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Seminararbeit
Erziehungswissenschaf­t

Universität, Schule

Albert-Ludwigs Universität Freiburg

Note, Lehrer, Jahr

2,0, Töpfer, 2014

Autor / Copyright
Ines W. ©
Metadaten
Preis 4.80
Format: pdf
Größe: 0.11 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 49077







Rousseaus Erziehungsroman über Emil

Menschenfreundlichkeit als Mittel zum Zweck einer Herrschaft über das Kind?


  1. Einführung

Lange Zeit waren Kinder einfach nur kleine Erwachsene und die Phase der Kindheit erfreute sich keiner besonderen Beachtung. Der Erzieher hatte die Aufgabe, dem Kind Wissen einzutrichtern und es unter strenger Behandlung zu einem großen Erwachsenen und gesellschaftsfähigen Menschen heranzuziehen. Allmählich veränderte sich aber die Auffassung von Erziehung und Kindheit.

Die Idee kam auf, dass es keine autoritäre Person mehr geben sollte, die offen bestimmen konnte, was das Beste für das Kind sei, sondern der Ruf wurde laut, dass sich der Erzieher zurückziehen und dem Kind das Gefühl geben solle, dass es selbstbestimmt und ungezwungen aufwachsen könne. Man wollte die Kinder selbst Konsequenzen ziehen lassen aus deren selbstgemachten Erfahrungen.

Hier eröffnet sich der Wendepunkt in der Geschichte der Erziehung, die Begründung einer neuen und modernen Erziehungswissenschaft. Das Jahr Null dieser modernen Ansicht schreibt Jean-Jacques Rousseau. Seine Idee: das Kind wird belehrt durch die Kontakte mit der Wirklichkeit selbst und nicht durch Lehranweisungen einer Autoritätsperson. Vielmehr gibt es im Erleben des Kindes gar keine Autoritätsperson.

Die Erziehungsperson baut lediglich ein Setting auf, in welchem das Kind richtige Erfahrungen machen kann oder auch mal scheitern.

In dieser Arbeit soll nun die Person Rousseau und seine Ideen von Erziehung anhand seines Erziehungsromans Emil oder Über die Erziehung vorgestellt werden. Darüber hinaus möchte ich mich aber auch kritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob seine so hoch gepriesene Menschenfreundlichkeit in der Erziehung nicht doch nur als Mittel zum Zweck einer Herrschaft über das Kind dient.

  1. Die Person Rousseau

Jean-Jacques Rousseau lebte in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Er war ein Philosoph und politischer Theoretiker, der sich aber unter anderem auch mit pädagogischen Überlegungen beschäftigte. In seiner turbulenten Kindheit entwickelte Rousseau „eine starke Abneigung gegen autoritäres, Gehorsam verlangendes Verhalten“1

und durch seine Weltoffenheit und durch seine Reisen, die er als junger Erwachsener unternahm, lernte er verschiedenste Lebensweisen kennen, die ihn auch in seiner späteren philosophischen Arbeit nachhaltig prägten und dort zum Tragen kommen sollten, indem er nicht nur scharfe Kritik gegenüber der politischen Wirklichkeit äußerte, sondern auch gegenüber der Gesellschaft und Zivilisation an sich.2

Neben den pädagogischen Ausführungen über sein fiktives Wunschkind Emil, die den Anlass für diese Hausarbeit bieten und mit denen ich mich in den folgenden Kapiteln noch näher auseinandersetzen möchte, verfasste Rousseau auch politisch-theoretische und sozialistische Schriften, wie zum Beispiel Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes und Abhandlung über Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.3 Die erstgenannte Schrift behandelt grundlegende moderne Demokratiegedanken und wird oft auch als Wegbereiter der französischen Revolution gesehen.

