Synchrone
Analyse: Fastensitte als Streitfrage
Abgrenzung
und Kontext
Die
Perikope Markus 2, 18-22 befindet sich in einer Gruppe von
Streitgesprächen. Die Streitgespräche beginnen bei Mk 2,1 und enden
bei Mk 3,6 (Schweizer, 1975, S.28). Insgesamt handelt es sich um 5
Streitgespräche. Thema des 1. und 2. Streitgespräches sind die
Sündenvergebung sowie der Umgang mit Sündern. Das 3. Streitgespräch
behandelt die Fastenfrage und das 4. und 5. Gespräch die Funktion
des Sabbats. Die Sammlung der 5 Streitgespräche versucht, den
Eindruck von der allmählichen Herausbildung des Konflikts Jesu mit
seinen Gegnern zu geben, indem er diesen zuerst in den Herzen
entstehen lässt 2, 6-8. Sodann führt der Konflikt zu einer
Interpellation der Jünger über Jesu 2,16, dann zu Jesus selber
2,18, bis dann schließlich die feindselige Gesinnung gegen Jesu so
stark geworden ist, dass der Befehl gegeben wird, Jesus zu töten 3,6
(Albertz, 1947, S.172). Der sachliche Zusammenhang besteht darin,
dass in allen 5 Streitgesprächen Jesu Vollmacht erwiesen wird. Er
hat die Vollmacht zur Sündenvergebung, die Vollmacht die Sünder zu
rufen und die Vollmacht Fastensitten und Sabbatsatzungen außer Kraft
zu setzen. Schweizer sagt hierzu, Jesus hat die Vollmacht über Sünde
und Gesetz (Schweizer, 1975, S.28).
Aufbau
und Struktur
Formaler
Aufbau
Vers
18 Einleitung: Situationsschilderung und Streitfrage
Vers
19a Antwort als Gegenfrage
Schluss
des eigentlichen Streitgesprächs
Vers
19b 2. Antwort
Vers
20 Bekräftigung der 2. Antwort
Vers
21+
Vers
22 2 Bildworte
Inhaltlicher
Aufbau
1.Teil:
Vers 18+19a Fastensitte als Streitfrage und Rechtfertigung
des Nichtfastens
durch Jesus
2.Teil:
Vers 19+20 Zeitliche Begrenzung des Nichtfastens
3.Teil:
Vers 21+22 Unvereinbarkeit zwischen alt und neu
Schlüsselbegriff
Ein
sehr wichtiger Schlüsselbegriff ist der des Bräutigam. Es gilt
gemeinhin als selbstverständlich, dass in den Bildreden Jesu der
Bräutigam die allegorische Bezeichnung für den Messias ist. Es wird
übersehen, dass das Bildwort in 19a ein Gleichnis sein will. Würde
Jesus sich mit dem Bildwort selbst meinen, wäre das Logion echt,
denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Jesus sich vor dem
Verhör in der Nacht zu Karfreitag (Mk. 14,62) öffentlich zu seiner
Messianität bekannt hat (Kittel, 1957, S.1096). Da dem AT und dem
Spätjudentum die Allegorie Bräutigam/Messias unbekannt gewesen ist,
auch wenn das AT von der Ehe zwischen dem Volk und Jahwe spricht,
kann die allegorische Deutung Bräutigam/Messias auf 19a nicht
angewandt werden. Ab 19b wir die Aufhebung des Fastens auf die
Erdentage Jesu beschränkt. Das Bild von der Hochzeit wird verlassen.
Über den Bräutigam wird gesagt, dass Tage kommen werden, an denen
er von den Hochzeitsgästen weggenommen sein wird.
Die
hier anklingende Leidensankündigung bezieht Markus dann auf jenen
Tag, den Tag der Kreuzigung. Hier liegt eine allegorische Deutung des
Bräutigams durch die Gemeinde vor. Sie sah in dem Bildwort vom
Bräutigam Jesus als den Messias. Die Zeit des Nichtfastens verstand
sie auf die irdische Zeit Jesu begrenzt. Darum führte sie das Fasten
wieder ein.
