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Seminararbeit / Hausarbeit

Stéphane Mallarmé – Scheitern auf ganzer Linie?!

4.614 / ~17 sternsternsternsternstern_0.5 Nadja D. . 2011
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Seminararbeit
Französisch

Ludwig-Maximilians-Universität München - LMU

Hr. Schneider

Nadja D. ©
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ID# 6099







Stéphane Mallarmé – Scheitern auf ganzer Linie?!


Scheitern im Œuvre Mallarmés

Ludwigs-Maximilians-Universität

Institut für Romanische Philologie

Proseminar: Einführung in die Lyrik der frühen Moderne: Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé

Wintersemester 2007/2008

Dr. Lars Schneider

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Eine gekürzte Analyse der Gedichte . 2

2.1 Le Sonneur 2

2.2 Petit Air II . 5

3 Le Livre . 9

4 Zusammenfassung . 12

5 Schluss . 14

6 Bibliographie . 15

1                    Einleitung

Die Kenntnis über Mallarmé, sein Werk und seine ideellen Hinterlassenschaften gehören eher nicht zum Allgemeinwissen. Auch ich habe ihn, vor Belegung des Proseminars, nicht gekannt. Als ich Freunden erzählte, dass ich ein Referat über ein nicht-existentes Buch halten werde, erntete ich nur ungläubige Blicke.

Wie soll denn das bitte funktionieren – Literaturwissenschaft ohne Primärliteratur? Kann man wirklich berühmt sein für etwas, woran man gescheitert ist?

Stéphane Mallarmé ist ein Dichter, der es einem nicht leicht macht, seine Gedichte zu verstehen – und der auch nie wollte, dass jeder beliebige, des französischen mehr oder weniger mächtige Mensch, seine Gedichte (zumindest auf Anhieb) versteht.[1] Aber ein Buch, das er nicht geschrieben hat, und über das sich schlaue Mitmenschen seitenweise Gedanken gemacht haben, obwohl es ja – nach dem heutigen Stand der Forschung - gar nicht existiert hat, ist eine faszinierende Sache.

Aber die große Frage bleibt: kann man das Scheitern als Mallarmé’s großes Thema auffassen? Er hat der Nachwelt (wenn auch nicht alles freiwillig[2]) ein umfangreiches Werk hinterlassen - ist es da gerechtfertigt, einer Arbeit den Titel Mallarmé – Scheitern auf ganzer Linie zu geben?

Ob er letztendlich an seinem eigenen Anspruch gescheitert ist, vermag nur er selbst zu beurteilen, ich möchte mich in dieser Arbeit dennoch seinem Scheitern nähern. Das Thema des Scheiterns zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Lebenswerk hindurch; dies wird an Hand eines seiner frühen und eines seiner späten Gedichte belegt werden.

Anschließend werde ich das in seinen Gedichten beschriebene Scheitern in Bezug zu seinem großen Projekt Le Livre setzen, welches auf seine Art das Scheitern als Grundthema beinhaltet.

Selbst wenn es möglicherweise zum Objekt des Scheiterns wurde, ist dieser Schluss nicht darauf aus, Mallarmé's Ruhm und den Wert seiner Werke zu schmälern, denn die „bedeutenden Kunstwerke sind wohl überhaupt die, welche nach einem Äußersten trachten, die darüber zerschellen und deren Bruchlinien zurückbleiben als Chiffren der unnennbaren obersten Wahrheit.[3]


2                    Eine gekürzteAnalyse der Gedichte

Ich habe mich für eine nicht vollständige Analyse der Gedichte entschieden, da das Hauptaugenmerk nicht auf Pragmatik, Semantik und Syntax der Gedichte gelegt werden soll, sondern ich das Thema des Scheiterns herausarbeiten möchte. Daher werde ich mit seinem früheren Gedicht, Le Sonneur beginnen, und mich dann Petit Air II zuwenden.

Danach werde ich zunächst Le Livre vorstellen, um dann die Thematik des Scheiterns als roten Faden in Mallarmé's Lebenswerk zu beleuchten.

