoffmann und Loth. Beide sind ehemalige Schulfreunde,
welche sich an ihre gemeinsame Vergangenheit und Jugendideale
erinnern, diese aber aufgrund ihrer jetzt unterschiedlichen
Lebensumstände anders bewerten. Während Loth weiterhin von seinen
aus Jugendzeiten stammenden sozialistischen Zielen überzeugt ist,
sind diese für Hoffmann nur noch “Kindereien“ (Z. 2).
Die Szene lässt sich zeitlich nach dem ersten Aufeinandertreffen der
Schulfreunde einordnen, bei dem sich bereits bei Gesprächsthemen wie
dem Alkoholkonsum gezeigt hat, dass sich beide auseinander gelebt
haben. Der Dialog ist von besonderer Bedeutung für die weitere
Handlung des Dramas. Zum einem werden Loth und Hoffmann als
Protagonisten vorgestellt und der Leser erhält einen genaueren
Eindruck von ihren Charakteren und ihren Lebensumständen, zum
anderen werden zum ersten mal Konflikte deutlich, wie zum Beispiel
die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft. Mit Loth und Hoffmann
treffen Menschen aus zwei unterschiedlichen Welten aufeinander. Loth
sieht in Hoffmann einen ehemaligen Freund der seit langem seine
Jugendideale verraten hat.
Der Dialog beginnt mit einem Ausruf Hoffmanns, der sich entsetzt und
verwundert an seine und Loths Jugendzeit zurückerinnert. Die damals
von beiden angestrebten hohen politischen Ziele, wie zum Beispiel die
gerechte Verteilung der Güter, bezeichnet er nun abschätzig als
“Kindereien” (Z.2) und sich selbst und Loth als “Gelbschnäbel”.
Durch die Hervorhebung des Wortes “wir” in der darauffolgenden
Ellipse “-wir und Musterstaat gründen! Köstliche Vorstellung!”
(Z.3) unterstreicht er auf ironische und sich distanzierende Weise
den Wahnsinn ihres damaligen Vorhabens, nach Amerika zu fahren und
dort einen “Musterstaat” (Z.7) zu errichten. Loth reagiert
hierauf nachdenklich und teilt zunächst Hoffmans Meinung, dass es
sich damals um zu hoch gesetzte Ziele handelte. Die erlittenen
Rückschläge hindern ihn aber nicht daran an seiner Überzeugung
fest zu halten.
Trotz Loths Eingeständnis eines teilweisen Scheiterns, lässt
Hoffmann nicht von dem Thema ab, sondern redet sich in Rage, indem er
die Details ihres Planes und dessen unmögliche Umsetzung schildert.
Der unvollständige Satz “Das ist ja beinah ver…” (Z.8) ,
welcher wahrscheinlich auf “verrückt” enden sollte, lässt
erkennen, mit welcher Herablassung er Lot sieht und wie distanziert
ihre Beziehung geworden ist. Er versucht nicht nur, seine Meinung zu
vertreten, sondern kritisiert die Ansichten seines alten
Studienfreundes und appelliert erstmals an Loth, diese zu überdenken
(“Denk doch mal an..” Z. 6).
Immer wieder amüsiert er sich über die damaligen Pläne, indem er
sie mit einer “Kaltwasserkur” vergleicht und deren Ergebnisse
ironisch “vorzüglich” nennt (Z.10). Durch seine Lästereien, auf
die Loth versucht, sachlich zu antworten, stellt er sich selbst über
ihn.
Die unterschiedlichen Argumentationsweisen der Studienfreunde werden
darin deutlich, dass Loth den Begriff der zuvor genannten
“Kaltwasserkur” aufnimmt, indem er zustimmt, “abgekühlt”
worden zu sein. Er räumt sogar ein, dass das Vorhaben in Amerika
gescheitert ist (Z.11). Allerdings sieht er dies nicht als
Niederlage, sondern als natürlichen Prozess eines jeden an, der für
seine Ideale kämpft. Durch seine ständigen Relativierungen und
Rechtfertigungsversuche nimmt er aber auch eine untergeordnete Rolle
ein, die ihm Hoffmann zuschreibt. Weiter appelliert er an
Gemeinsamkeiten während des Studiums, indem er von der damaligen
Zeit erzählt und den positiven Auswirkungen, die sie auf beide
hatte. Zum einen gab das gemeinsame Streben nach einer besseren Welt
dem faden Universitätsleben einen Sinn (Z.15ff.) und zum anderen
machte es nach Loths Auffassung aus beiden aufgeklärte Menschen
(Z.18f.). Anders als Hoffmann kritisiert er dessen Ansichten nicht
direkt, sondern versucht, ihn durch beschwichtigende Argumente zu
überzeugen.