Synoptischer
Vergleich
Matthäus
sowie Lukas haben Markus als Vorlage benutzt. Beide haben den Text
umgestaltet. Matthäus verknüpft die Fastenperikope (Mt 9,14-17) mit
der vorhergehenden Berufungsgeschichte durch das Wort „Da“. Lukas
leitet seinen Text (Lk. 5,33-39) mit „Sie“ ein. Er versucht einen
Bezug zu den Fragenden in Vers 30 herzustellen. Konsequent aber hat
Lukas diese Verknüpfung nicht durchgeführt. Die Pharisäer als die
Sprecher müssten sagen: „Die Johannesjünger und unsere Jünger
fasten häufig und verrichten Gebete.“ Hier nimmt Lukas die
Personen in der Frage bei Markus auf. Anders macht es Matthäus: Er
lässt die Johannesjünger von ihrer Fastengewohnheit und der der
Pharisäer sprechen. Die Fastensitte der Jünger des Johannes und der
Pharisäer erweitert Lukas mit der Gebetssitte. Matthäus verändert
das Fasten in der Gegenfrage Jesu in das Trauern. Hiermit wird der
Sinn des Fastens näher bestimmt. Das Fasten wird als Trauern
erklärt. Matthäus und Lukas lassen die Antwort Jesu (Mk. 2,19b)
aus. Die Gegenfrage Jesu wird bei Matthäus schon zeitlich begrenzt,
durch „solange“. Die zeitliche Bestimmung, bei Markus auf einen
Tag, festgelegt, wird bei Matthäus und Lukas allgemein gehalten und
nicht auf einen bestimmten Tag festgelegt. In Vers 36 fügt Lukas als
Erläuterung der Form der beiden Einzelsprüche ein Gleichnis ein.
Auch ohne die Ergänzung kann man die Markussprüche 21-22 als
Gleichnisse ansehen, die beide die Aussage haben: Das Neue und Alte
passen nicht zusammen. Die beiden Einzelsprüche werden bei Matthäus
und Lukas geringfügig verändert, der Sinn bleibt aber der Gleiche.
Lukas
setzt den beiden Einzelsprüche einen anderen Einzelspruch hinzu (Lk.
5,39). Dieser Spruch rechtfertigt im Gegensatz zu den beiden Sprüchen
in V.36 und 37 allein das alte und lobt es sogar.
Als
bemerkenswerte Ergebnisse des synoptischen Vergleichs müssen zum
Schluss festgehalten werden:
das
Wegfallen der Situationsangabe von Markus 18a bei Lukas und Matthäus
die
Verschiebung von „an jenem Tag“ bei Markus auf „dann werden
sie fasten“ bei Matthäus und „werden sie fasten an jenen Tagen“
bei Lukas.
Aussageintention
Die
Aussage des Textes innerhalb der Theologie des Verfassers und im
Ganzen der Schrift
Das
Markusevangelium ist von einer starken Spannung durchzogen. In seiner
Darstellung werden zwei kontrastierende Bilder von Jesus miteinander
verbunden. Zunächst erscheint Jesus als der mit göttlicher
Vollmacht ausgestattete Gottessohn. In drei Szenen fixiert Markus den
Rahmen dieses Bildes. Sie kreisen um den Titel Gottessohn: Bei der
Taufe wird Jesus in die Würde des Gottessohnes eingesetzt; in der
Verklärung enthüllt er das Geheimnis seines Wesens, und unter dem
Kreuz schließlich erkennt der römische Hauptmann wer er wirklich
ist. Das Bild wird im ersten Teil des Evangeliums durch
Wundergeschichten ausgefüllt. Für Markus sind diese Wunder
Vollmachtserweise des endzeitlichen Heilsbringers, also Heilszeichen.
Andererseits
stellt Markus den Weg Jesu als Leides- und Todesweg dar. Schon in
Markus 2,20 deutet er mit seinem Zusatz „an jenem Tage“ auf das
Kreuz hin.
Die
Sammlung von Streitgesprächen von MK. 2,1-3,6 geben einen Eindruck
von der allmählichen Herausbildung des Konflikts Jesu mit seinen
Gegnern. Die Konfliktszenen in den Streitgesprächen schließen mit
dem Satz: “Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat
über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn
umbrächten.“(3,6)
Markus
will Jesus als den machtvollen Heilbringer der Endzeit verkünden,
zugleich aber herausstellen, dass er als solcher vom Kreuzesgeschehen
her begriffen werden will. Erst dort wird offenbar, wer Jesus
wirklich ist. Der markinische Jesus tut alles, um das Geheimnis
seiner Person und Würde zu wahren, weshalb man die genannten Züge
und Motive unter dem Begriff des Messiasgeheimnis zusammenfasst
(Wrede, 1963, S.66). Jesu Herrlichkeit erschließt sich erst vom
Kreuz her und durch das Kreuz hindurch. Der Hauptmann, der unter dem
Kreuz steht, der begreift mit einem Mal, das Jesus Gottes Sohn ist.
