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Seminararbeit
Deutsch

Universität zu Köln

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ID# 82492







Universität zu

Institut für Deutsche Sprache und Literatur

Hauptseminar: „Schulgeschichten im 20. Jahrhundert“

Seminararbeit:


Rückblick nach vorn –

Alfred Anderschs „Schulgeschichte“
Der Vater eines Mörders


Fächer: Deutsch, Philosophie, Latein (Staatsexamen)

,


Inhaltsverzeichnis


A. Einleitung 1

B. Hauptteil 3

1. Inhalt und formale Struktur der Erzählung 3

2. Entstehungsgeschichte und Erscheinungsort 4

3. Machtanspruch und Widerspruch 5

3. 1. Ein Jäger auf der Pirsch – Oberstudiendirektor Himmler oder der Allmachtsanspruch einer konservativen Autorität 5

3. 2. „Ich gehöre nicht zum Rindvieh“ – Konrad von Greiff oder der hochmütige Anspruch des Adels 8

3. 3.: „Aber Herr Direktor!“ – Studienrat Kandlbinder oder der uncouragierte
Einspruch der Intelligenz 12

3. 4. „,Schriftsteller‘, sagte Franz .“ – der Schüler Franz Kien oder der passive Widerspruch der inneren Emigration 16

4. Gebhard und Heinrich Himmler – Generationskonflikt einer Wahlverwandtschaft? 21

5. „ .noch lieber als Maschinen wären sie Munition“ ‑ die Perspektive des Lehrers L. in Horvaths Jugend ohne Gott 27

C. Schlußbetrachtung 30

D. Literaturverzeichnis 32


( .) ich bin in baiern aufgewachsen

ich kenne das wort nazi seit meiner kindheit ( .)1

  1. A. Einleitung

Wie eine „politische Bombe“ würde seine Erzählung Der Vater eines Mörders einschlagen, hat der streitbare wie umstrittene Schriftsteller Alfred Andersch prognostiziert.2 Verdient diese schmale, kurz vor Anderschs Tod im Februar 1980 erstmals in der Süddeutschen Zeitung erschienene „Schulgeschichte“ diese Bedeutung wirklich und wenn ja: inwiefern?

Vor einiger Zeit lief eine Werbekampagne für Präservative im Fernsehen, welche die so ko­mische wie banale These aufstellte, daß unter Einsatz dieses Produkts „Unmenschen“ wie Hitler und Konsorten nicht zustandegekommen wären, wobei die Bildeinstellungen jeweils ein älteres Ehe­paar zeigten, das die Eltern eben dieser Unmenschen darstellen sollte.

Interessant wird die daraus resultierende Fragestellung aber natürlich weniger im biologischen denn im soziologischen-pädago­gischen Sinne: Waren diese Unmenschen Unfälle, die auch anders hätten verhütet werden können? War es folgerichtig, daß aus solchen Familienverhältnissen mit solchen Erziehungsmethoden in solchen gesellschaftlich-politischen Konstellationen aus einem solchen Sohn ein solcher Unmensch entstehen mußte oder bloßer Zufall? Hatte „der Schoß“, „aus dem dies kroch“ (Brecht) die Ungeheuer erst fruchtbar gemacht für ihre spätere Furchtbarkeit gegen die Welt oder hat sich im Gegenteil die Furchtbarkeit selber zur Welt gebracht? Leider helfen uns hier die Historiker oft nicht weiter.

Viel wissen die Geschichtsbücher über diese Söhne zu berichten, die zu Mördern an der Menschheit wurden, aber nur wenig über deren Eltern.

Anderschs Der Vater eines Mörders holt nun mit der Person des Oberstudiendirektors Geb­hard Himmler für eine Unterrichtsstunde aus Anderschs Jugend einen Mann aus dem Dunkel der Ge­schichte und gibt ihm Konturen zu einer Zeit (1928), in der noch niemand wissen konnte, daß sein Sohn Heinrich, der spätere SS-Reichsführer, einmal der „größte Vernichter menschlichen Lebens“ (Andersch) werden würde.

Und der Text sagt viel aus darüber, wie es von Weimar zum Dritten Reich kommen, wie sich eine nicht unproblematische, aber doch kulturell überaus produktive Ge­sellschaft durch ein so ausgewiesen geistfeindliches Regime fast ohne Gegenwehr in die Kata­strophe stürzen lassen konnte. Denn hinter dem Zeitbild der letzten Jahre Weimars wird die natio­nalsozialistische Verbrechensherrschaft in dieser Erzählung schon sichtbar.

