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Seminararbeit
Deutsch

Universität Zürich - UZH

2010, Prof. Dr. Beate Kellner

Jacob S. ©
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ID# 10443







Walther von der Vogelweide, Poetologische Strukturen und Bewegungen in ‚Si wunderwol gemachet wîp‛


Inhaltsverzeichnis



1 Einleitung

Legere cum cupiditate oculorum 02



2 Analyse „Si wunderwol gemachet wîp“


2.1 Infixum cum attentione 03

2.2 Curiositas e conversio waltherinensis 05


2.3 Solus creator est deus 08


2.4 Inopia scriptoris est virtus illii 09


2.5 Nihil sub sole novum – sed multus inter nihilum 10



3 Problematisierung 13

4 Anhang


4.1 Textausgaben 16


4.2 Literatur 16


1 Einleitung

legere cum cupiditate oculorum


Die Literaturwissenschaft sieht sich bei der Analyse mittelalterlicher Textgattungen, wie der des Minnesangs, immer wieder vor die Frage gestellt, welche Analysemethoden nun zur Beschreibung einer Poetik geeignet und gerechtfertigt seien, ohne zugleich anachronistische Termini an die einzelnen Texte heranzutragen zu müssen. Walter Haug stellt in einem 2006 publizierten Aufsatz fest:

„Es gibt keinen einzigen neuen poetologischen Terminus, d. h. keinen einzigen Begriff, der das Neue dieser Literatur hätte zum Ausdruck bringe können. … Hinter der fehlenden Begriffsgeschichte zum thematischen Komplex: Fiktion, freie Entfaltung, schöpferische Fantasie, steht eine Diskursgeschichte, die die Entwicklung einer entsprechenden Begrifflichkeit blockiert hat. … Es gab offenbar nur einen einzigen Weg, das Neue zum Bewusstsein zu bringen, eben auf das Alte zu rekurrieren und es zugleich auszustreichen.“[1]

Neben den beiden theologischen Dogmas[2], „creatio ex nihilo“ der Genesis und „nihil sub sole novum“ des Predigers Salomo, bestand dieses nicht zu überwindende „Alte“ aus dem philosophischen Diskurs über Wahrheit und Lüge, als dessen älteste Positionen wohl die Reden des Sophisten Gorgias und die beiden Dialoge Platons, Gorgias und Phaidros, zu nennen wären.[3] Der theologische Diskurs scheint aber in Bezug auf das zu untersuchende Minnelied Walthers der wichtigere zu sein, da jenes mehr oder weniger direkt auf das Diktum Augustins „Deus solus creator est“[4], rekurriert und – wie anhand der Lektüre zu zeigen sein wird – unterläuft.

Thomas Cramer hat das Spannungsfeld des Dichters zwischen seiner ihm zugewiesenen Rolle als Handwerker (artifex) und Gott als solus creator in einem 1986 erschienen Aufsatz umrissen, welcher den programmatischen Namen trägt: „Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum.“[5]

Corina Laude weist in ihrer 2007 publizierten Studie, Walthers Enzwischen und Neidharts Spiegelraub, auf mittelalterliche Wahrnehmungstheorien wie der hirnanatomischen Ventrikel-Lehre hin,

„der zufolge die Sinneseindrücke vom Pneuma bis zum Gehirn geleitet werden, um dort im vorderen Ventrikel bzw. in der vorderen Hirnkammer, dem Sitz der imaginatio, durch die vis imaginativa zu Bildern bzw. Phantasmen verarbeitet werden. Erst diese Bilder können dann von der ratio (mittlere Kammer) erfasst und verstanden werden und gelangen schließlich in die hintere Kammer, den Sitz der memoria, wo sie mit bekannten Bildern abgeglichen und dann archiviert werden.“[6]

Wenn der mittelalterliche Dichter gemäß Haug keine Möglichkeiten hatte, direkt gegen die ihn bestimmenden Diskurse der Philosophie und der Theologie anzuschreiben, um sich in Abgrenzung dazu eine Legitimation seiner schöpferischen Gestaltungkraft zu verschaffen, so gilt es, über eine Analyse der sprachlichen Verfahren offenzulegen, inwiefern der Sang auf den Diskurs seiner Zeit anspielt.

Ziel dieser Arbeit ist es, anhand einer genauen Lektüre und Analyse der Figuren und Tropen aufzuzeigen, auf welche Begriffskomplexe der Text rekurriert und was er dabei für Strategien entwickelt, diese zu unterlaufen um auf indirektem Weg eine poetologische Aussage zu ermöglichen.

Da es nicht Sinn und Zweck der Analyse sein kann, poetologische Strukturen auf die primärsemantische Ebene herunter zu brechen um daraus eine Terminologie abzuleiten, die doch nicht explizit nachgewiesen werden könnte, beschränkt sich die Methodik darauf, zentrale Begriffe des theologischen Diskurses vor allem aus den Schriften Augustins, parallel zum Minnelied Walthers zu lesen.

Im Bewusstsein dessen, dass der Text selber nur einmal eine direkte Referenz im Wort ‚got‛ aufweist, sind die Zitate der Kapitelüberschriften, insofern sie nicht bereits umformuliert wurden, lediglich als thematische Vorschläge einer möglichen parallelen Lektüre zu sehen. Dabei wird zu zeigen sein, dass der theologische Diskurs den Schreib- und Reflexionsprozess und hoffentlich auch den der Lektüre nicht nur behindert und einschränkt, sondern ihn auch bedingt und vorantreibt: Legere cum cupiditate oculorum.