Dies scheint bei Hoffmann zunächst auf Zustimmung zu stoßen, da er
zugibt, vieles aus dieser Zeit gelernt zu haben (Z.20ff.). Dabei
bleibt er aber dennoch herablassend und distanziert. Den damaligen
Grundgedanken unterstützte er immer noch, auch wenn er ihn nicht so
radikal wie Loth umsetze, was er durch die Metapher “mit dem Kopfe
durch die Wand rennen” (Z.23) verdeutlicht. Seine oft
euphemistische Ausdrucksweise wie “alles seinen natürlichen Gang
gehen lassen” (Z. 24f.), lässt darauf schließen, dass sich
Hoffmann in seinem materiellen Wohlstand eingerichtet hat und
inzwischen ganz andere Ziele als die Durchsetzung des Sozialismus
verfolgt, dies aber vor Loth nicht offen sagen möchte und aus diesem
Grund nur seine übereilte Vorgehensweise erwähnt. Er beginnt wie
bereits zuvor Loth aufgrund seiner finanziellen Situation,
gesellschaftlich unter ihm zu positionieren indem er ihn fragt, ob es
Loht nicht bereut, sich für seine Ziele kompromittiert zu haben
(Z.29ff.). Mit dieser Aussage spielt er wahrscheinlich auf den
zweijährigen Gefängnisaufenthalt Loths in Amerika an.
Erneut nimmt Loth die Verteidigungsrolle ein und rechtfertigt sich
vor Hoffmann (Z.32 und 36-38), er sei “ohne Schuld” verurteilt
worden. Für ihn stehen die vergangenen Zeiten im Vordergrund,
ausgedrückt durch die Wiederholungen des Wortes “wir” (Z.37).
Als er anfängt auf Zustimmung Hoffmanns aufgrund seiner damaligen
MItgliedschaft zu hoffen, fällt ihm dieser ins Wort. Mitglied sei er
angeblich nicht gewesen, sagt Hoffmann über sich selbst (Z. 39). DIe
Tatsache, dass er Loth unterbricht, zeigt erneut die Differenzen
zwischen den beiden. Er respektiert seinen Gesprächspartner nicht
und zieht erneut über seine Einstellungen her (Z.40-43). Er rät
Loth von einer Veränderung “von unten herauf” ab, da diese
erfolglos scheine und sich das Volk nicht genug auskenne. Durch seine
herablassende Bezeichnung der unteren Bevölkerungsschichten als
“armes Volk” (Z.43) oder “Pöbel”, unterteilt er die
Gesellschaft in deutlich voneinander unterscheidbare Klassen.
Vermutlich fühlt er sich ,als nun wohlhabender Bürger, bereits zu
diesem Zeitpunkt von Loths Motiven bedroht. In späteren Szenen
versucht er ihm das Schreiben eines Artikels über die sozialen
Missstände der Umgebung auszureden.
Mit seinen offensiven Anschuldigungen scheint er bei Loth nicht auf
Zustimmung zu treffen, da dieser sagt, aus seinen Worten nicht schlau
geworden zu sein (Z. 47). Hoffmans Reaktion ist nun noch deutlich,
indem er Loth die DIfferenzen zwischen sich und ihm darstellt.
Hoffmann sieht sich selbst in der Lage (wahrscheinlich durch seinen
erlangten Wohlstand), zu tun was er will. Er könne auch die damals
gesetzten Ziele in die Tat umsetzen (Z.48f.). Loth hingegen, ist in
seinen Augen Machtlos und nicht in der Lage, eine Veränderung zu
bewirken (Z.50).
Offensichtlich handelt es sich bei Loth und Hoffmann um 2 Charaktere
mit deutlich unterschiedlichen Motivationen und Zielen. Loth stellt
das “wir” der beiden Jugendfreunde in den Vordergrund, während
sich Hoffman darauf konzentriert, die Unterschiede zwischen den
beiden dar zu stellen und seine übergeordnete Position zu
verdeutlichen. Dies ist vor allem in der Ausdrucksweise erkennbar.
Loth spricht ruhig und geduldig in vollen Sätzen. Hoffmann hingegen
spricht ohne nachzudenken, weswegen er in unvollständigen Sätzen
spricht.
Die
Unterschiedlichkeit der Charaktere lässt darauf schließen, dass
sich ein größerer Konflikt annähert.
Alles in
allem ist diese Szene typisch für die Epoche des Naturalismus. Ein
zentrales Thema sind die sozialen Missstände, da Loth als
überzeugter Sozialist aus diesem Grund nach Schlesien kommt und
somit den Grundstein für das Drama legt. Zum anderen ist dies in der
Tatsache, dass eine reich gewordene Familie neben armen Arbeitern
lebt, erkennbar. DIe Realität wird somit ungefiltert dargestellt. Im
späteren Verlauf des Dramas wird dies noch in den Familiären
Problemen der Familie wie Alkoholismus oder Inzucht deutlich. Zudem
spricht der Autor zu Beginn der Szene direkt das Zentrale Thema an.
Trotz
ihrer Unterschiedlichen Ansichten reden beide Figuren in einer
einfachen und alltäglichen Sprache, was ein weiteres Zeichen für
den Naturalismus ist.
Gerhart
Hauptmann hat mit seinem Werk vor allem ein damals relevantes Thema
angesprochen, aber auch heute ist es noch von Bedeutung. Die Schere
zwischen arm und reich ist nach wie vor real, wenn auch deutlich
geringer als früher.