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Seminararbeit
Literaturwissenschaft

Karl-Franzens-Universität Graz - KFU

1, 2016

Valentina G. ©
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ID# 66660







Stiller Protest

Das Schweigen als Sprachkritik in
Das Fenster-Theater von Ilse Aichinger


Inhaltsverzeichnis


1Einleitung 1

2Sprachkritik nach dem Zweiten Weltkrieg 2

3Ilse Aichingers Schweigen 3

4Biographischer Einfluss & Rezeption 6

5Interpretation Das Fenster-Theater 7

5.1Die Figuren des Fenster-Theaters und autobiographische Bezüge 7

5.2Die Bedeutung der Fenster im Fenster-Theater 10

5.3Das Schweigen im Fenster-Theater 11

6Zusammenfassung 13

7Literatur 15

8Anhang Das Fenster-Theater 16


  1. Einleitung

  2. Ilse Aichingers frühes Werk der Nachkriegszeit wurde in Deutschland und Österreich nur zögerlich aufgenommen. Ihr Schaffen passte nicht in die Kategorien der Nachkriegsliteratur und war so schwer einzuordnen. Den Erwartungen an die Literatur der Stunde Null, die Trümmerliteratur, geprägt durch Autoren wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder Erich Kästner, entsprach Ilse Aichinger nicht.

    Statt einer klar definierten politischen Position und einer offensichtlichenAuseinandersetzung mit der NS-Zeitverlangt Aichingers abstrakter Stil eine differenziertere Analyse. Das typische Sujet der Heimkehrer nach dem Krieg ist bei Aichinger nicht zu finden. Man kritisierte die Lesbarkeit und den literarischen Gehalt ihrer Texte. Auch ihre Stellung als Halbjüdin erschwerte es, Aichinger einem literarischen Standort zuzuweisen.

    So erfolgte die Rezeption eher verhalten und auch wenn ihr Werk Jahre später und besonders im Ausland mehr Anerkennung fand, wurde Aichinger nie von einem breiten Publikum gelesen.1

  3. In dieser Arbeit wird exemplarisch am Beispiel der Kurzgeschichte Das Fenster-Theater2untersucht, inwiefern Aichingers Werk dennoch ein typisches Produkt der Nachkriegszeit ist. Auch wenn sich ihr abstrakter Stil von dem ihrer Zeitgenossen abhebt, soll gezeigt werden, wie ihr Schaffen von der typischen Sprachskepsis der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt ist.

    Besonders die Sprachlosigkeit, die sich aus der Frage nach dem Umgang mit einer von faschistoider Propaganda geprägten Sprache ergab, ist hier Gegenstand der Analyse. Als Grundlage für den Gegenstand der Analyse soll zuerst betrachtet werden, wie Sprachkritik im Allgemeinen die Literatur der Nachkriesgzeit beherrschte. Davon ausgehend soll aufgezeigt werden, wie Aichinger diese Zweifel an der Sprache durch das stilistische Element des Schweigens umsetzt.

    Hierfür soll nicht nur Aichingers Sprachgebrauch und die Bedeutung, die sie dem Schweigen im literarischen Schaffen zumisst, beleuchtet werden, sondern auch biografische Details; soweit es für den Gegenstand der Arbeit relevant ist, werden ihre Erlebnisse als Halbjüdin während der NS-Zeit behandelt.

  4. Anhand der Kurzgeschichte wird analysiert, wie Aichinger das Schweigen auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene einsetzt, um Kritik am normierten, festgefahrenen Gebrauch der Sprache zu üben. Dadurch soll in weiterer Folge gezeigt werden, dass sich Aichinger, auch wenn es nicht auf erster Ebene ersichtlich ist, im Fenster-Theater gegen Diskriminierung von Andersartigkeit und damit deutlich gegen die Ideologie der NS-Zeit wendet.

    Durch die genannten Punkte und unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Erfahrungen von Diskriminierung und Bedrohung soll sichtbar gemacht werden, welche Gemeinsamkeiten sie dennoch mit den typischen Literaten der Nachkriegsliteratur teilt.

  5. Sprachkritik nach dem Zweiten Weltkrieg

  6. Das Verzweifeln an den beschränkten Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks ist charakteristisch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Missbrauch der Sprache zu ideologischen Zwecken und vor allem als propagandistisches Instrument des NS-Regimes machte die Forderung nach einem sprachlichen Neuanfang zur logischen Konsequenz.