Nur im Glauben an den Gekreuzigten kann die Bedeutung Jesu erfasst
werden.
Somit
fügt sich die theologische Aussage des Markus in der Perikope 2,18f
in die theologische Aussage der gesamten Schrift des Markus ein: Für
ihn ist der Gottverlassene, Gekreuzigte und Auferstandene der
Schlüssel zum Verständnis der Gottessohnschaft und Messianität
Jesu.
Die
Aussage des Textes für die Gegenwart
Der
Text berichtet von der neuen Situation der Menschen damals, in deren
Leben Jesus getreten ist. Dieses neue Situation heißt: Angenommen
durch die Gnade Gottes. Dies ist Grund zur Freude, wie Paulus in
Philipper 4,4-5 deutlich macht: „Freuet euch in dem Herrn allewege,
und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen
Menschen! Der Herr ist nahe!“
Wir
brauchen uns nicht mehr um uns selber drehen, müssen nicht mehr
schauen, ob wir genug religiöse Leistung vollbringen. Durch die
Gnade Gottes sind wir befreit von dem Blick auf uns selbst, zum Blick
auf die anderen. Jetzt noch zu schauen, ob ich besser bin, als der
andere neben mir, würde bedeuten: Die Anwesenheit Jesu in meinem
Leben nicht zu sehen. Alt und neu passen nicht zusammen. Mit dem
Neuen meint Jesus die neue eschatologische Wirklichkeit, die sich mit
dem Alten nicht verträgt. Die Jüngerschaft Jesu verträgt sich
nicht der jüdischen Fastenpraxis.
Fasten
der Christen heute darf nicht als religiöse Leistung verstanden
werden. Sondern das Fasten ist eine von Gottes Gnade unabhängige
Handlung. Fasten heute kann ein Mittel sein, still zu werden, in sich
zu gehen und über sich nachzudenken.
Diachrone
Beobachtungen: Paradigma in beträchtlicher Reinheit
Formgeschichte
Dibelius
sieht Mk. 2,18f. als ein Paradigma in beträchtlicher Reinheit an.
Unter dem Paradigma versteht er eine Erzählform, die die ältesten
Erzähler bzw. Prediger als Manuskript bei sich getragen haben. Hier
konnten sie Material finden, das sie nach eigener Wahl ihrer
Verkündigung als Beispiel einfügen konnten (Dibelius, 1971,
S.39,40ff.). Die Antwort, was Anstoß für die Predigt aus der
Perikope gewesen ist, sieht Dibelius in der Rechtfertigung des
Fastens. Darum haben sie die Rechtfertigung des Fastens (V. 19b+20)
dem Jesuswort beigefügt (Dibelius, 1971, S.62ff.). Als
paradigmatischer Abschluss kommt dann erst Vers 20 in Frage
(Dibelius, 1971, S.62ff.). Für das Paradigma spricht nach Dibelius,
dass es ursprünglich isoliert war. Dieses trifft bei Markus 2,18f.
zu. Eine Verbindung zu der vorhergehenden Perikope ist nicht
festzustellen. Nach Dibelius wären dann die Verse 19b und 20 gültig
für die Verkündigung der Gemeinde. Es bestände so eine Konkurrenz
zwischen der Predigt der Gemeinde und der Rede Jesu.
Mit
dieser Problematik setzt sich Bultmann auseinander. Er bezeichnet die
gesamte Perikope als ein Apophthegma (Bultmann, 1970, S.17ff.). Das
Apophthegma enthält das ursprünglich isolierte Logion und den
Rahmen, der von der Gemeinde und Markus gebildet wurde. Das Logion
zeigt die Form des eingliedrigen Maschal. Beleg dafür ist für ihn
ein indisches Sprichwort: „Wer isst am Divali-Tag (d.h. Freudentag)
Mehlsuppe?“ (Bultmann, 1970, S.82,). Dieses indische Sprichwort
klingt dem Maschal in Vers 19a sehr ähnlich. Es handelt sich bei dem
Logion um ein echtes Jesuswort (Bultmann, 1970, S 84f.). Bultmann
versteht das Logion als ursprünglich isoliertes Jesuswort, das
vielleicht einen anderen Sinn als den jetzigen im Zusammenhang der
Markusperikope hatte. Er meint, dass dieses Wort nicht nur das
törichte Fastenverhalten oder irgendwelches „Trauern und Bangen“
aussagt, sondern vielleicht auch aussagen wollte, dass es töricht
sei, beim Anbruch des Gottesreiches noch irdische Schätze zu sammeln
(Bultmann, 1970, S.182ff.). Die Verse 19b und 20 sind nach Bultmann
redaktionelle Einarbeitung von Markus (Bultmann, 1970, S18).