Insofern läßt sich Der Vater eines Mörders tatsächlich als politische Bombe bezeichnen3, wobei Andersch natürlich wußte, daß die für dieses Werk gewählte Ãœberschrift nicht „nur einen ge­schichtlichen Tatbestand“ festhält, wie er dies in seinem Nachwort etwas fadenschei­nig nüchtern behauptet, sondern die Bombe erst zünden würde ‑ genauso wie die Enthüllung, daß der Autor und seine Hauptfigur identisch sind: „Franz Kien bin ich selbst“.

Diese Hausarbeit will also hauptsächlich auf Anderschs erste wichtige Frage in seinem Nachwort zu Der Vater eines Mörders eine Antwort suchen: „daß und wie der Unmensch und der Schul­mann miteinander zusammenhängen. Oder ob sie einander gerade nicht bedingen.“ Sie will zeigen ‑ auch unter Rückgriff auf die geschichtlichen Fakten, die bei einem politischen Autor wie Andersch nicht vom Werk zu trennen sind. ‑ ,daß es von der psychischen Gewalt und der geistigen Auslese der Schulmänner knapp sechs Jahre vor Hitlers Machtergreifung nur ein weiterer Schritt zur physischen Gewalt und Auslese der Unmenschen war.

Es soll dabei die These geprüft werden, daß Der Vater eines Mörders ‑ so paradox dies klingt ‑ in einer Retrospektive des Autors auf die Vergangenheit die schreckliche Zukunft erahnen läßt: so­zusagen als Rückblick nach vorn. Diese Prüfung soll methodisch erfolgen über eine Charakterisie­rung vor allem des Rektors Himmler und seines Verhaltens gegenüber dreier so unterschiedlicher Menschen wie des Studienrates Kandlbinder, Konrads von Greiff und schließlich natürlich vor allem Franz Kiens selbst, die Himmler deshalb vor der ganzen Klasse zu zerstören sucht, weil sie alle drei auf ihre Art gegen seinen Allmachtsanspruch rebellieren.

Opposition zu brechen und Opportunismus zu produzieren ‑ nichts anderes haben die National­sozialisten wenig später getan. Sie brauchten nur das, was schon begonnen worden war, fortzu­führen und zu radikalisieren. Diese Radikalisierung war insofern revolutionär, weil eine Generation die Konsequenzen aus einem Denken zog, welche die Väter nicht zu ziehen wagten.

Eine Interpretation des Verhältnisses Direktor Himmler und Heinrich Himmler, so wie Franz Kien es beschreibt, soll klären, inwiefern hier der Begriff „Generationenkonflikt“ angebracht sein könnte. Bezüge zu Ödön von Horvaths Roman Jugend ohne Gott, aber auch zu dem Schulkapitel in Tho­mas Manns Die Buddenbrooks sollen die Entwicklung der Infiltration der Schüler durch die „pädagogische“ Macht beleuchten.

Auf Anderschs zweite Frage„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ soll nur sekundär ein­gegangen werden. Sie kann den Horizont weiten für die pädagogische Problematik und eine Ein­ordnung in die Seminarsthematik „Schulgeschichten“.

  1. B. Hauptteil

    1. 1. Inhalt und formale Struktur der Erzählung

Der Inhalt von Der Vater eines Mörders ist kurz erzählt: Aus der Sicht des vierzehnjährigen Schülers Franz Kien wird der Verlauf einer Griechischstunde in der Untertertia des Münchner Wittelsbacher Gymnasiums im Mai 1928 geschildert. Schuldirektor Himmler tritt unangekündigt ein, um die Klasse zu inspizieren und nimmt dem Klassenlehrer Kandlbinder sehr schnell die Stunde aus der Hand, in deren Verlauf zwei Schüler von Himmler examiniert werden: der Adlige Konrad von Greiff und Franz Kien selbst ‑ Greiff aufgrund seines Betra­gens und Kien vorder­gründig wegen schlechter Leistungen.

Mit einem Ausblick auf die überraschend ruhige Aufnahme der schlechten Nachrichten durch Kiens Vater endet die Erzählung.

In dieses an sich nicht sehr vielschichtige lineare Erzählgeschehen, das nie ganz den Handlungsort des Klassenzimmers und die Handlungszeit der einen Unterrichtsstunde aus dem Blickfeld verliert, sind verschiedene Erzählebenen eingeflochten: Zum einen als Rückblenden Kiens, deren wichtigste wohl der Konflikt des Klassenlehrers Kandlbinder mit Greiff sechs Wochen vor der Prüfungsstunde (38/39)4, Kiens Zusammentreffen mit Himmler in der Schü­lertoilette „vor ein paar Wochen“ (112/113) und schließlich die Gespräche im Elternhaus des Schülers (59/ 60; 70/71) sind.