    Damit sollte ein Bruch mit dem Geschehenen und eine Distanzierung von etablierten Denkmustern vollzogen werden. Besonders wurde diese Forderung von den Mitgliedern des Rufs formuliert, jener Nachkriegszeitschrift, die als der Vorläufer der Gruppe 47 gilt.3 Ein geistiger Neubeginn und kulturelle Erneuerung sei nur über die Literatur zu erreichen, so der Ansatz der Herausgeber.4 Sie mussten jedoch anerkennen, dass es kaum möglich war, sich radikal und endgültig der NS-Sprache zu entledigen:

  • Die Schwierigkeiten, die der Versuch eines voraussetzungslosen Neuanfangs mit sich brachte, begannen also bereits in der Sprache, die den Autoren nicht mehr problemlos zur Verfügung stand. Zu sehr war sie von der vorangegangenen Zeit geprägt worden. Der geistigen Erneuerung mußte eine Erneuerung der Sprache vorausgehen.5

  • Georg Guntermann zieht für die Arbeit der Literaten der Nachkriegszeit die Trümmerfrauen als Vergleich heran:

  • ‚Trümmerfrauen‘holten Steine aus den Trümmern, damit sie wieder verwendet werden könnten, und auch die Schriftsteller suchten in den Trümmern, den Trümmern der Sprache.6

  • Die Distanzierung von der pathetischen Propaganda der Nazis sollte durch eine Reduktion auf eine klare, präzise Sprache erfolgen. Die Forderung nach Realismusergab sich auch durch Ablehnung der mit Kalligraphie betitelten ästhetisierenden Literatur, die zu Beginn der Nachkriegszeit aufkam.7 Dem gegenüber stand der Magische Realismus, der die Erfassung der Wirklichkeit über eine einfache, sachliche Formulierung anstrebte.8 Das Schaffen im Stile des magischen Realismus stand immer unter dem Bestreben, Ideologien nicht in die Literatur einfließen zu lassen.9

  • Die Reflexion der Sprache in einer Umgebung, in der traditionelle Wertvorstellungen nicht mehr gültig sind, führte also Literaten wie Paul Celan, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Günter Eich und Ilse Aichinger unausweichlich zu einem Neuentwurf des Sprachgestus, mit dem man sich gegen die alten mentalen Verhältnisse zur Wehr setzen und ihnen keinen Zutritt zur Literatur gewähren wollte.10

  • Ilse Aichingers Schweigen

  • Bei Aichinger resultiert die Prüfung, in welcher Weise Sprache nach der NS-Zeit weiter bestehen könne, in einer Form der Literatur, die sich der Leserin/dem Leser nicht auf den ersten Blick erklärt. Die Bedeutung ihrer Erzählungen ergibt sich oft genau durch das Ausgelassene, durch das, was sich erst im Zuge der Suche nach dem Sinn eröffnet.

    Aichingers Texte wurden daher von Kritikern oft der Beliebigkeit und Unverbindlichkeit bezichtigt, denn um trotz nicht verbalisierter Inhalte dem Text Sinn zuschreiben zu können, ist die schöpferische Mitarbeit der Leserin/des Lesers gefordert. Dem Unvermögen, das Wahrgenommene mit Begriffen zu erfassen, begegnet Aichinger also nicht mit dem Versuch, die Wirklichkeit objektiv abzubilden, sondern indem sie mit ihren Texten Fragen stellt.

    Den Text einfach wörtlich zu nehmen, ohne ihn zu hinterfragen, funktioniert nicht. Damit fordern Aichingers Texte eine bedachte, geduldige Leserschaft, die sich mit Texten auseinandersetzt und die Lücken füllt.11

  • Mit dieser Form der Literatur lehnt Aichinger es ab, der Leserin/dem Leser fertig vorgedachte Wertvorstellungen vorzusetzten – ein Credo, das für alle Mitglieder des Rufs und der Gruppe 47 zu gelten scheint. Aichinger verlangt vielmehr, den gewohnten Umgang mit Sprachmustern aufzugeben und sich der Literatur abseits traditioneller Denkschemata zuzuwenden.12

  • In einem Interview über Ihren Text Meine Sprache und ich, das Aichinger 1972 gegeben hat, bekräftigt sie ihre Forderung nach einem Anschreiben gegen den etablierten Sprachhabitus:

  • Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muß, die bestehende Sprache kontern muß, die etablierte Sprache, weil sie fort muß aus dem Rezept der Wahrheit in die Wahrheit, weil sie das Gegenteil von Etabliertheit sein muß, aus sich selbst.14

  • Das Schweigen versteht Aichinger einerseits als eine Möglichkeit, Sprache entgegen etablierter Gewohnheiten zu benützen, andererseits als einen positiven Gegensatz zum Verstummen – eine Art bewusst gewählte Stille. Dabei ist dieser Umgang mit Sprache nicht als sprachliche Inadäquatheit zu interpretieren, sondern im Gegenteil als eine Möglichkeit, dem Verstummen als Resultat der empfundenen Impotenz des Wortes entgegenzutreten.

    Durch dieses Schweigen schafft Aichinger Freiräume, die sie der Leserin/dem Leser überlässt. Sie werden nicht nur durch das ‚Nicht-Sagen‘ geschaffen, also die zu Beginn genannten Auslassungen, sondern auch durch semantische Ambivalenz der Wörter. Ausgelassen wird hier die explizite Bedeutung, die sich erst im Rezeptionsprozess durch die Leserin/den Leser ergibt.15

  • Geschriebenes, das eine solche Vervollständigung fordert, bezeichnet Aichinger selbst als etwas, das „Schweigen in sich [hat]“16. In dem bereits erwähnten Interview über Meine Sprache und ich sagt Aichinger über ihre Erfahrung des Schreibens:

  • Es bedeutet für mich den Versuch, zu schweigen, vielleicht schreibe ich deshalb, weil ich keine bessere Möglichkeit zu schweigen sehe.17

  • Auch Jahre später, in einem Interview 1986, betont Aichinger die Bedeutung, die sie dem Schweigen allgemein und besonders in Bezug auf ihre schriftstellerische Tätigkeit beimisst:

  • Das Schweigen gehört für mich zum Wichtigsten auf der Welt, weil es nicht etwas Leeres, sondern etwas Erfülltes ist. Es hängt eng mit dem Tod zusammen, mit einem erfüllten Tod. Es hat auch mit dem Schreiben sehr viel zu tun. Jeder Satz, den man schreibt, muß durch ungeheuer viel ungeschriebene Sätze gedeckt sein, weil er sonst gar nicht dasteht.18

  • Es gibt jedoch auch andere Deutungen zu Aichingers Umgang mit der Sprache. Dagmar Lorenz geht etwa davon aus, dass Aichinger als Halbjüdin nicht in der Pflicht steht, ihre Sprache zu erneuern und sich von der Sprache der NS-Zeit zu distanzieren. Sie belegt diese These mit dem bildreichen, emphatischen Stil des ersten Romans Die größere Hoffnung, der sich sprachlich von der Kahlschlagliteratur abhebt.

  • Doch auch wenn Aichinger sich nicht direkt der Schuldfrage stellen muss, hat sie als Halbjüdin, die vom Antisemitismus und der Judenverfolgung direkt betroffen war, dennoch Grund, sich von einer für Propaganda und pathetische Reden missbrauchten Sprache abzuwenden. Carine Kleiber formuliert jedenfalls über Aichingers Schaffen folgende Feststellung:

  • Ilse Aichingers Werk entsteht nicht aus dem Gefühl der Sicherheit, sondern im Gegenteil aus dem einer doppelten Gefährdung, nämlich der des Todes und der des Verstummens. Die erste Gefährdung verleiht Aichingers Schaffen seine bereits untersuche metaphysische Dimension, die zweite weist auf die Sprachskepsis hin, die die Autorin mit vielen ihrer Zeitgenossen teilt […].20

  • Das Schweigen ist ein konstitutives Element des Stils Ilse Aichinger, über das sie in vielen theoretischen Texten über ihre Sprache sowie in Interviews reflektiert. Auch wenn es nicht unmittelbar von einer bewussten Abgrenzung von der Sprache der NS-Zeit bestimmt ist, so lässt sich das Streben nach einer wirklichkeitsentfremdenden Wirkung, die die Leserin/den Leser zum Denken und Füllen der Lücken animiert, doch als Antwort auf die Frage sehen, wie Literatur nach 1945 existieren kann.