2.1              Le Sonneur

Dieses Gedicht ist dem Werk des frühen Mallarmé zuzurechnen. Erstveröffentlicht wurde es am 15.03.1862 in L'Artiste. Zum ursprünglichen Text sind zusätzlich zwei weitere Versionen bekannt.[4]

« Le Sonneur développe un des thèmes [ . chers au second romantisme], à savoir l'inaccessibilité de l'Idéal aux efforts du poète, dans le cadre d'une symbolique traditionnelle, à deux volets. »[5]Somit gilt das Gedicht als noch stark von Baudelaire beeinflusst.

Le Sonneur

1 Cependant que la cloche éveille sa voix claire
2 A l'air pur et limpide et profond du matin
3 Et passe sur l'enfant qui jette pour lui plaire
4 Un angélus parmi la lavande et le thym,

5 Le sonneur effleuré par l'oiseau qu'il éclaire,
6 Chevauchant tristement en geignant du latin
7Sur la pierre qui tend la corde séculaire,
8 N'entend descendre à lui qu'un tintement lointain.

9 Je suis cet homme. Hélas! de la nuit désireuse,
10 J'ai beau tirer le câble à sonner l'Idéal,
11 De froids péchés s'ébat un plumage féal,

12 Et la voix ne me vient que par bribes et creuse !
13 Mais, un jour, fatigué d'avoir en vain tiré,
14 O Satan, j'ôterai la pierre et me pendrai.[6]


Das Sonett gliedert sich in zwei Quartette und zwei Terzette. Auffällig ist, dass das Gedicht nur aus 5 Sätzen besteht und die Quartette einen einzigen Satz darstellen. Zwischen den Quartetten und den Terzetten tritt ein Bruch auf, das lyrische Ich gibt zu, der Glöckner zu sein.

Der fiktive Sprecher des Textes, implizit in V.8 erkennbar und explizit durch Personalpronomina als lyrisches Ich in V.9/10/12/14 in Erscheinung tretend, ist als männlich zu identifizieren, er ist le sonneur; man kann auch sagen, er sei le sonneur de l'Ideal (V.10). Das Gedicht hat kein explizites lyrisches Du und ist, trotz der Apostrophe in V.14, ein monologischer Sprechakt.

Der Sprechort wird identifiziert durch le câble á sonner (V.10). Doch der Glöckner n'entend descendre à lui qu'un tintement lointain (V.8), denn er steht im unteren Teil eines dunklen und kalten Glockenturms in romanischer Bauweise (V.9).

Die in dem Gedicht geschilderte Begebenheit findet morgens (V.2) statt, doch im Gegensatz dazu empfindet der Glöckner seine Umgebung im Glockenturm dunkel wie in der Nacht(V.9) ist.

Die Sprechsituation steht zum Sprechgegenstand in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit, nur in V.14 verweist die Nutzung des Futur j'ôterai auf ein Verhältnis der Vorzeitigkeit. Die Sprechsituation in den ersten beiden Strophen des Gedichtes trägt abstrakt-allgemeine Züge, die folgenden beiden Strophen konkret-individuelle Züge.

Der Sprechgegenstand des Gedichtes, der Sonneur, wird explizit benannt. Das lyrische Ich redet über sich selbst.

Das erste Quartett stellt die Beschreibung eines noch jungen Morgens dar: la cloche éveille sa voix claire (V.1), die Luft ist pur et limpide (V.2), zusammen mit dem Kind zwischen Lavendel und Thymian (V.3/4) ergibt eine sehr paradiesische Vorstellung, es ist die Beschreibung eines locus amoenus. Den Kontrast dazu stellt das zweite Quartett dar, in dem der gar nicht zu dem beschriebenen Paradies passende Glöckner beschrieben wird.

Der Glöckner kann nämlich das Läuten der Glocken, welches für Kinder (V.3) und Vögel (V.5) hörbar ist, selbst nur als tintement lointain (V.8) vernehmen, der Glöckner scheitert an der Wahrnehmung und Teilhabe des ihn umgebenden Paradies.

Die neutrale Beschreibung der Quartette endet im ersten Terzett, in dem durch einen Vergleich Je suis cet homme (V.9) das lyrische Ich dem Glöckner gleichgesetzt wird.

Wenn man davon ausgeht, dass das lyrische Ich in diesem Gedicht stellvertretend für den Dichter steht, dann heißt dies, dass der Dichter, dem gehörlosen Glöckner gleich, gehörlos ist. Im Proseminar wurde die These aufgestellt, dass es sich um einen Dichter handelt, der nicht dichten kann, der verstummt ist und daher der Verzweiflung verfällt.