Die Grundidee von einer menschlichen Gesellschaft, die auf einem Vertrag beruht, dessen Voraussetzung der Gemeinwille und das Gemeinwohl ist, bleibt bis heute herausragend.4 In der zweitgenannten Schrift entwickelt Rousseau eine Gesellschaftskritik, die besagt, dass der Mensch von Grund auf gut und friedfertig sei, jedoch durch die Gesellschaft, das heißt durch das Leben in der Zivilisation, schlecht werde und so eine soziale Ungleichheit zwischen den Menschen entstehe, die es nicht geben dürfte.5

Da nun meines Ermessens nach die wichtigsten Fakten zu Rousseau genannt wurden, soll nun im folgenden Kapitel auf Rousseaus Werk Emil oder Über die Erziehung eingegangen werden, welches kurz zuvor erwähnt wurde und worum sich, wie schon gesagt, nun der Rest meiner Arbeit drehen wird.

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  1. Rousseaus Erziehungsroman über Emil – eine kurze Zusammenfassung

Rousseaus Erziehungsroman über Emil von 1762besteht aus fünf Büchern und handelt von der Erziehung eines fiktiven Zöglings namens Emil. In jedem Buch geht es um eine bestimmte Lebensphase dieses Jungen, welche ich nun kurz zusammenfassen möchte, damit im nächsten Kapitel Rousseaus Erziehungsentwurf und ethische Grundsätze davon abgeleitet und anhand seines Werks verdeutlicht werden können.

Im ersten Buch geht es um die ersten Lebensjahre Emils und Rousseau erläutert darin

zunächst einmal seine Grundgedanken über und die Arten der Erziehung. Dazu eröffnet er sein Werk mit dem Satz „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“6 Hier zeigt sich, dass Rousseau die Natur als sehr bedeutend im Erziehungsprozess eines Menschen ansieht, nämlich dass diese den guten Menschen durch eine natürliche Erziehung erhält, wohingegen die menschliche Erziehung diesen verdirbt.

Andere Lehrer und Erzieher neben der Natur sind also die Menschen aber auch die Dinge. Als Arten der Erziehung beschreibt Rousseau im Anschluss die öffentliche Erziehung, die Erziehung in Jesuitenkollegien, die private Erziehung, die Berufserziehung, sowie die praktische und die behütete Erziehung.7 Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich jedoch keine näheren Erläuterungen dazu geben, da ich denke, dass dies nicht unbedingt im Interesse der Fragestellung liegt.

Es sei nur so weit darauf eingegangen, dass Rousseau für die ersten Lebensjahre eines Zöglings wohl die natürliche, negative und private Erziehung fern von gesellschaftlichen Zwängen bevorzugt, deren Eigenschaften ich später noch erklären möchte. Dann zeigt er einige Punkte zum Beginn der geistigen Entwicklung des Zöglings auf und verweist auf Dinge, die beachtet werden müssen, wenn man den Tätigkeitsdrang des Zöglings und dessen erste Launen, sowie das Erlernen der Sprache berücksichtigt.8

Im zweiten Buch geht es um die darauffolgenden Jahre bis zur Pubertät, in denen Emil Gehen lernt und auch Leid und Schmerz erfährt. Außerdem lernt er auch, was Glück und Unglück bedeuten. Rousseau formuliert in diesem Buch die Freiheit und Unabhängigkeit des Kindes als den obersten Leitsatz seiner Erziehung und erklärt, dass diese sogar als Erziehungsmittel fungieren müssen.

Nur bei Dingen, die es nicht selbst tun kann, soll man dem Kind helfen. Darüber hinaus betont Rousseau immer wieder, dass Vernunft in diesem Alter noch nicht zu erwarten sei. Neben der Sprache, lernt Emil auch Dinge aus den Fächern Erdkunde und Geschichte sowie Lesen und Schreiben. Ansonsten ist der Zögling sehr selbsttätig und selbstständig, ohne dass er von seinem Erzieher dauernd ermahnt oder

Das dritte Buch beschreibt, dass Emil nun ein denkendes Wesen ist und weiterhin

Wissen und Verstand erlangt. Jedoch tut er dies nicht durch Unterricht, sondern durch Erfahrungen, wie zum Beispiel durch die Beobachtung der Sonne: er lernt so die Sonnenlaufbahn, die Jahreszeitenpunkte und so weiter. In diesem Buch erfahren wir auch, dass Rousseau nichts von Büchern hält. Lediglich eines kann seinen Erwartungen einigermaßen gerecht werden, da es eine Abhandlung über die natürliche Erziehung enthält, wie sie von Rousseau so sehr bevorzugt wird und die im nächsten Kapitel näher erklärt werden soll.