    Es ist Aichingers Weg, Ideologien im Sinne von fertigen Gedankensystemen in ihrer Literatur zu vermeiden und auf die Differenz zwischen Welt und Wort reagieren zu können.

  • Biographischer Einfluss & Rezeption

  • Aichingers Werke sind stark zeitgeschichtlich und von ihren persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen geprägt. Zwar war sie als Halbjüdin nicht direkt bedroht, die Gefahr der Deportation aber dennoch gegenwärtig. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs blieb Aichinger der Zutritt zur Universität verwehrt. Ihre Mutter wurde nur verschont, weil Juden, die für ein nichtmündiges, halbjüdisches Kind verantwortlich waren, nicht deportiert werden durften.

  • Am deutlichsten ist die Verarbeitung der NS-Zeit in Aichingers Roman Die größere Hoffnung zu beobachten, in dem die halbjüdische Ellen an eine Rettung jenseits des physischen Ãœberlebens glaubt. Bei der Publikation des Romans 1948 fand er kaum Beachtung, da Heimkehrer- und Nachkriegsthematiken zu dieser Zeit bestimmend waren. Erst später wurde die Geschichte zum bekanntesten Werk Aichingers.22

  • Fünf Jahre nach dem Roman erschien Das Fenster-Theater. Die Erzählung ist Teil eines Erzählbandes, der den Titel Der Gefesselte, der ersten Kurzgeschichte darin, trägt. Zu diesem Zeitpunkt war Aichinger bereits Teil der Gruppe 47. Die Spiegelgeschichte, ebenfalls Teil des Erzählbandes, las Aichinger bei einem Treffen 1952 und erhielt dafür den Preis der Gruppe.23

  • Der Erzählband allgemein wurde von den Kritikern jedoch, ebenso wie Die größere Hoffnung, eher verhalten aufgenommen. Man bemängelte die fehlende ‚Weiblichkeit‘ ihres Stils und war unsicher, wie mit dem Werk zu verfahren sei. Es gab kaum Interpretationsversuche und man bemerkte lediglich vage die Dichte an Chiffren und Gleichnissen. In Rezensionen wurde die direkte Auseinandersetzung mit dem Werk umgangen, stattdessen wurden biographische Details Aichingers genannt.

  • Interpretation Das Fenster-Theater

  • Die Erzählung lässt sich in drei Teile gliedern: Zu Beginn erscheint nur die Frau, sie steht am Fenster und betrachtet ihre Umwelt. Nichts Neues dringt bis zu ihrem Fenster in einem Haus am Ende der Straße hinauf. Bis sie einen fremden Alten entdeckt, der in einem Fenster im Haus gegenüber auftaucht. Mit seinen Gesten und seiner Mimik scheint er mit ihr zu kommunizieren.

    Zunächst interessiert sie sich für sein Treiben und erfreut sich sogar daran. Bis im Mittelteil der Erzählung die Stimmung umschlägt: als der Mann plötzlich kopfüber steht und nur noch seine Beine zu sehen sind, ruft die Frau die Polizei. Der sofort herbeigeeilte Trupp stürmt das Wohnhaus und findet den Mann schließlich am Fenster vor. Im letzten Teil löst sich das seltsame Verhalten des Mannes auf: Es diente der harmlosen Belustigung eines kleinen Jungen, der im Wohnhaus der Frau ein Stockwerk über ihrem Fenster stand.

    Die Figuren des Fenster-Theaters und autobiographische Bezüge

    1. Drei Figuren treten als Hauptakteure im Fenster-Theater auf: die Frau, der Alte und das Kind. Daneben agieren noch die schaulustigen Nachbarn und die Polizei. Die Figuren des Fenster-Theaters entsprechen damit Aichingers typischer Repräsentation der Gesellschaft, die meist aus einem Kind, einem Erwachsenen und einem alten Menschen besteht.25 Während erwachsene Personen in Aichingers Werken oft von Moralvorstellungen und Vorurteilen geprägt sind, können die Kinder durch ihre Unvoreingenommenheit die Wirklichkeit wahrnehmen – so auch im Fenster-Theater.

  • Ihr Blick ist starr und lässt sie emotionslos wirken. Mit ihrer Fehlinterpretation des Verhaltens des Mannes ist sie an dem unnötigen Eindringen der Polizisten schuld. Sie verkörpert damit die klassische Figur eines Spitzels, der eine andere Person denunziert.