Allein die letztere Retrospektive verläßt den Schulort.

Zum zweiten lassen sich zeitliche Vorausblenden des Erzählers auch neben dem bereits erwähnten, in den Epilog integrierten Ausblick auf die Reaktion von Kien senior auf die Relegation seiner Söhne aufweisen ‑ nämlich innerhalb des linearen Erzählgeschehens, wenn es beispielsweise auf Seite 115, kurz vor Kiens Prüfung durch Himmler, heißt: „Er (Kien) ahnte nicht, daß er nach die­ser Stunde zu keinen Späßen irgendwelcher Art mehr aufgelegt sein würde.“ (28)5 An diesem und vielen anderen Beispielen6 zeigt sich auch, daß Der Vater eines Mörders nicht konsequent – gleichsam innermonologisch ‑ aus der Perspektive Kiens erzählt wird, sondern daß auch ein auk­torialer Erzähler präsent ist (von Andersch „Schriftsteller“ genannt).

Beide ,Erzählweisen’ – die des Ich-Erzählers Franz Kien und die des Erzählers, der über Franz Kien spricht – wechseln ab.

Im Nachwort gibt Andersch dem Leser einen Einblick in die „Werkstatt des Schreibens“. Warum er nicht offen die „Ich“-Form gewählt hat, da er doch die Identität von Kien und seinem Autor hervorhebt, weiß Andersch zu begründen: Durch größere erzählerische Freiheit und ein gewisses Maß an Distanz könne höhere Authentizität erreicht werden.

Ob diese Distanz allerdings tatsächlich erreicht wird, muß noch untersucht werden.

    1. 2. Entstehungsgeschichte und Erscheinungsort

Andersch hat das Erscheinen seines letzten Werks nicht mehr erlebt: als er am 21. Februar 1980 starb, befand sich Der Vater eines Mörders gerade in der Drucklegung. Schwer krank schon, im ständigen Ringen „mit einem Zustand der Apathie, den ich nicht beschreiben kann“7 hatte er diese „Schulgeschichte“ den Sommer und Herbst 1979 hindurch in Benzona geschrieben.

Die Arbeit an dem Nachwort zu der Erzählung begann er erst am 31. 12. 1979. Am 21. 1. 1980 , also genau einen Monat vor seinem Tod, teilte er Friedrich Hitzer telefonisch mit, daß er gerade im Begriff sei, das Nachwort abzuschließen.

Der Vater eines Mörders bildet die dritte und letzte der autobiographischen Franz Kien-Ge­schichten, von denen Andersch noch weitere sieben geplant hat. Daß Franz Kien und sein Autor identisch sind, hat Andersch erst in dieser Erzählung der breiten Öffentlichkeit enthüllt.

Hacks hat eruiert, daß sich schon in der Sammelhandschrift mit Vorarbeiten zum Seesack auf Ein­zelblättern mit der Datierung „gründonnerstag, 15. 4. 1976“ der Eintrag findet: „himmler-story (der vater eines mörders)“.9

„Mein Leben verbindet sich für mich in Erinnerung an Augenblicke“ hat Andersch einmal ge­schrieben ‑ diesen einen Augenblick der Prüfung und Relegation des damals 14jährigen Andersch durch Oberstudiendirektor Himmler in einer Schulstunde im Jahre 1928 erst gedanklich, dann literarisch zu verarbeiten, daran schien Andersch tatsächlich ein Leben lang gearbeitet zu haben.10 Denn bereits in den ersten Schulerinnerungen von 1941, in der Skizze zu einem jungen Mann äh­nelt die Charakteristik des Oberstudiendirektors Mächler, besonders auch im Hinblick auf die Beschreibung des Äußeren, auffallend dem Bild, das der Autor 39 Jahre später von Rektor Himmler zeichnet:

„Oberstudiendirektor Mächler, der die Anstalt leitete, verkörperte mehr die Prinzipien pedan­ti­scher Staatsautorität, der ,Einordnung über alles’, statt unserem gesunden jugendlichen Indi­vi­dualismus ein­fühlende Führung zu geben; welch mephistophelischer Geist in dem stattli­chen Mann mit dem weißen Spitzbart und den hinter goldgeränderter Brille kühl blickenden Augen lebte, konnten wir damals noch garnicht erkennen.“11


„Neben dem offensichtlich gesunden und korpulenten Oberstudi­endirektor“ (15) wirkt der Klassenlehrer Dr. Kandlbinder auf Kien wie „ein magerer, blasser und unbedeutender Mensch“, „farblos“ und langweilig.