Doch vielleicht vermag der Dichter die Stimme des Ideals, das er für andere produziert, einfach nicht selbst zu vernehmen; Mallarmé ist uns nur bekannt, weil er ein (dichterisches) Lebenswerk hinterlassen hat, auch wenn er es selbst nicht als Idéal bezeichnet hätte.

Die eingeführten Isotopien werden zum einen im Laufe des Gedichts ersetzt, und zum anderen erfahren sie eine Steigerung ins Negative. Das erste Quartett ist durchdrungen von der Isotopie der Helligkeit (matin, claire V.2, pur V.1), der Kirche (und damit Gott) (angelus V.4, sonneur V.5), alles erinnert an das Paradies.

Schon das zweite Quartett hat die durchdringende Helligkeit verloren, aber die Isotopie des Lebens (enfant V.3, sonneur, oiseau V.5) hat Bestand. Auch die im ersten Quartett begonnene Isotopie des (reinen) Klanges (voix claire V.1, angélus V.4) ist noch vorhanden, auch wenn sie bereits abgeschwächt (tintement lointain V.8) wird.

In den Terzetten werden alle Isotopien durch ihre negativen Pendants ersetzt. Statt wie Hiob in seiner Verzweiflung Gott anzurufen, wendet sich der Glöckner an den Satan (V. 14), statt Lebensfreude wird der Todeswille (V.14, fatigué V.13) bekundet, statt Helligkeit herrscht nuit (V.9), und statt des Klanges herrscht eine Art Stille (V.12), der Dichter wird noch einmal in seine Gehörlosigkeit verbannt.

Die in den Quartetten aufgebaute Opposition zwischen der (momentan paradiesisch anmutenden) Welt und dem Glöckner bleibt erhalten und wird spezifiziert: der Dichter rückt an die Stelle des gehörlosen Glöckners.

Mallarmé nutzt außerdemeine nicht alltägliche Syntax: nuit désireuse (V.9) wird ohne Komplement genutzt; dies führt dazu, dass das Objekt der Begierde nicht genannt wird und sich beim Leser die Assoziation eines unendlichen Objekts ergibt – die Unendlichkeit, das Idéal wird somit zum erstrebten Objekt.

Vers 11 beinhaltet eine für den Leser schwer verständliche Zeile. Der Vogel aus dem zweiten Quartett erscheint hier durch eine Trope wieder. Aber er ist zu einem Symbol für die Sünde geworden. Im Proseminar haben wir besprochen, dass ébat (V.11) bei Mallarmé für den Flügelschlag, somit also sinnbildlich für den Vogel steht. Auch plumage (V.11) verstärkt diesen Eindruck.

Dann wird dieser Vogel mit froids péchés (V.11) verbunden. Im Plural notierte Sünden, die kalt, also ohne Gefühlsregung begangen wurden, werden ironischer Weise mit einem treuen (feál V.11) Vogelwortfeld verbunden: die Sprache wird absolut und der Leser verwirrt. Meiner Meinung nach wollte Mallarmé damit aussagen, dass das Idéal greifbar war, aber ihm, als Glöckner wie als Dichter wieder entwischt ist.[7]

In dem Gedicht dokumentiert Mallarmé zunächst das Versagen und das anschließende Verstummen des Glöckners und damit seiner selbst. Er scheitert an dem Gegensatz zwischen l'idéal und le réel.

1 Indomptablement a dû
2 Comme mon espoir s'y lance
3 Éclater là-haut perdu
4 Avec furie et silence,
 
5 Voix étrangère au bosquet
6 Ou par nul écho suivie
7 L'oiseau qu'on n'ouït jamais
8 Une autre fois en la vie.
 
9 Le hagard musicien,
10 Cela dans le doute expire
11 Si de mon sein pas du sien
12 A jailli le sanglot pire
 
13 Déchiré va-t-il entier
14 Rester sur quelque sentier![8]


Erstveröffentlicht wurde dieses elisabethanische Sonett 1893, als Mallarmé es Alphonse Daudet ins Poesie-Album schrieb. Es gibt drei Gedichte mit dem Titel Petit Air, doch ist dies das einzige, in dem die Leichtigkeit des Titels nicht zu seinem tragischen Inhalt passt. Selbst nach intensiver Einarbeitung in die Thematik des Gedichts behält es eine gewisse Unverständlichkeit für den Leser.