  • Das Verraten einer Person, die anders ist und nicht der Norm entspricht, wie es im Fenster-Theater passiert, ist unschwer in Aichingers Vita festzumachen. Als Halbjüdin musste sie um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Mutter fürchten. Sie erlebte den Abtransport durch die Gestapo von Familienmitgliedern. Und mit dem Verrat und der Hinrichtung der Geschwister Scholl hat sich Aichinger später ausführlich auseinandergesetzt.27 Damit kann die zentrale Handlung des Fenster-Theaters als Aufarbeitung der NS-Zeit eingeordnet werden.

  • Der alte Mann hingegen wird ausschließlich freundlich dargestellt. Er lächelt, winkt und zwinkert, während sich „sein Gesicht in tiefe Falten legt“28. Auch durch seinen ‚Trick‘, das Lachen in der Hand zu fangen und hinüberzuwerfen, wirkt er wie eine Art Clown, der sich zur Freude anderer lächerlich macht. Mit dem weißen Tuch, das er hochhält und schwenkt, bedient er sich der Symbolik des Friedens.

  • Bei Aichinger werden alte Personen häufig positiv dargestellt, wie etwa die Figur der Großmutter in Die größere Hoffnung zeigt. Zu ihrer eigenen Großmutter hatte Aichinger eine enge Beziehung und die Ermordung durch das NS-Regime bedeutete einen schmerzhaften Verlust.29 Auch wenn im Fenster-Theater ein Mann die Rolle des Alten hat, lässt sich der Verrat aufgrund von Andersartigkeit und das folgende Eindringen der Polizei mit dem Verlust der jüdischen Großmutter in Beziehung setzen.

    So erscheint er, nachdem die Frau die Polizei alarmiert hat, mit einem Leintuch umwickelt. Dadurch entsteht das Bild eines Mannes, der in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist und somit umso hilfloser ist. Auch die Assoziation mit einem Leichentuch drängt sich auf: durch die Denunzierung also dem Tod geweiht.

  • Das Erscheinen des Kindes macht den Irrtum der Frau sichtbar. Es bewohnt das Fenster über ihr und ist der eigentliche Empfänger des Schauspiels des Alten. Es ist sein Gegenspieler, der die Gesten des Mannes wiederholt: mit der Decke um den Schultern, statt dem Teppich wie der Alte, wirft es das Lachen mit der Hand zurück. Und er wirft es nicht nur zurück, sondern der Gruppe aus Polizei und Frau entgegen.

  • Es kann sich im Gegensatz zur Frau an der Darbietung des Alten vorbehaltlos erfreuen und lässt damit die Kurzgeschichte positiv enden.

  • Dass einem Kind diese Rolle im Fenster-Theater zukommt, ist nicht verwunderlich. Kinder verkörpern in Aichingers Werk oft Hoffnung und Unschuld. Der Vergleich mit der Kurzgeschichte Der Hauslehrer30bietet sich an, denn auch dort bewertet ein Kind den Wahnsinn eines Erwachsenen ganz anders als die Erwachsenen. Das Kind ist mit seinem Hauslehrer im Spiel vertieft, das von den heimkehrenden Eltern unterbrochen wird.

    Der Lehrer wird, anscheinend dem Wahnsinn verfallen, von drei Männern zu Boden geworfen und abtransportiert. Auch wenn hier mehr der Anschein entsteht, der Mann wäre tatsächlich krank und eine Bedrohung für das Kind, empfindet der Junge, genau wie beim Fenster-Theater, anders. Damit ist das Kind bei Aichinger eine Rolle, die unvoreingenommen und nicht mit Misstrauen auf Fremdartigkeit reagiert.

    In einem Interview sagt Aichinger, gefragt nach der Bedeutung, die Kinder in ihrem Werk innehaben:

  • Die Polizisten stürmen die Wohnung des alten Mannes, ohne wirkliche Indizien dafür zu haben. Die Frau gibt sogar an, sich nicht besonders klar bei ihrem Anruf ausgedrückt zu haben – dennoch nähert sich sofort das ‚Überfallauto‘. Auch vor Ort wird nicht näher geprüft, was es mit der Anklage auf sich hat. Es ist außerdem bemerkenswert, dass die Polizisten sehr geübt beim Aufbrechen der Wohnung vorgehen.

