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Seminararbeit
Literaturwissenschaft

RWTH Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule

1,7; Kruschwitz, WS 2012/13

Martha D. ©
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ID# 32905







Inwiefern lässt sich in ausgewählten Erzählungen in Franz Kakas Frühwerk „Betrachtung“ mit Hilfe der Methode des close reading eine einheitliche Struktur der Angst definieren?


Inhaltsverzeichnis

1.    Einführung

2.    Vorstellung der Methodik

2.1      New Criticism und close reading

2.2      Martin Walsers Theorie der kafkaschen Variable

3.    Vergleich ausgewählter Texte aus dem Werk „Betrachtung“

3.1      Thematik

3.2      Figuren

3.3      Struktur

4.   Die Struktur der Angst

5.    Fazit

6.   Literaturverzeichnis


1.      Einführung


„Bei Kafka muß man das Leben aus dem Werk erklären, während das Werk auf die Erhellung durch die biographische Wirklichkeit verzichten kann.“[1] – Dieses prägnante  Zitat aus Martin Walsers Werk „Beschreibung einer Form“ soll dieser Arbeit als Basis zugrunde gelegt werden und zugleich die im Folgenden näher ausgeführte werkimmanente Analysemethode des close reading begründen.

Des Weiteren  wird sich auch Walsers Modell der kafkaschen Variable im Verlauf meiner Untersuchung als aufschlussreich erweisen.

Die drei Erzählungen, welche ich nicht nur auf ihre thematischen, sprachlich-formalen, erzählperspektivischen und strukturellen Gemeinsamkeiten, sondern im Besonderen hinsichtlich ihrer Unterschiede diesbezüglich untersuchen möchte, sind allesamt Teil des 1912 erstmalig veröffentlichten Werkes „Betrachtung“[2] und somit der frühen Schaffensphase Kafkas zuzuordnen: „Der plötzliche Spaziergang“[3], „Entschlüsse“[4] sowie „Die Vorüberlaufenden“[5].

Ziel dieser Analyse ist es,  den Aspekt der Angst, welcher in vielen von Kafkas Erzählungen von elementarer Bedeutung ist, in der Struktur der drei ausgewählten Texte selbst zu suchen und so herauszustellen, inwiefern man in Kafkas Erzählungen von einer einheitlichen Struktur der Angst sprechen kann.

Die historische Kontextualisierung der Erzählungen, die häufig angewandte Methode der literaturwissenschaftlichen Psychoanalyse sowie die Stützung der Interpretation auf biographische Faktoren des Menschen Franz Kafka werden naturgemäß der Werkimmanenz in dieser Arbeit zu Gunsten der intensiven Beschäftigung mit dem Text selbst in den Hintergrund treten.


2.      Vorstellung der Methodik


Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zunehmend herauskristallisieren wird, kann es sehr aufschlussreich sein, den Text aus sich selbst heraus verstehen zu wollen. Allein schon deshalb bietet sich eine werkimmanente Analyse eines so

vielschichtigen Autors wie Kafka, dessen Erzählungen so häufig von außen her zu erklären versucht wurden, nahezu an, um zum einen der Gefahr, Kafka mit den in seinem Werk auftretenden Figuren gleichzusetzen, zu entgehen und zum anderen sich seinem detailgetreuen und bis in den letzten Satz ausgebauten Strukturgerüsts anzunähern, welches zwar so vieler seiner Erzählungen zu Grunde zu liegen scheint, sich in seiner Komplexität, Weitläufigkeit und in seinen mannigfaltigen Ausprägungen jedoch  immer wieder als beachtenswert erweist.


2.1    New Criticism und close reading


Der New Criticism ist eine Ausprägung der werkimmanenten Schule, welche vor allem in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft der 50er und 60er Jahre von Bedeutung war.[6] Texte werden als in sich geschlossene, ästhetische Gebilde, in denen sich Form und Inhalt gegenseitig bedingen,  verstanden,  welche man auf ihre Sprache, Formalität und im Hinblick auf den Bezug der Einzelteile zueinander und zum einheitlichen Ganzen untersucht, ohne dabei aber die Bedeutungsfindung als Ziel aus den Augen zu verlieren.

Beispiele, welche uns auch in der sich anschließenden Analyse begegnen werden, sind Mehrdeutigkeiten, Paradoxien, Ironien und ähnliches.


 Die Methode des close reading, einfach übersetzt als „enges, dichtes Lesen“[7], ist dementsprechend der richtungsweisende Interpretationsansatz, welcher mit dem New Criticism einhergeht, und äußere Faktoren weitgehend auszublenden versucht.