Ausgelöst wird diese durch den Versuch Mallarmé's, zwei widersprüchliche mythologische Vorstellungen miteinander zu verknüpfen (siehe S. 8f.) .[9]

Das Gedicht ist in drei Quartette und einen Zweizeiler am Ende aufgeteilt. Die ersten beiden Quartette bilden einen einzigen zusammengehörenden Satz, die beiden folgenden Strophen eine Exclamatio.

Das lyrische Ich tritt explizit durch das Personalpronomen mon (V.2/11) auf. Es ist kein Adressat vorhanden, der eigentliche Akteur der beschriebenen Handlung wird erst im zweiten Quartett genannt und ist ein Vogel.

Im Gedicht wird auf keinen wirklichen Sprechort verwiesen; so wird zwar der Wunsch geäußert, der Vogel möge rester sur quelque sentier (V.14), doch verweist dieser Vers nicht eindeutig auf einen bestimmten Weg. Man kann aber davon ausgehen, dass der Vogel sich wohl im Freien in die Luft aufschwingt, denn der Ausgangspunkt für seinen tollkühnen Flug ist ein bosquet (V.5).

Die Sprechsituation ist vorzeitig, nur im zweiten Quartett in Vers 6 ist sie gleichzeitig. Insgesamt trägt die Sprechsituation eher konkret-individuelle Züge: zunächst der bestimmte, seltene Vogel und dann der Bezug auf den Dichter selbst schließen eine Verallgemeinerung aus.

Die Sprachfunktion wandelt sich von referentiell (die Beschreibung des Vogels in den beiden ersten Strophen) zu emotiv (der Dichter vergleicht sich mit dem Vogel).

Der Sprechgegenstand des Gedichtes ist explizit genannt: es ist das Aufstreben und daraus resultierende Niedergehen eines Vogels, der stellvertretend für das Dichter-Ich steht.

Die auffallendste Isotopie ist die zwischen der Lautäußerung (voix étrangère V.5, sanglot V.12) und der plötzlich eintretenden Stille (nul écho V.6, silence V.4). Éclater (V.3) trägt zwei Bedeutungen: einerseits könnte es so viel wie auflachen bedeuten und würde somit zu den Lautäußerungen zählen, es könnte aber auch bersten bedeuten und somit zur Isotopie des Kaputten, Weltlichen, Realen (perdu V.3, jamais V.7, déchiré V.13) und auch des Todes (rester V.14, éclater V.3) gehören, der die Isotopie Leben (espoir V.2, oiseau V.7) gegenüber steht; beide Wortbedeutungen von éclater kann ich mir im Sinnzusammenhang dieses Gedichtes vorstellen – somit liegt meiner Meinung nach hier ein Isotopienbruch vor.

Die Isotopien bleiben im Verlauf des Gedichts relativ konstant, die am Anfang vorherrschende Isotopie des Lebens wird zum Ende hin durch die Isotopie des Todes, des Scheiterns am Leben verdrängt.

Schon das erste Wort des Textes hat eine herausragende Stellung. Durch eine Inversion ist das Adverb indomptablement (V.1) vor das Verb gestellt und erfährt damit eine Verstärkung. Der Leser stolpert über diese besondere grammatikalische Behandlung, die noch verstärkt wird durch die Verbform a dû (V.1) – irgendetwas unbezähmbares wird unausweichlich geschehen, das ganze erste Quartett beschreibt skizzenartig eine noch nicht benannte Aktion.

Ohne dass der Leser das Subjekt des Satzes kennt, vergleicht sich das lyrische Ich mit diesem. Irgendjemand fliegt so hoch hinaus comme mon éspoir s'y lance (V.2). Und obwohl man noch nicht weiß, mit wem hier der Vergleich angestellt wird, beschreibt dieses Quartett die Symbolik des Gedichtes: eine für den Leser unverständliche Hoffnung und Motivation hoch hinaus zu wollen und dessen Scheitern.

Erst im zweiten Quartett wird das Subjekt des Satzes eingeführt: der Vogel, der irgendwie anders ist als die anderen. Er ist nur ein einziges Mal zu hören und erhält noch nicht einmal eine Antwort von seinen Artgenossen – entweder weil er nicht verstanden oder weil er einfach ignoriert wird. Das lyrische Ich vergleicht sich mit einem Vogel, dessen Motivation zum Senkrechtstart nach oben unbekannt bleibt.