Im Ganzen wird Himmler beschrieben als eine Person, die ‑ wieder im Gegensatz zu Kandlbinder mit seinen „schwarzen Haaren“, die „immer ein bißchen ungekämmt“ (15) wirken ‑ penibel auf ihr Äußeres acht gibt: Da ist der „dünne, hellgraue Anzug“ mit aufge­knöpfter Jacke, unter der sich ein weißes Hemd über dem Bauch wölbt (13), da ist die tadellos geschlungene, „glänzend blaue Krawatte“ (17), das „hell gerötete( ) Gesicht unter glatten weißen Haaren“ (16), die gesunde und trotz der vielen Fältchen glatt wirkende Haut (63).

Und da ist vor allem die „Brille mit dünnem Goldrand, hinter der blaue Augen scharf beobachte­ten“(16). Nichts an Himmlers Äußerem erscheint zufällig, unbestimmt, ungeordnet.

Das Farbspektrum blau/ gold/ weiß/grau spielt eine wichtige Rolle in diesen (Vor)verweisen des äußeren Scheins auf Himmlers Charakter, die Andersch dem Leser geradezu nahelegt.13 Indem der Autor sowohl positiv konnotierte Farben (blau, weiß) einsetzt als auch eine eindeutig pejorative (grau), wird der Rezipient schon im vorhinein auf die Ambivalenzen in Himmlers Charakterzügen aufmerksam gemacht.14 Anderschs scheinbar so nüchterner Schreibstil erweist sich nicht nur hier als symbolisch aufgeladen.15 Dem Prinzip der Konstruktion ist das Prinzip der Deskription untergeordnet.

Es wird sich zeigen, daß der Rektor nach außen eine Stärke demonstriert, die er innerlich nicht besitzt.

Er will sich etwas Edles und Herrschaftsvolles (Gold) geben, hat auch für Kien zuerst etwas Kö­nigliches an sich (17), und wird gegenüber dem Schüler Konrad von Greiff sich schließlich als Jupiter bezeichnen, der darf, was das Rindvieh eben nicht darf. Gleichzeitig spielt er den Pater Scholae, den altväterlichen (weiß), verständnisvollen, um das Wohl seiner Schüler besorgten Päd­agogen, der mit dieser Art auch Franz Kien einzunehmen versucht.

Jedoch, wie sich zeigen wird, ohne Erfolg. Denn Kien traut ihm nicht, und das von Anfang an:

„Franz hatte sofort den Eindruck, daß der Rex, obwohl er sich ein wohlwollendes Aussehen geben konnte, nicht harmlos war; seiner Freundlichkeit war bestimmt nicht zu trauen, nicht­einmal jetzt, als er, jovial und wohlbeleibt, auf die in drei Doppelreihen vor ihm sitzenden Schüler blickte.“ (17)

Dieses Mißtrauen steigert sich, je länger die Stunde dauert. Denn anfangs ist dies ja lediglich eine Ahnung Kiens, der äußeren Maske Himmlers keinen Glauben schenken zu dürfen, genauso wie das noch unsichere Erstaunen des Schülers darüber, daß der Direktor die Klasse mit „meine Un­tertertia B“ (17) anredet, „als gehörten wir ihm“ (18). Immer wieder werden dabei Kiens Zweifel über die Redseligkeit des Rex verdrängt von einer Art Bewunderung über Himmlers Art, und daß, obwohl sie Kien ‑ wie gesagt ‑ von Anfang an als trickreiche, einnehmende, strategisch einge­setzte erscheint.

Himmler hat in seiner schlagkräftigen wie rücksichtslosen Art also manipulatorische Kräfte, die er gezielt einzu­setzen und ‑ je nach der Persönlichkeit seines Gegenübers ‑ zu variieren versteht.

Dabei ist auffällig, daß nur die Versager und Oppositionellen in der Klasse seine Aufmerksamkeit erregen. Sie will er in das System einordnen und, wenn dies nicht gelingt, ausgliedern und bloß­stellen, kurz: ebenso zerstören wie Heinrich Manns bekannter Professor Unrat alle ihm Ungehor­samen seiner Klasse und Umwelt zu „zerschmettern“ sucht16, nur daß Himmler Unrats Aura äu­ÃŸerlicher Lächerlichkeit eben nicht hat.