Es ist das Buch über Robinson Crusoe und Emil darf dieses ausnahmsweise lesen, da Rousseau in der Hauptfigur des Robinson Crusoes noch am ehesten ein Vorbild für seinen Zögling sieht. Neben alledem lernt Emil auch den Umgang mit Geld und die Wertigkeit des Handwerks. Er kommt langsam in Verbindung mit anderen Menschen und erfährt etwas über gesellschaftliche Beziehungen und die Gesellschaftsordnung.10

Das vierte Buch dreht sich um Emils Reifezeit und beschreibt, wie er zum fühlenden Wesen wird. Er erfährt etwas über Leidenschaft, Freundschaft und Gefühle. Er entwickelt eine moralische Ordnung und Menschenkenntnis.11 Emil ist jetzt kurz vor dem „letzten Akt der Jugend“12 angekommen, wie es Rousseau sehr schön beschreibt.

Im fünften Buch lernen sich Emil und Sophie kennen und lieben. Emil erfährt, wie Männer und Frauen in der Gesellschaft miteinander leben. Jedoch unternimmt er dennoch eine Bildungsreise, besucht andere Länder und lässt Sophie zunächst einmal allein. Auf seiner Reise macht Emil viele politische und kulturelle Erfahrungen und lernt die Demokratie, Aristokratie und Monarchie kennen.

Erst nach fast zwei Jahren kehrt er zurück und heiratet endlich Sophie.13

  1. Rousseaus Erziehungsentwurf und seine ethischen Grundansätze am Beispiel von Emil

Da wir nun einen Einblick in und eine kurze Zusammenfassung von Rousseaus Emil oder Über die Erziehung erhalten haben, möchte ich davon im Folgenden Schlüsse auf Rousseaus eigentlichen Erziehungsentwurf und seine ethischen Grundsätze ziehen, die man von seinen Ausführungen ableiten kann.

Wir lernen aus Rousseaus Überlegungen, dass der Mensch schwach geboren wird und Stärke, Wissen und Vernunft erst durch die Erziehung erlangt. Erzogen werden wir laut Rousseau entweder durch die Natur, die Menschen oder die Dinge, wobei die Natur unsere Fähigkeiten und Kräfte entwickelt, die Menschen uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte lehrt und die Dinge uns durch die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, erziehen.

Weiter lernen wir, dass Rousseau sich ein Bild von einem Erzieher schafft, der keine Autorität darstellt, damit das Kind weder Gehorsam noch Befehle kennenlernt. Das Kind soll also nicht beherrscht werden, sondern frei sein und Erfahrungen machen. Die Freiheit dient dem Erzieher als Erziehungsmittel, durch welches das Kind Erfahrungen selbst sammeln und von selbst auch seine natürlichen Grenzen austesten kann.

Der Erzieher bestimmt in Rousseaus Erziehungsbegriff aber trotzdem immer unauffällig, welche Erfahrungen genau das Kind macht. Hier erkennen wir Rousseaus Prinzip einer negativen Erziehung, welches ich nun kurz zusammenfassen möchte: Grundlage dieses Konzepts der negativen Erziehung ist, dass Lernen nicht durch das aktive Einwirken des Erziehers geschieht, sondern durch die Erfahrungen, die der Zögling macht.

Im Grunde ist dann die einzige Aufgabe des Erziehers das Arrangieren von erzieherisch wirksamen Rahmenbedingungen, in denen das Kind seine eigenen Erfahrungen machen kann. Der Erzieher erzieht also nicht direkt durch Ver- oder Gebote, sondern sorgt dafür, dass die natürliche Erziehung des Kindes erhalten bleibt, ohne dass sich dieses über die Arrangements durch den Erzieher im Klaren ist.

Der Zögling muss so seine moralischen Werturteile selbst fällen und handelt nach diesen Werturteilen, beziehungsweise gleicht sie dann wieder an seine Erfahrungen an, die er mit seinem Handeln gemacht hat. Zur Erklärung soll hier ein Beispiel aus dem Werk Rousseaus herangezogen werden. Ausgangssituation ist eine Lüge des Zöglings. Für diese Lüge soll er nun nicht willkürlich bestraft werden, sondern der Erzieher muss nun so tun, als glaube er dem Zögling nichts mehr, auch wenn er offensichtlich die Wahrheit sagt15.