2.2     Martin Walsers Theorie der kafkaschen Variable


Ein Werk, welches sich ebenfalls vom New Criticism inspirieren ließ[8], ist die einleitend schon erwähnte Publikation „Beschreibung einer Form- Ein Versuch über Franz Kafka“[9] von Martin Walser, in welcher er ausführlich auf den Erzählstil Kafkas eingeht und darüber hinaus ein wiederkehrendes strukturelles Muster innerhalb der Erzählungen  Kafkas beschreibt: die kafkasche Variable.

Darunter versteht er die Grundform der Erzählbewegung Kafkas, einen zyklischen Vorgang, in dem zuerst eine Behauptung aufgestellt wird, welche danach schrittweise zurückgenommen wird, bevor sie letzten Endes aufgehoben, durch eine neue ersetzt, oder, in nicht wenigen Fällen, in das absolute Gegenteil verkehrt wird, bevor der Vorgang mit dieser neuen Behauptung wieder von vorne beginnt.


„Der Rhythmus eines kafkaschen Werkes begreift sich nun aus der Anordnung der Vorgänge, aus der Weise, wie in diesen Behauptung und Aufhebung verwirklicht werden.“[10]


Des weiteren geht Walser davon aus, dass es eben diese „Leerform“, wie er sie nennt, ist, welche zwar in vielfältiger Ausprägung auftritt, in ihrem Ursprung aber beständig ist und so an die Stelle eines Veränderungen hervorrufenden Prozesses rückt, wann immer in Kafkas Werken Entwicklung und Fortschritt oder auch nur das Bedürfnis danach thematisiert werden.


„Diese geschaffene Welt existiert nicht in der Entwicklung, sondern in der Wiederholung ihrer Teile. […] Bei Kafka sind diese Teile nie heterogen, weil sie ausschließlich Variationen einer einzigen Leerform sind.“[11]


Diese Ansicht lässt sich auch noch in anderen Werken wiederfinden. Beispielsweise steht sie mit der Beda Allemanns im Einklang, wenn er über Kafkas Geschichtsauffassung sagt: „In ihr gibt es die Begriffe »Fortschritt« und »Entwicklung« nicht, oder doch nur in einem wesentlich modifizierten Sinn.“[12].


Ein weiterer relevanter Aspekt ist der, das dieses Spiel von Behauptung und Aufhebung keineswegs nur auf der Ebene der Argumentation, also des Inhalts, stattfindet, sondern gleichermaßen die formale Ebene durchzieht. Dies wird besonders anschaulich in der Aussage Walsers dargestellt, die besagt,„[…], daß Behauptung, Aufhebung und Einschränkung bis in den einzelnen Satz hinein verwirklicht sind.“[13]


Nachdem nun die Methodik einführend dargestellt wurde, werde ich mich jetzt den Erzählungen zuwenden und eben diese Methodik zur Anwendung bringen.


3.      Vergleich ausgewählter Texte aus dem Werk „Betrachtung“


Als kleiner Einstieg soll ein einfacher Blick auf die Titel der drei ausgewählten Erzählungen dienen:

„Der plötzliche Spaziergang“, „Entschlüsse“ und „Die Vorüberlaufenden“ – Alle drei beziehen sich auf einen Vorgang, wobei der erste und der dritte außerdem eine physische Bewegung vermuten lassen, wohingegen ein Entschluss auf geistiger Ebene stattfindet. Figuren werden nur in Form der Vorüberlaufenden erwähnt, dies allerdings auch nur äußert vage und charakterlos.

Eine weitere Auffälligkeit ist, dass alle drei Titel rein thematisch auch Teil ein und derselben Erzählung sein könnten: Ein plötzlicher Spaziergang, bei welchem jemand Entschlüsse trifft, welche eventuell etwas mit den Vorüberlaufenden zu tun haben könnten, erscheint durchaus als plausibel. Dieser „jemand“ bleibt bisher aber schemenhaft und unbestimmt, da er nicht weiter genannt oder näher beschrieben wird.



3.1  Thematik

Was alle drei Texte gemeinsam haben, ist die Thematisierung einer Situation, in der eine Entscheidung getroffen werden soll. „Der plötzliche Spaziergang“ handelt oberflächlich von dem Entschluss zu einem abendlichen Ausbruch aus Heim und Familie hinaus auf die nächtliche Gasse.