Redaktionsgeschichte
Die
Schilderung der Situation in Markus 2,18a stammt von Markus
(Bultmann, 1970, S.54). Matthäus und Lukas haben die
Situationsschilderung weggelassen. Sie haben wahrscheinlich den
Unterschied von 18a, die Pharisäer haben Fasttag und 18b, die Jünger
der Pharisäer fasten, festgestellt. Es ist anzunehmen, dass Markus
18a als Einleitung der Perikope vorweggestellt hat. Weitere Redaktion
ist der Schluss in Vers 20 „an jenem Tag“. Diese Formulierung
kann ich nicht als Gemeindebildung ansehen. Nach Did. 8,1 „Euer
Fasten seien nicht mit den Heuchlern, denn die Fasten Montag und
Donnerstag, ihr aber fastet Mittwoch und Freitag!“ (Apostellehre)
müsste gefragt werden, warum wird der Singular benutzt, wo doch an
zwei Tagen in der Woche das Fasten üblich war?
Bei
Vergleich, aufgrund dieser Wortgruppe, von Matthäus, Lukas und
Markus ergibt sich folgendes Bild:
Matthäus
gebraucht diesen Ausdruck an drei Stellen (Mt. 7,22; 13,1; 22,23) und
versteht „an jenem Tage“ einmal eschatologisch und zweimal als
Tageszeitenzählung. Lukas versteht „an jenem Tage“ immer
eschatologisch (Lk. 6,23; 10; 12; 17,31). Markus kennt die
eschatologische Deutung nicht, da sämtliche Perikopen mit
eschatologischer Deutung „jenes Tages“ aus der Quelle Q stammen.
Er verwendet nur einmal in Kap. 4,35 „an jenem Tag“ als
Tagaufteilung. Nur Kap. 2,20 kennt den Todesbezug dieser Tagesangabe.
Die
Auseinandersetzung um das Fasten oder Nichtfasten diente Markus als
äußerer Rahmen, seine Theologie zu verkünden: Der Messias erweist
sich am Kreuz. Die markinische Grundaussage, die er hier durch den
Zusatz „an jenem Tage“ deutlich gemacht wissen will, ist etwa:
Der Bräutigam kann als Messias verstanden werden, wenn man in ihm
den am Kreuz gestorbenen und auferstanden Jesus sieht.
Literaturverzeichnis
Allgemeine
Hilfsmittel
Die Bibel nach der
Ãœbersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984,
Stuttgart 2006.
Kittel, G. (1979).
Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart: Kohlhammer.
Kommentare
Gnilka, J. (1978).
Das Evangelium nach Markus. In: EKK 2/1. Zürich: Neukirchen.
Pesch, R. (1976).
Das Markusevangelium, 1.Teil: Einleitung und Kommentar zu Kap.
1,1-8,26. In: HThK II/1. Freiburg: Herder Verlag.
Schweizer, E.
(1989). Das Evangelium nach Markus. In: Das Neue Testament Deutsch.
Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht.
Monographien
Albertz, M. (1947).
Die Botschaft des Neuen Testaments. Zürich: Evangelischer Verlag.
Bultmann, R. (1970).
Die Geschichte der synoptischen Tradition, 8. Auflage. Göttingen:
Vadenhoeck & Ruprecht.
Dibelius, M. (1971).
Die Formgeschichte des Evangeliums. Tübingen: J. C. B. Mohr.
Iber, G (Hrsg.)
(1972). Das Buch der Bücher. Neues Testament. München: R. Piper.
Jeremias, J. (1998).
Die Gleichnisse Jesu, 11. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck &
Ruprecht.
Trilling, W. (1969).
Christusverkündigung in den synoptischen Evangelien. München:
Kösel.
Wrede, W. (1969).
Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Göttingen: Vadenhoeck &
Ruprecht.
Worterklärungen
Maschal:
Ein Maschal ist ein Bildwort, das seinen Sinn durch den Zusammenhang
erhält (Erich Fascher, Die formgeschichtliche Methode)
vaticinium ex
eventu:
Weissagung (von etwas) aus dessen Ausgang; erfundene Vorhersage über
ein bereits eingetretenes Ereignis (Hubertus Kudla, Lexikon der
lateinischen Zitate)