Rousseaus Begriff der negativen Erziehung überschneidet sich stark mit dem nun schon öfters erwähnten Begriff der natürlichen Erziehung, beziehungsweise ist wahrscheinlich sogar mit diesem gleichzusetzen. Erneut sei hier der erste Satz aus Emil und Über die Erziehung zitiert: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“16 Wir können daraus schließen, dass in Rousseaus Sicht der Mensch von Natur aus gut ist, jedoch in Gesellschaft von anderen Menschen und in der Zivilisation schlecht wird.

Wenn wir also einen guten Menschen erhalten möchten, dann müssen wir diesen in seinem Naturzustand durch die Natur aufwachsen lassen. Demnach wird

jede pädagogische Intervention […] nach diesem Verständnis als Störung aufgefasst. Die Aufgabe des Erziehers besteht darin, so wenig als möglich in diese natürliche Entwicklung einzugreifen und den Zögling vor schädlichen Einflüssen zu schützen.“17

Aber wie erklärt sich dann Rousseau die Moralentwicklung, die von ihm als eines der wichtigsten Ziele der Erziehung genannt werden? Wie zuvor in seinem Konzept der negativen Erziehung erläutert, soll „die Natur […] als regulierendes Ordnungssystem dienen, welches den Menschen zu Sittlichkeit und Moral führt.“18 Das heißt also, wenn man unsere kulturellen Deformierungen wegnimmt, und den Menschen mit der Natur zunächst, auf seine Überlebensbedürfnisse reduziert, allein aufwachsen lässt, sprich „natürlich“ aufwachsen lässt, dass dann der Mensch automatisch eine eigene Sittlichkeit und Moral aufbaut und ein gesundes Mehr von beidem entsteht.

In Rousseaus Werk kommt aber auch zum Vorschein, dass er die menschliche Gesellschaft nicht generell für falsch hält. Er ist nicht gegen die menschliche Gemeinschaft an sich, sondern gegen eine bestimmte Verfallsform davon. Deshalb soll der Mensch auch nach seiner natürlichen Entwicklung in die Gesellschaft und Gemeinschaft eintreten und ein Teil davon sein. Es ist keinesfalls die Absicht Rousseaus, einen zurückgezogenen und weltfremden Menschen zu erziehen, allerdings scheint es für ihn nur in der natürlichen und negativen Erziehung möglich, dem Zögling die Perspektive auf ein glückliches Leben zu bieten.

Rousseaus Vorstellungen sind also auch sehr eng mit einer scharfen Gesellschaftskritik verknüpft.19

In seinem Erziehungsroman fordert der Autor auch dazu auf, den Zögling schreien, toben und rennen zu lassen.20 Er legt ein großes Augenmerk auf Bewegung, was in den bisherigen Erziehungsauffassungen, die vor Rousseau bestanden, nicht der Fall war. Dort lag der Fokus fast ausschließlich nur auf der Wissensvermittlung, auf der Bildung und auf dem Lernen. Nicht so bei Emil: er soll sich frei bewegen um eigene Erfahrungen zu machen und nicht nur alles im Frontalunterricht vermittelt bekommen.

Die Trennung von Geist und Körper ist nun nicht mehr möglich, weil das eine zur Formung des anderen dient und andersherum. Das Ziel scheint zu sein, dass am Ende Geist und Körper im Einklang stehen und eine Einheit bilden. Also bleiben Kinder nicht auf einer niedrigen Stufe, wenn man ihren Körper bildet, sondern sie lernen dadurch ihren Geist zu betätigen.21 Ursprünglich sieht Rousseau das Vorbild vom Ausbilden des Körpers bei den Wilden.