Der Text „Entschlüsse“ hat seine Thematik schon im Titel angedeutet. Genauer geht es hier um den Entschluss, sich aus einem „elenden Zustand zu erheben“[14]. Im dritten Text, „Die Vorüberlaufenden“, wird der Entschluss, in eine nächtlich auf der Gasse beobachtete vermeintliche Verfolgung einzugreifen oder dies zu unterlassen thematisiert. Was ebenfalls allen Texten gemein ist, ist dass sie alle den Denkprozess des Ringens um eine Entscheidung darstellen, auch wenn die Entscheidungen selbst auf den ersten Blick unterschiedlicher Natur zu sein scheinen.

Inwiefern diese Entscheidungen wirklich getroffen werden oder sich eine Veränderung einstellt, soll an dieser Stelle erst einmal offen gelassen werden, da zur Beantwortung dieser Frage eine ausführliche Strukturanalyse notwendig sein wird. Diese folgt im Punkt 3.3, in welchem ich eben diese Struktur untersuchen werde.


3.2  Figuren

Nach diesem thematischen Einstieg, sollen nun die auftretenden und erwähnten Figuren untersucht werden. Diese lassen sich trennen in das erzählende Medium auf der einen Seite und die Figuren in seiner Umwelt auf der anderen.

Besonders das für einen Großteil der Prosa außergewöhnliche und für den Autor Kafka doch so typische auf ein Minimum reduzierte erzählende Medium ist interessant: Wo sich in anderen Erzählungen leserleitende auktoriale Erzähler oder Ich-Erzähler finden lassen, welche dem Leser Eindrücke aus ihrer Gefühls- und Gedankenwelt vermitteln und sich als Identifikationsfigur anbieten, tritt diese Instanz in den drei ausgewählten Erzählungen fast gänzlich hinter den Text zurück:


„Der Erzähler fehlt, das Medium ist die ‚wichtigste‘ Person des Werkes, also geschieht alles ohne Brechung, in sich selbst, von sich selbst her, und alle Deutung bleibt uns überlassen.“[15]


Im Text „Der plötzliche Spaziergang“ geht dies sogar soweit, dass anstelle der Personalpronomina ein gestaltloses „man“ gesetzt wird:


„Wenn man sich[…] entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, […]wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, […]wenn man nun trotz alledem[…]aufsteht […]- dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten.“[16] [Hervorhebung J.D.]



In der Erzählung „Entschlüsse“ liegen die Dinge bezüglich der Erzählinstanz etwas anders. Hier wird für die Passage der ersten Beschreibung der körperlichen Reaktion sowie der Interaktion mit den Figuren A., B. und C. das Personalpronomen „Ich“ verwendet, dies explizit allerdings auch nur einmal:


„Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A. stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz  und Mühe mit langen Zügen in mich hinein.“[17][Hervorhebung J.D.]


Doch nur diese Anfangssequenz ist durch die Ich-Perspektive gekennzeichnet. Im restlichen Text tritt dafür noch nicht einmal mehr ein distanziertes „man“ auf, sondern nur noch sehr passive Formulierungen, wie z.B. „Aber selbst wenn es so geht […]“[18] oder „Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen[…].“[19], in welchen das erzählende Medium beinahe gänzlich verschwunden zu sein scheint.


In dem Kurzprosastück „Die Vorüberlaufenden“ wird ein einzelnes direkt am Anfang stehendes „man“ im weiteren Verlauf durch das Personalpronomen „wir“ ersetzt. Dieses „wir“ scheint den Leser mit einzuschließen, da außer dem erzählenden Medium und den Vorüberlaufenden keine anderen Figuren erwähnt werden, welche in das „wir“ mit eingeschlossen werden könnten.

Ein veranschaulichendes Beispiel hierfür ist dieser Satz: „Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt[…].“[20][Hervorhebung J.D.]

Vermutlich begründet sich die Bestrebung des erzählerischen Mediums, eine Allianz mit dem Leser einzugehen, darin, dass es bei dem Versuch, sein Nichteingreifen zu rechtfertigen, nach Halt, Bestätigung und vielleicht auch einem Verbündeten sucht oder aber die damit einhergehende Schuld auf mehreren Schultern verteilen will.


Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass alle drei erzählerischen Instanzen  kaum Rückschlüsse auf Charakteristika zulassen, schemenhaft und distanziert bleiben und stellenweise komplett im Text selbst verschwinden und so den Lesser zwingen,  sich eine eigene Meinung über das Geschehen zu bilden.