Für die eher braven, guten Schüler hingegen ‑ oftmals die Favoriten aller Pädagogen, da sie an ihnen ihre vor der Mehrzahl der Klasse gescheiterten Erzie­hungskonzepte exemplarisch zu legitimieren versuchen ‑ zeigt der Direktor nur wenig Interesse.

Während der Klassenprimus Schröter, den der durch den plötzlichen Besuch des Direktors „perplexe Kandlbinder“ (14) eilfertig nach vorne gerufen hat, seine Aufgaben löst, blättert der Direktor scheinbar gelangweilt das griechische Lehrbuch der Klasse durch. „Jedenfalls schien er sich so wenig für den Gymnasiasten zu interessieren, wie dieser sich für ihn.“ (26) Zwar kann Himmler auch Schröter nicht zurück auf seinen Platz schicken, ohne ihn belehrt zu haben, und sei es durch eine philologisch zweifelhafte und vorsichtig von Kandlbinder dann auch angezweifelte Kritik an Schröters Aussprache des Griechischen.

Schröter ist der Typus des Genies, den nichts anficht, weil er über allem steht, also auch nie­man­dem zu widerstehen braucht. Er ist keine Herausforderung für Himmler, er kann gehen. Direktor Himmler ist auf der Jagd und sucht ein wirkliches Opfer. Die Klasse scheint dies bemerkt zu ha­ben, denn jetzt erst kommt das, was Kien anfangs nur geahnt hatte, nach und nach bei Himmler zum Vorschein:

„Der Vater der Schule, der gütig nach einer seiner Klassen sah ‑ damit war es nun endgültig vorbei; dort oben, hinter dem Pult wie auf einem Anstand, saß jetzt ein Jäger, auf einer Pirsch in den Unterricht, dick, ungemütlich, einer von der feisten Sorte der Revierbesitzer und Scharfschützen. Die dreißig Untertertianer ( .) duckten sich.“(36)

Dieses Bild vom Pirschgang wird dann noch einmal auftreten, als der Direktor, auf der Suche nach einem neuen Opfer, neben Kien stehenbleibt wie „ein Jäger, der ein Knacken im Unterholz gehört hat.“(66). Minute für Minute, die in der einen Stunde verrinnt, schält sich dabei der Charakter Himmlers heraus. Er ist der Typus des Egozentrikers mit Minderwertigkeitskomplexen, welche er dadurch zu kompensieren versucht, daß er alle ihn in irgendeiner Weise anzweifelnden oder ihm widerstehenden Personen zu brechen und ihm wieder unterzuordnen versucht.


      1. 3. 2. „Ich gehöre nicht zum Rindvieh“ – Konrad von Greiff oder der hochmütige Anspruch des Adels

Kandlbinder nimmt den Schüler Konrad von Greiff an die Tafel, ohne ihn beim Namen zu nennen. Der Klassenlehrer ist immer noch verunsichert, weil Konrad in einer früheren Stunde, in welcher der Schüler von Kandlbinder nur mit „Greiff“ angesprochen worden war, hochfahrend auf sein Adelsprädikat bestanden hatte: „,Von Greiff, wenn ich bitten darf!’“ (38).

Auch vor dem Direktor legt Greiff sein ironisch-provokatives Verhalten nicht ab, wie Kien ‑ wiederum zuerst anhand nonverbaler Verhaltensweisen ‑ zu erkennen glaubt:

„Schon die Art, in der dieser sich erhob, schnell, aber nicht eifrig, sondern durch ein forciertes Hochwerfen des Oberkörpers ließ die Klasse hoffen, daß ihr ein Gaudium bevorstand.“ (37)

„Schiefschultrig, impertinent und offensichtlich entschlossen, sich zu amüsieren“ ironisiert Greiff die vom Rex verwendete Anrede „Herr Doktor Kandlbinder“. Diesen Konfrontationskurs gegen den Unterordnungsanspruch Himmlers wird Greiff im folgenden konsequent durchhalten, wobei er jedoch stellenweise seine ironische Ãœberlegenheit verliert. Himmler scheint gerade dies bezweckt zu haben, geht er doch auch gegenüber dem Schüler Greiff aus­gesprochen taktisch vor.