Der Wilde zeichnet sich dadurch aus, dass er gewisse Überlebensinteressen zeigt, auch so etwas wie Pragmatismus. Die Wirklichkeit setzt dem Wilden gewisse Schwierigkeiten entgegen, welche den Wilden mit seinen Überlebensinteressen konfrontieren und ihn dazu bringen, diese Interessen für die Bewältigung der Schwierigkeiten einzusetzen. Die Wilden schulen dann zunächst ihren Körper in der Auseinandersetzung mit der widrigen Umwelt für die Umstände und die Umgebung, in der sie ihre Interessen durchbringen müssen.

Durch diese Schulung des Körpers gibt es dann, so würde ich zumindest Rousseaus Ausführungen interpretieren, auch einen geistigen Überschuss. Diesen geistigen Überschuss verspricht er sich auch aus der Körperschulung bei Emil und sieht die Entwicklung des Wilden also als Vorbild für seinen Zögling.22

Im kommenden Kapitel soll nun beleuchtet werden, ob diese Menschenfreundlichkeit jedoch am Ende vielleicht doch als Mittel zum Zweck einer Herrschaft über das Kind dient.

  1. Menschenfreundlichkeit als Mittel zum Zweck einer Herrschaft über das Kind?

Durch das Konzept der negativen Erziehung die eine Inaktivität vom Erzieher fordert, die letztlich vielleicht besser als eine passive Aktivität zu verstehen ist, schafft der Erzieher einen Rahmen für das Kind, in dem es scheinbar frei Erfahrungen sammeln kann. Auf diese Freiheit, die gleichzeitig, wie schon gesagt, als Erziehungsmittel fungiert, legt Rousseau sehr großen Wert.

Aber wie in Rousseaus Ausführungen auch klar wurde, steuert der Erzieher in Rousseaus Erziehungsbild dann doch subtil die Erfahrungen, die das Kind machen soll. Rousseau verbindet also die Inaktivität des Erziehers immer mit einer bestimmten Intention, das Kind doch zu beeinflussen. Ist es dann nicht ziemlich heuchlerisch zu behaupten, das Kind sei frei, wenn der Erzieher dessen Erfahrungen versteckt ohne das Wissen des Kindes lenkt? Im Text beschreibt Rousseau dieses Vorgehen des Erziehers als Beherrschen durch Nichtstun.

Ist diese Art der scheinbaren Freiheit aber eigentlich nicht noch schlimmer, als wenn das Kind von Vornherein wüsste, dass es nicht wirklich frei ist? Denn auf diese Weise, wie Rousseau dem Kind vormacht, dass es frei in seinen Handlungen und Erfahrungen sei, gibt er dem Kind nicht einmal die Chance, gegen die subtile Herrschaft und Lenkung zu rebellieren oder sich zu wehren, da das Kind ja nicht merkt, dass es beherrscht und gelenkt wird.

Ich bin der Meinung, dass hier von Anfang an eine Transparenz herrschen sollte. Denn was macht das Kind beziehungsweise der Erzieher, wenn der ganze Schwindel auffliegt? Diese Frage möchte ich an dieser Stelle offen lassen.

Von einer anderen Seite betrachtet könnte man auch sagen, dass die Illusion von absoluter Freiheit in der Kindheit nicht erstrebenswert sein kann, denn eigentlich soll der Zögling ja auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden, in welcher man aber niemals absolut frei sein kann. Die Auffassung des Kindes von Freiheit würde dann völlig zerstört werden, wenn es in die Gesellschaft eintritt und merkt, dass es nun in seiner Freiheit beschränkt weiterleben muss.

Eine andere Frage, die sich mir bei der Auseinandersetzung mit Rousseaus Erziehungsentwurf auftat, geht nochmals auf die von ihm geforderte Inaktivität des Erziehers zurück. Nehmen wir einmal an, dass der Erzieher wirklich nur einen Erfahrungsrahmen für das Kind schaffen würde und dieses dann wirklich mit seinen eigenen Erfahrungen sich selbst überließe. Erzieht sich das Kind in diesem gegebenen Rahmen dann durch seine gemachten Erfahrungen am Ende also selbst? Dann würden wir Erfahrungen sammeln also mit Erziehung gleichsetzen.