Niemand weiß, warum der Vogel so gehandelt hat. Nun kann man an dieser Stelle auch die Schlussfolgerung ziehen, dass – da Vogel und lyrisches Ich die selbe Hoffnung und Motivation teilen – sie auch beide das Desaster, das Scheitern an ihren Idealen, als Los haben. Dies entspricht der Auffassung des Totemismus, dem Glauben an eine ideale und reale Verbindung mit einem Totemtier, dessen Tod den eigenen Tod ankündigt.[10]

Aber wie lässt sich dies sinnbildlich auf Mallarmé übertrage? Etwa, dass er seine gesamte Dichterkarriere - er schreibt Gedicht um Gedicht um sich dem Ideal zu nähern - als Annäherung an das Ideal sieht – und für das Erreichen dieses auch den Tod in Kauf nähme? Dann steht der Vogel für die perfekte Karriere: einen einziger, vernichtender, verhängnisvoller Gesang – und dann trägt er alle Konsequenzen, auch den Tod.

Vielleicht ist dies eine absolute Definition des Dichters.[11]

Das lyrische Ich vergleicht sich aber noch ein zweites Mal mit dem unglücklichen Vogel. Nach den ersten beiden Quartetten kommt es zu einer Art Neuanfang. Zum einen endet der erste, außerordentlich lange Satz. Zum anderen wird ein neues Subjekt eingeführt: le hagard musicien (V.9).

Der durch si (V.11) eingeleitete Nebensatz ist eigentlich eine doppelte Frage: kam der sanglot pire (V.12) von dem Vogel, oder von dem Dichter – cela dans le doute expire (V.10). Wer diesen imaginären Wettkampf letztendlich gewinnt, ist ohne Belang – der sanglot pire (V.12) gehört zu beiden und verstärkt noch einmal den Eindruck, dass die tragische Figur dieses Vogels für den Dichter steht.

Der finale Zweizeiler behandelt das erhoffte Schicksal des hagard musicien (V.9). Das durch Inversion nach vorne gestellte erste Wort déchiré (V.13) deutet dem Leser dieses Ausrufs an, dass éclater (V.3) wortwörtlich im zerstörenden Sinn zu verstehen ist.

Wie déchiré und entier (V.13) gleichzeitig zusammen passen, ist schwierig zu sagen. Von dem Vogel soll gar nichts – nicht einmal die Erinnerung an seinen Gesang – bestehen bleiben.[13]

Im Gegensatz zu dem Vogel kann man sagen, dass « Mallarmé, dans ce cas, était assuré au moins de la survivance de l'oeuvre du mort dans les jardin allégoriques de la poésie ».[14]

Das Gedicht ist «  le symbole métaphysique le plus intense de cette cruauté de l'Idéal, que Mallarmé toute sa vie a tenté d'apprivoiser sans pouvoir jamais cesser de la sentir ».[16]  Es ist also ein Gedicht über das Scheitern.

3                    Le Livre


Die Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts hat die Kunst in eine gesellschaftliche Isolation gedrängt, indem sie die Universalität der dichterischen Erkenntnis in Frage stellte. Mallarmé versuchte, sie wiederherzustellen durch die universale, totale und bewusste Produktion und Konstruktion, er sieht die Dichtkunst als Weg zum verloren gegangenen Absoluten, dem Ideal. Seine Antwort: das „absolute Buch“.[17]

Doch was ist „Le Livre“? Betrachtet man den Wortgebrauch Mallarmés, so scheint es, dass er mit dem Begriff livre ein literarisches magnum opus meint, er sieht den Sinn der Welt in ihrer literarischen Aufarbeitung, in ihrer Erfassung durch das Buch: tout, au monde, existe, pour aboutir à un beau livre.[18]

Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass nicht Mallarmé selbst den Titel Le Livre geschaffen hat.[19] In dieser Zusammensetzung ist er auf Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker zurückzuführen. Mallarmé selbst nutzt livre, oevre, seltener Livre aber so gut wie nie Le Livre. In seiner Autobiographie und in Quant au Livre nutzt er die Groß- und Kleinschreibung der Buchstaben als ein visuelles Mittel der Betonung, oft unterstreicht er Argumente damit.[20]