Zunächst erhöht Himmler Konrad von Greiff nach dessen erster Provokation überraschender­weise erst einmal, indem er die Klasse darüber informiert, „daß sie in Konrad nicht nur einen gewöhnli­chen Von-Träger in ihrer Mitte hatte, sondern ( .) einen Baron“ mit dazu noch ausgezeichneten Noten im Griechischen (41 f.). Gleichzeitig werden beide Auszeichnungen aber wieder relativiert, denn erstens werden Konrads Leistungen im Griechischen von Himmler wie eine Behauptung anderer dargestellt und damit wieder in Frage gestellt („Du sollst ja ein ausgezeichneter Grieche sein.“); und zweitens spricht der Rex ‑ ganz wie Kandlbinder damals, aber im Unterschied zum Klassenlehrer viel berechnender ‑ den Adligen dann sofort wieder ohne jedes Adelsprädikat an.

All dies sind natürlich Provokationen des Rektors, um den überheblichen, der gesellschaftlichen Prestigehierarchie bewußten Adligen aus der Reserve zu locken wie ein Wild, das unvorsichtig wird, wodurch es leichter zu erlegen ist. Und Greiff wird unvorsichtig. Der indirekten Beleidigung seiner Person durch Himmlers Satz „Quod licet Jovi, noch licet bovi“ kontert Konrad mit einer direkten Beleidigung:

Weil Greiff in der Standeshierarchie einer formell zwar demokratischen, gedanklich aber immer noch monarchistischen Republik tatsächlich über Himmler steht, läßt sich der Rex ‑ statt Greiffs „persönliche Beleidigung, die unerhörte Frechheit“ (48) mit sachlicher Strenge zu bestrafen ‑ auf ein „Gewörtel“ ein, bei dem er Greiffs Person abzuwerten versucht:

„;Greiff ( .) das ist eigentlich nur so ein Übername, den sich viele Ritter zugelegt haben. ( .) die meisten von ihnen waren ursprünglich nichts weiter als namenlose Bauernschinder ( .)’“.(49)

Aber dies reicht dem Direktor noch nicht. Mit hilflosen, ja, geradezu grotesk anmutenden Argu­menten muß er nun auch noch seine Person aufwerten und über die des Schülers stellen:

„Eure Schlösser sind nicht sehr alt’ ( .);Wir Himmlers sind viel älter.’ ( .) ; Nachweisbar ganz altes Stadtpatriziat vom Oberrhein.’“ (52/53).

In diesem Konflikt mit Greiff, bei dem der Rex zunehmend die Maske emotionaler Distanz ablegt und sich als Person einbringt, kommt Himmlers Minderwertigkeitskomplex wohl am deutlichsten zum Vorschein. Seine Eitelkeit verträgt es einfach nicht, wenn jemand über ihm steht, aber er weiß natürlich, daß das Sozialprestige eines Adligen 1928 immer noch eindeutig größer ist als das eines Schuldirektors.

Insofern stimmt es schon, was Kien bemerkt, wenn er meint, daß Himmler „die Partie verloren hatte“ (52) und daß Greiff aus diesem „Zweikampf“ „als Sieger hervorgegan­gen war.“ (57).

Weil der Direktor nach der Aussage von Kiens Vater „schwarz bis in die Knochen“ (60) ist, zu­dem der konservativen Bayerischen Volkspartei (BVP) angehört, läßt er bei Greiff, der wahr­scheinlich aus einem konservativen Elternhaus stammt, ganz offenkundig mehr durchgehen, als es der Leser von ihm an dieser Stelle erwarten dürfte. Er will Greiff zunächst nur maßregeln ‑ des­wegen die ursprünglich angesetzte Stunde Arrest nach Konrads erster Provokation ‑ und vor der Klasse abwerten, aber er weiß, daß er ihn sozial nicht zerstören kann: ein reicher Adliger wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderes Gymnasium finden, das ihn aufnimmt.

So ist selbst die Relegation nach Konrads ironischem „Gratuliere!“ eigentlich keine Relegation im Wortsinne eines „Verweises“, denn wozu sollte Himmler Konrads Vater „bitten“, ihn „von der Schule zu nehmen“, wenn eine Relegation eigentlich nicht des Einverständnisses eines Elternteils bedarf? Wohl deshalb, weil er es nicht wagt, einen Adligen, der dazu noch im Paradefach des Humanismus ausgezeichnete Leistungen zeigt, einfach von der Schule zu weisen ‑ das muß intern geregelt werden.17 Konrads Vater soll einsehen, „,daß es für einen solchen Lümmel wie dich auf meiner Schule keinen Platz gibt.’“ (55).


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