Das wiederum würde bedeuten, dass das Kind dann nur von den Konsequenzen seines Handelns erzogen würde und der Erzieher seine Aufgabe als eben dieser einfach an die Umwelt abtritt. Im ersten Moment dachte ich, dass dies ein behavioristischer Ansatz sein könnte. Jetzt würde ich aber eher davon Abstand nehmen und sagen, dass es sich hierbei lediglich um die Annahme handelt, dass ein Mensch von selbst erkennt was gut und was schlecht ist.

Hier wäre wahrscheinlich wieder Rousseaus Idealbild einer natürlichen Erziehung anzuführen. Aber kann die Natur auch wirklich die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens übermitteln und das Kind zu einem gesellschaftsfähigen Wesen erziehen? Kann sie soziale Normen oder gesellschaftliche Werte übermitteln? Das im Kapitel zuvor genannte Beispiel aus Rousseaus Emil oder Über die Erziehung würde diese Fragen bejahen.

Natürlich stellt sich jetzt wiederum die Frage, ob ein Erzieher seinem Zögling überhaupt die eigenen Wert- und Normvorstellungen auferlegen darf. Auf diese Weise stellt er sich nämlich über das Kind und nimmt ihm wieder die Chance, seine eigenen Werte zu finden beziehungsweise frei zu sein. Aber wären es nicht meine Werte, wenn ich sie nicht besser fände, als die der anderen? Was spricht also dagegen, dass ich dem Kind meine eigenen Werte beibringe, wenn ich doch davon überzeugt bin, dass es die „besten“ Werte sind? Ich würde sagen, dass nichts dagegen spricht, solange diese Werte dem Kind wirklich helfen in der Gesellschaft bestehen zu können und es nicht gesellschaftsfeindliche Werte erlernt.

Außerdem ist es doch ein Erziehungsziel, dass das Kind eine Wert- und Normvorstellung entwickelt. Wenn es dies aber nicht allein durch seine Erfahrungen nicht tut, ist es doch meine Aufgabe als Erzieher, dass das Kind diese Wert- und Normvorstellungen trotzdem aufbauen kann.

Ein Problem, das sich am Rande zusätzlich noch auftut, wäre die Überlegung, dass das Kind auch falsche Schlüsse aus den selbst gemachten Erfahrungen ziehen könnte. Gehen wir wieder zurück zur Annahme, dass der Erzieher neben den Rahmenbedingungen auch die Erfahrungen des Kindes lenkt. Woher soll der Erzieher sicher wissen, dass das Kind die richtigen, also die vom Erzieher beabsichtigten, Schlüsse aus seinen Erfahrungen zieht? Rousseau sagt in seinem Text, dass man eben dies durch weise Voraussicht und Vorahnung verhindern könne.

Ich finde, hier wird deutlich, dass sich Rousseau teilweise in seiner Gedankenkonstruktion einer perfekten Erziehung verrennt und die Praktikabilität und Umsetzbarkeit seines Idealbildes an manchen Stellen sehr schwierig wird. Ich denke, das rührt vor allem auch daher, dass sein Erziehungsbegriff auf einer utopischen Basis entstand: Rousseaus Emil ist nun mal ein Gedankenexperiment, das sich um einen fiktiven Jungen in einer fiktiven Welt dreht und das am Ende aber nicht empirisch belegt wurde.

Rousseau schafft damit einen utopischen Rahmen, einen erfundenen Kontext, und es bleibt die Frage, ob wir seinen Erziehungsentwurf ernst nehmen und auf unseren heutigen Rahmen überhaupt übertragen können. Vor allem wenn wir die Tatsache betrachten, dass Rousseau von einer Individualerziehung ausgeht, das heißt, dass das Kind fernab von gesellschaftlichen Zwängen aufwachsen soll.

Bleiben wir beim Thema der Praktikabilität, habe ich mich als angehende Lehrerin auch noch gefragt, wie man den Rousseau‘schen Ansatz dann auf eine Schulklasse beziehen und übertragen kann, also auf die institutionelle Erziehung. Schafft man hier den Erfahrungsrahmen für jedes einzelne Kind oder für die ganze Klasse? Machen die Kinder also Einzelerfahrungen oder Gruppenerfahrungen? Nach längerer Überlegung würde ich an diesem Punkt, im Hinblick auf die Heterogenität in einer Klasse, das Thema Differenzierung heranziehen.

Quellen & Links

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