Doch welche Rolle spielen dann die im Bezug zu diesen Erzählinstanzen stehenden anderen Figuren, welche uns in den Texten mehr oder weniger passiv begegnen?


Die benannten Figuren sind im ersten Text die Familie und der Freund, im zweiten A., B. und C. und im dritten die Vorüberlaufenden sowie der hypothetische Dritte, welchen beide verfolgen könnten.

Alle treten nur in ihrem Bezug zur Erzählinstanz auf und sind deshalb sehr auf diese Funktion bzw. Beeinträchtigung reduziert: Die Familie, aus der es auszutreten gilt, und sei es nur für diesen einen Abend; der Freund, in seiner Funktion diesen Vorgang noch zu verstärken; A., B. und C. in ihrer Funktion, den kaum abzuwartenden Schritt des Austritts aus einem trostlosen Zustand zunehmend zu verzögern und so die Rücknahme und die Verkehrung ins Gegenteil des eigentlichen Vorhabens einzuleiten; und zuletzt die beiden Vorüberlaufenden und der hypothetische Dritte, welche durch ihr Tun das erzählende Medium zur Rechtfertigung vor sich selbst zwingen.


3.3  Struktur


Betrachtet man nun vor dem Hintergrund der gewonnen Einsichten über die Thematik und die Figuren die Struktur der drei Texte, fällt ein Aspekt sofort ins Auge: der hypothetische Charakter, der allen drei Texten gemein ist. Alle Texte sind durchzogen von theoretischen Konditionalen, Paradoxien, Ironien und Widersprüchen.


„Der Konjunktiv, die indirekte Rede, ein vielfacher Gebrauch von Adverbien der Vermutung, des Nicht-Wissens sind die Weisen, in denen die K.s auf die ihnen unbekannte Umwelt reagieren. Diese Reaktion ist also nicht Feststellung, sondern Deutung.“[21]


Dieses Zitat Walsers mag sich auf andere Werke Kafkas als „Betrachtung“ beziehen, ist deshalb aber nicht weniger gültig. Schon im ersten Satz des ersten Textes heißt es


„Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint […]“[22]


Das hypothetische „wenn“, welches zudem in dieser Erzählung 10 Mal Verwendung findet, wird nur noch übertroffen von der direkt darauf folgenden beißenden Ironie des Gegensatzes zwischen einem „endgültigen“ Entschluss und dem Verb „scheinen“.



Auch wenn es sich in diesem Text eher um eine lange und nicht minder hypothetische Konditionalkette als um eine Konjunktivkette handelt, lässt sich hier trotzdem noch ein Bezug zu der unpersönlichen „man“-Konstruktion anstelle eines Personalpronomens spannen: Dadurch, dass keine Erzählinstanz visualisiert oder charakterisiert wird, erscheint die Erzählung noch unbestimmter und theoretischer und eher wie eine Überlegung als ein Erzählung.

Gerade die konditionale „wenn-dann“-Struktur ist zudem prägend für diesen Text: Der erste Teil beschreibt so die Vorgänge eines scheinbar ganz normalen Abends vor dem zu Bett gehen, bevor das Geschehen mit dem Ausdruck „trotz alledem“ seinen Umschwung findet und die zuvor als „selbstverständlich“ beschriebenen Argumente, die gegen einen Aufbruch sprechen würden, immer weiter aus dem Blickfeld treten lässt.  Der Text gewinnt durch Verkürzung der aufzählungsartigen „wenn“-Konstruktionen an Tempo und das Gedankenspiel weicht der körperlichen Bewegung, als das erzählende Medium das Heim seiner Familie verlässt.



In diesem Zitat wird deutlich, dass anstelle der zum wirklichen Austritt aus der Familie und dem damit einhergehenden Gewinn von Freiheit und Selbstständigkeit notwendigen geistigen Bewegung eine rein körperliche tritt.

Während der Körper sich weiter von der Familie entfernt, stellt der Geist fest, dass diese körperliche Kraft das geistiges Bedürfnis überwiegt, diese Veränderung zu vollziehen und zu „ertragen“. Der Begriff des Ertragens ist zudem negativ konnotiert und stellt somit eine zusätzliche Rücknahme dar.

Wenn nun das Pendant der „wenn“-Konstruktion eintritt und mit dem lange hinaus gezögerten finalen „dann“ den vorherigen Konditionen gegenüber gestellt wird, erreicht die Erzählung ihren vermeintlichen Höhepunkt: den Austritt aus der Familie. Dieser wird folgendermaßen beschrieben:


„ […]- dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.“[24]


Eine Veränderung findet dementsprechend eigentlich gar nicht statt, der Austritt aus der Familie bleibt aus.