Denn seine Idee war es, durch die Absolutsetzung des Buches einen Gegenpool auf die industrielle, massenhafte Herstellung, Verwendung und somit Entwürdigung des Buches zu schaffen. Eine isolierte, ungeheuere Geistesanstrengung sollte es von der (Bücher)Masse, zum Beispiel dem Geschriebenen in der Presse,[22] abheben, sein Werk sollte nur für einen kleinen, eingeweihten Kreis, der seine Intention kannte und teilte, zugänglich sein.[23]

Ihm schwebte die Schaffung einer « l’explication orphique de la Terre »[24] vor, die Bibel diente ihm als Vorbild. « Le volume, je désigne celui de récits ou le genre, procède à l’inverse: contradictoirement il évite la lassitude donné par une fréquentation directe d’autrui et multiplie le soin qu’on ne se trouve vis-à-vis ou près de soi-même. »[25]

Ob der universelle und auch absolute Anspruch dieses Projekts dazu dienen sollte, das Verschwinden des religiösen Rückhalts in der Gesellschaft aufzufangen,[26] kann ich an dieser Stelle nicht beurteilen.

Doch hat sich Mallarmé nicht nur die Bibel als Vorbild genommen, sondern sich auch an das Messzeremoniell der lateinischen Messe als Vorlage der Zelebrierung seines Werkes angelehnt: der Maître, der die Interpretation des Buches an Geladene weiter gibt, entspricht in seiner der Rolle dem katholischen Priester.

In seiner Aufsatzsammlung Quand au Livre bezeichnet Mallarmé selbst sein Werk als instrument spirituel.[28] Die Lektüre des aus Zeichen, Zahlen und Bildmetaphern bestehenden Buches entspricht einem geistigen Würfeln und Kombinieren, denn es sollte ein Abriss des ästhetisch Machbaren und der möglichen Verfahren der modernen Literatur enthalten.

Wenn dieses Werk denn je geschrieben worden wäre, hätten mit Hilfe eines zufälligen Auswahlverfahrens die Buchblätter miteinander kombiniert werden sollen, um herauszufinden, ob aus dieser zufälligen Konstellation ein Sinn heraus gelesen werden kann.[29]Denn er suchte « à contempler un principe de toutes les oeuvres possibles [ .] à surmonter, par l’analyse et la construction combinées des formes, toutes les possibles de l’univers des idées, ou de celui des nombres et des grandeurs ».[30] 

Die Konzeption seines Buches ist die Antwort auf die von ihm empfundene unbegrenzte Leere in der ihn umgebenden Welt. Mallarmé verwirft die Idee von Substanz und permanenter Wahrheit und schließt jeden begrenzten, endgültigen Sinn aus, « en tous cas, la vérité de la littérature totale n’est pas une, elle est multiple ».[31]

Somit hat Mallarmé's Buch zwei Grundprinzipien: zum einen, dass es seinen Inhalt durch Kombination der einzelnen Blätter und durch die Assoziationskraft des Lesers hervorbringt: es ist eine Art Kollektivunternehmen. Der zweite Grundsatz ist, dass das literarische Produzieren absolut ist. Das Dichten an sich ist nicht das bloße Abbilden und Bewahren der Realität, sondern es gilt « la seule réalité c’est la littérature! »[32]

Aber wie kommen wir dazu, über ein erstmal gescheitertes – da nie realisiertes - Buchprojekt zu reden? Mallarmé selbst sagt:

«[…] mais l’initiative […] raccorde la notation fragmentée […] cela me possède et je réussirai peut-être; non pas à faire cet ouvrage dans son ensemble (il faudrait être je ne sais qui pour cela!) mais à en montrer un fragment d’exécuté, à en faire scintiller par une place l’authenticité glorieuse, en indiquant le reste tout entier auquel ne suffit pas une vie. »
[33]

Das absolute Buch muss also ein fragmentarischer Entwurf bleiben, seine Ausführung ist in der Realität unmöglich. Denn zum einen scheitert Mallarmé an seinem Anspruch einer idealen (göttlichen) Universalität – der Mensch Mallarmé muss an dieser Aufgabe scheitern. Zum anderen ist es unmöglich mit Hilfe der Literatur eine ideale Realität schaffen zu wollen.[34]


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