    Bei einem Überfallkommando müsste man davon ausgehen, dass sie in der Mehrheit der Fälle bereits geöffnete Wohnungen vorfinden. Aichinger betont ihre Fähigkeiten aber explizit und stellt sie damit indirekt auf die gleiche Stufe mit Einbrechern, die in den privaten Raum eines Menschen gewaltsam eindringen:

  • Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde.32

  • Der Ãœberfall findet also eher durch die Polizisten und die Frau statt, denen der schwerhörige Mann ausgeliefert ist. Dass die Männer die Schuhe ausziehen und sich anschlichen, um keinen Laut zu verursachen, verdeutlicht, dass die Frau die Polizei nicht aus Sorge um den Mann gerufen hat. Auch zeigt ihr routiniertes Arbeiten und die Selbstverständlichkeit, mit der sie der Anklage der Frau nachkommen, dass Denunzierungen solcher Art durchaus öfter vorkommen.

  • Die Bedeutung der Fenster im Fenster-Theater

    1. Die Fenster sind die Rahmen, in denen sich die Handlungen der Figuren abspielen. Besonders die Fenster des Mannes und des Kindes wirken tatsächlich wie Bühnen, auf denen sie ihr gemeinsames Spiel aufführen. Der Titel der Kurzgeschichte enthält also bereits einen Hinweis auf die Auflösung, die das seltsame Verhalten des Mannes als Spiel mit dem Kind erklärt.

      Sie sind die Öffnungen zur Außenwelt und zeigen deutlich, wie die jeweilige Person hinter dem Fenster dazu steht.

    2. Auch die Distanz, die die Figuren an den Fenstern einnehmen, ist sprechend: Die Frau lehnt nur am Fenster, obwohl sie doch den Eindruck erweckt, sich nach Neuigkeiten und Abwechslung zu sehnen. Der Alte hingegen öffnet gleich bei seinem Erscheinen das Fenster und nach den ersten Gestern hängt er „über die Brüstung, daß man Angst [bekommt]“33. Sein bunter Schal weht sogar hinaus, er überschreitet also die Grenze seines Fensters und lässt sich auch physisch mit der Außenwelt ein.

      Das ‚Über-die-Brüstung-Lehnen‘ wird beschrieben, als wäre es eine besonders mutige Handlung, die Gefahren birgt. Der Vergleich mit der Redensart ‚sich aus dem Fenster lehnen‘ bietet sich an, die die Bedrohung auf eine Metaebene ausdehnt, die er durch sein unkonventionelles Verhalten provoziert. Als erste Reaktion auf seine Gesten tritt die Frau einen Schritt vom Fenster weg und distanziert sich damit vom Unbekannten, das nicht in ihr Weltbild passt.

    Das Licht weicht jedoch der Dunkelheit („es war inzwischen finster geworden“34), als die Polizisten die Wohnung aufbrechen. Aichingers naturalistische Beschreibung stilisiert subtil die Bedrohung, die von dem ungerechtfertigten Eindringen ausgeht.

  • Auch als die Frau auf ihr eigenes Fenster blickt, ist dieses dunkel – im Gegensatz zu dem des kleinen Jungen. Hier wird mithilfe des Lichts deutlich beschrieben, wie die Figuren in der Geschichte positioniert sind. Der Mann und das Kind in erleuchteten Fenstern sind in der Lage, die Wirklichkeit zu sehen. Für die beiden ist die ganze Zeit klar, dass es sich um nichts als ein Spiel handelt.

    Die Frau hinter ihrem dunklen Fenster ist jedoch durch ihre Vorurteile und ihr Misstrauen nicht zu dieser Erkenntnis fähig.

    Das Schweigen im Fenster-Theater

    1. Das Schweigen im Fenster-Theater findet auf mehreren Ebenen statt. Zunächst fallen die Hauptpersonen auf, die kein einziges Wort aneinander richten. Hiervon kann man aber das Kind und den Alten in gewisser Weise ausnehmen, da sie trotzdem nonverbal kommunizieren. Sie schweigen, können sich aber dennoch unterhalten. Damit praktizieren diese zwei positiven Figuren das, was Aichinger in ihren Werken anstrebt: Sprache entgegen etablierter Gewohnheiten zu benützen.


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