Mit den Begrifflichkeiten Martin Walsers ausgedrückt:

Die Behauptung, dass ein Austritt aus der Familie stattfindet, wird durch zahlreiche sprachliche und strukturelle Aspekte immer weiter zurückgenommen, bis sie sich im Höhepunkt und der vermeintlichen Erfüllung der Behauptung ins genaue Gegenteil verkehrt.

Und damit nicht genug: Der letzte Abschnitt der Erzählung, mit der Aussage, dass im Zuge des Austritts ein Besuch bei einem Freund den Vorgang der Veränderung und Entwicklung noch verstärke, ist im Prinzip der explizite Beweis des Gegenteils gegeben: Das nach Selbstbestimmung und Freiheit strebende Erzählmedium würde so doch nur von der einen gefestigten Struktur, von der es abhängig ist (die Familie), in die nächste (der Freund) wanken.

Unterstütz wird dieser Aspekt noch durch die im letzte Absatz auftretende passiv formulierte Aussage „Verstärkt wird alles noch […]“[25][Hervorhebung J.D.]. Hier liegt treffenderweise das sogenannte Vorgangspassiv vor, welches die gesamte Erzählung noch einmal auf den Punkt zu bringen scheint.



„Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A. stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz  und Mühe mit langen Zügen in mich hinein.“[27]


In Kombination mit dem selten auftretenden Personalpronomen „Ich“ wirkt es hier allerdings schon aktiver inszeniert als noch in „Der plötzliche Spaziergang“.

Trotzdem lassen sich diesem Abschnitt schon Hinweise auf die weitere Entwicklung des Textes entnehmen: während A. noch überschwänglich begrüßt wird, reduziert sich die Reaktion zu B. schon auf ein freundliches dulden und bei C. ist es dann nur noch ein quälendes Aufnehmen des Gesagten. Dies alles führt im Folgenden hin zum Umschwung des Textes im zweiten Abschnitt:

„Aber selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht ausbleiben kann, das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und ich werde mich im Kreis zurückdrehen müssen.“[28]


Der dritte Abschnitt begründet sich durch das Wort „Deshalb“[29] auf die im zweiten Abschnitt präsentierte Schlussfolgerung und behauptet auf deren Basis das exakte Gegenteil der ursprünglichen Aussage. Auch hier lässt sich deutlich der Bezug zur kafkaschen Variable Walsers herstellen. Typisch, wie sich schon in der ersten Strukturanalyse vermuten ließ, scheinen die mit der fortschreitenden Rücknahme der Ursprungsbehauptung einhergehenden ironischen und paradoxen Ausdrücke zu sein:

Die „schwere Masse“[30] im Bezug zu dem Verb „fortblasen“[31] bildet den ersten Kontrast. Die Aufforderung, „das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit eigener Hand nieder[zu]drücken“ bildet durch die bildliche Beschreibung des Lebens als Gespenst, einem meist körperlosen Wesen, und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit, dieses mit der Hand niederzudrücken, den zweiten.

Beide deuten auf eine nur oberflächlich als solche erscheinende Abfindung mit der extremen Kapitulation hin und könnten wohl auch so interpretiert werden, dass sie schon ein neuer Schritt zu einer weiteren Gegenbehauptung  sind.


Betrachtet man nun im Vergleich zu den beiden anderen Texten die Erzählung „Die Vorüberlaufenden“, finden sich schon im ersten Satz mehrere Bezüge:

„Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht […]“[32]- Das Motiv des nächtlichen Spaziergangs aus dem ersten Text wird aufgegriffen und durch die „wenn man“-Floskel würde sich dieser Satz auch formal einwandfrei in „Der plötzliche Spaziergang“ eingliedern.

Der erste Abschnitt wirft die Situation auf: Das erzählende Medium sieht auf einem nächtlichen Spaziergang von weitem einen Mann auf sich zu laufen und scheint festzustellen, dass man diesen Mann einfach vorbeilaufen lassen würde. Die zwei „selbst wenn“-Konstruktionen „[…]selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit[…]“[33] scheinen eine Kombination aus Beschreibung der Situation und zugleich Einstieg in die nachfolgende Rechtfertigung zu sein, wobei der Ausdruck „selbst wenn“ impliziert, dass der erzählenden Stimme bewusst ist, dass die nachfolgenden Zusätze zur Beschreibungen des Mannes eigentlich ein Eingreifen unterstützen bzw. begründen würden.


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