Szenenanalyse: Iphigenie
auf Tauris
Akt II, Szene 1 (V.680-761)
Ausschnitt aus Akt II, Szene 1
(V.680-761)
- Ordnen Sie die Textstelle in den Handlungszusammenhand ein (auch
nach der Theorie des Dramas nach Gustav Freytag).
- Erarbeiten Sie am Text, wie Orest und Pylades jeweils ihre
Abhängigkeit von den Göttern definieren und erläutern Sie den Satz
"Du mehrst das Übel/und nimmst das Amt der Furien auf dich" (V.
756).
- Ergänzen Sie Iphigenies Position zwischen Determination und Freiheit
bezogen auf ihre Handlungsoptionen bis einschließlich Akt III.
1) Einorden der Textstelle
Der vorliegende Ausschnitt aus dem 1. Auftritt des 2.Aufzugs
aus Johann Wolfgang von Goethes Drama „Iphigenie auf Tauris“ (1786) welcher der
Epoche der Weimarer Klassik zuzuordnen ist, stellt einen Dialog zwischen Orest
und Pylades dar, in welche Pylades versucht Orest von seinem Fluchtplan zu
überzeugen.
Die beiden waren kurz zuvor am Ende des 1.
Aufzugs, der die Exposition darstellt, auf Tauris angekommen und sollen nun,
wie es das Gesetz vorschreibt, der Göttin Diane geopfert werden. Im 1. Auftritt
des 2. Aufzugs, der der steigenden Handlung zuzuordnen ist, möchte Orest in
seinem Wahnsinn schon den bevorstehenden Tod akzeptieren, da er den Willen der
Götter, für unausweichlich hält, wohingegen Pylades an ihre Rettung glaubt. Darauf
trifft Pylades im 2. Auftritt auf Iphigenie und appelliert an ihr Mitgefühl um
sie dazu zu bewegen ihnen bei ihrer Flucht zu helfen, wobei er seine und Orest’s
wahre Identität nicht preisgibt, was ebenfalls zur steigenden Handlung gehört.
2) Im Folgenden werde ich die unterschiedliche Einstellung Pylades’ und
Orest’s zu den Göttern analysieren.
Der Ausschnitt beginnt damit, dass Pylades
Orest daran erinnert, was die Götter durch ihn schon alles getan haben, und er
sich glücklich schätzen solle („Allein, o Jüngling, danke du den Göttern, dass
sie so früh durch dich so viel getan“ V.699-700), was mittels einer Anapher
(„so […] so[…]) betont wird und auf eine optimistische Einstellung hindeutet. Darauf
entgegnet Orest jedoch, dass alle Taten, die die Götter durch ihn vollbracht
hätten, nämlich den Mord an seiner Mutter, der durch den Tantalidenfluch unausweichlich
war, nur negativ seien. Er versinkt dabei in Selbstmitleid und Schuldgefühlen („Glaube,
sie haben es auf Tantals Haus gerichtet, und ich der letzte, soll nicht
schuldlos, soll nicht ehrenvoll vergehn“ V. 710-713), da er zu dieser Tat von
den Göttern gezwungen wurde. Auch diese beiden Verse werden durch eine Anapher
hervorgehoben. Orest möchte sich in seiner pessimistischen Denkweise dem
Schicksal ergeben und hat nur noch den Wunsch zu sterben („So hab ich wenigstens
geruh’gen Tod“ V. 729), Pylades jedoch schwärmt ihm vor, dass die Götter sich
vielleicht schon längst einen Plan zu ihrer Rettung ausgedacht hätten
(„vielleicht reift in der Götter Rat schon lange das große Werk“ V.733-734).
Pylades denkt im Gegensatz zu Orest sehr optimistisch und legt den angeblichen
Willen der Götter nach seinen Interessen aus.
Orest’s Einstellung gegenüber den Göttern besteht also
darin, dass er glaubt alles sei von dem Willen der Götter vorherbestimmt und
hält deshalb eine Überwindung des Tantalidenfluchs für unmöglich. Er ist von der völligen Determination durch die Götter überzeugt und
wird dadurch handlungsunfähig. Pylades dagegen glaubt nicht an den
Tantalidenfluch („De Götter rächen der Väter Missetat nicht an dem Sohn“ V.
713-714) und bleibt, obwohl er an die Götter glaubt, handlungsfähig, da seiner
Auffassung nach nur die Taten zählen („Ein jeglicher […] nimmt sich seinen Lohn
mit seiner Tat hinweg“ V. 715-716).
Dies wird auch durch mehrere Antithesen verdeutlicht
(„Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch“ V.717; „der hohen Götter Wille“
und „So ist’s ihr Wille denn, der uns verderbt“ V.720).
Pylades wirft Orest, der immer wieder
betont, dass solange der Fluch auf ihm liege es keinen Sinn habe zu handeln,
schließlich vor “Du mehrst das Übel und nimmst das Amt der Furien auf dich“ (V.
756-757). Die Furien können hier als Orests überwältigende Schuldgefühle
gedeutet werden, die Orest handlungsunfähig machen. Dieser Deutung zufolge sind
es also nicht mythische Wesen (die Furien), die Orest an einer selbstbestimmten
Handlungsweise hindern sondern er selbst, durch seine Schuldgefühle.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass dieser Dialog ein
Musterbeispiel der Aufklärung ist, da hier Determination (der Götter) und
Freiheit gegenübergestellt werden. Jedoch führt die
Überzeugung von der Determination durch die Götter letztendlich nicht zur
Lösung des Problems, sondern das freiheitliche Denken, das die Grundlage für
ein selbstbestimmtes Handeln ist. Man könnte das Drama also als einen Appell an
das Publikum zur Mündigkeit sehen, was einem der Hauptanliegen der Dichter der
Klassik entspräche, nämlich die Persönlichkeitsformung. Ein weiteres Merkmal
der Klassik besteht in dem Bezug auf die Antike, der durch die Allgegenwärtigkeit
des Tantalidenfluchs im Bewusstsein der Protagonisten, deutlich wird. Auch die
revolutionären Ziele der Französischen Revolution spiegeln sich in diesem Drama
wieder, da es sowohl um Freiheit, als auch Brüderlichkeit im Sinne von der
Wertschätzung von Familienbanden, und auch Gleichheit geht, wenn Iphigenie als
Frau schließlich die Lösung herbeiführt.
3) Iphigenies Handlungsoptionen am Ende des 3.Aufzugs bestehen in der gemeinsamen
Flucht mit Orest und Pylades oder in deren Opferung.
Die beiden Möglichkeiten repräsentieren
dabei Freiheit und Determination, da die Opferung der beiden eine Handlung nach
dem Willen der Götter wäre, wohingegen sie selbstbestimmt handelt, wenn sie mit
den beiden flüchtet. Jedoch ist auch hier die Frage, inwiefern sie autonom
handelt oder doch von Pylades beeinflusst ist. Am besten wird Iphigenies
Position verdeutlicht, als sie Diane um Orests Rettung durch sich selbst
anfleht („Willst du mir durch ihn und ihm durch mich die sel’ge Hülfe geben“ V.
1329-1330). Sie glaubt also nicht an ein aktives eigenes Eingreifen der Göttin,
sondern ist vielmehr von einem Handeln der Göttin durch sich selbst überzeugt.
Dies entspräche dem Bild des klassischen Humanismus, demnach das Göttlich im
Menschen ist, also keine vom Menschen losgelöste Instanz, und der Mensch somit
autonom ist.