Der hier vorliegende Text[7] (L 53,25) folgt der Strophenanordnung von Cormeau[8] (Text nach A mit C), da in dieser Reihenfolge das antike Schema der Ekphrasis, de capite ad calcem, am konsequentesten eingehalten wird.[9] Die in der Analyse vorkommenden Termini, Dichter und Sänger, sind meistens, aber nicht ausschließlich textimmanent zu lesen und werden im Sinne Kuhns[10] anstelle des lyrischen Ichs verwendet.

Zitate der Sekundärliteratur sind in doppelten und zitierte Versstellen innerhalb des Fließtextes in einfachen Anführungszeichen gesetzt.


2 Analyse „Si wunderwol gemachet wîp“


2.1 Infixum[11] cum attentione[12]

Si wunderwol gemachet wîp,

Der Leser würde wohl nach dieser ersten Verszeile eine sich ausdehnende Ekphrasis der vom Dichter auserkorenen Minnedame erwarten. Dieser begnügt sich aber zunächst in einer oberflächlichen Schilderung ihres Gesamteindrucks, in der er sie dem Leser – oder in einer Aufführungssituation begriffen dem Zuhörer – als ‚eine wunderschön geschaffene Frau‛ vorstellt.

Ihre wohl gestaltete Körperlichkeit ist aber bereits im Körper der Schrift durch die kunstvolle Setzung der ersten Verszeile nachgebildet. Durch die W-Alliteration überträgt sich die Semantik von ‚wunder‛ und ‚wol‛ auf die Frau, die sich so als ein summum bonum und damit als prädestiniert für den Minnedienst erweist. Der Effekt dieser Übertragung wird noch gesteigert durch die aufsteigende Folge der betonten Vokale ‚u-o-a-i‛.

Dadurch scheint die Frau im Wort ‚wîp‛ als ‚klanglicher Höhepunkt‛ das Attribut ‚wunderwol gemachet‛ geradezu in sich aufzunehmen. Mittels dieser sprachlichen Inszenierung wird die Ergriffenheit (affectio)[13] des Dichters auf den Leser bzw. auf den Zuhörer übertragen, so dass diesem sich die Gepriesene selbst als bleibender Eindruck (infixum) einprägt.

daz mir noch werde ir habedanc!

Da der Dichter die Dame nicht in der zweiten Person anspricht, muss davon ausgegangen werden, dass eine etwaige Begegnung mit ihr der Vergangenheit angehört und sie somit lediglich in sprachlicher Form gegenwärtig ist. Zusätzlich zum lediglich passiven Sinneseindruck (infixum), der als Zuständlichkeit (affectio) gegenwärtig bleibt, treten zwei aktive Elemente der inneren Gestaltung und Imagination hinzu, die Hinwendung (attentio)[14] und die Erinnerung (memoria)[15], welche im Minnesang ihren sprachlichen Ausdruck finden.

Wenn nun der Dichter von der Dame als Minnelohn lediglich ‚ir habedanc‛, also ein „Dank mit Worten“[16] in der Zukunft (‚werde‛) erhofft, so heisst das nichts anderes, als dass er ihren Dank als Wertschätzung seiner gestalterischen Fähigkeiten wünscht und verstanden haben will. Weder der einzelne Sang noch die ihm zugrundeliegenden imagines memoria sind folglich ‚tote‛ Kopien im Sinne einer Mimesis, sondern ‚lebendige‛ Synthesen aus passiver Sinnlichkeit (infixum) und aktiver Geistestätigkeit (attentio).

ich setze ir minneclîchen lîp
vil werde in mînen hôhen sanc.

Die fünfmalige Verwendung des Vokals ‚i‛ lässt jedoch aufhorchen: Wenn in der ersten Zeile mittels einer W-Alliteration und einer aufsteigenden Vokalfolge auf die reale Minnedame hingewiesen wird, so ist der Impetus hier ein entgegengesetzter. ‚Ir minneclichen lîp‛ ist durch die ‚i‛ Häufung sichtlich gekennzeichnet im Besitz eines selbstbewussten und aktiv gestaltenden Subjekts: ‚Ich setzte‛ sie ‚vil werde in mînen hohen sanc‛.

Auch wenn die primär semantische Ebene auf den ersten Augenblick eine Mimesis des visuellen Sinneseindrucks ankündigt, gibt die Semantik der Form unmissverständlich zu verstehen: Nicht ‚ir … lîp‛, sondern die bereits von der attentio animi gestaltete imagino memoriae wird in den Sang gesetzt.

… ir minneclîchen lîp
… (in) mînen hôhen sanc.

Noch mehr als in der ersten Zeile wird hier die Semantik der Form verstärkt durch einen äusserst gewagt gesetzten Parallelismus, der einen geradezu programmatischen Charakter aufweist: Der Minnesang wird durch das Synonym ‚hôhen sanc‛ ersetzt und mittels der Paronomasie, ‚minne / mîne‛ neu bestimmt: Minnesang wird so zum Hendiadyoin[21] ‚mîne … sanc‛!

Die Beziehungsnahme zwischen dem Sänger und seiner Dame und damit indirekt auch zwischen dem Dichter und dem Zuhörer oder Leser weist damit einen progressiven und zyklischen Charakter mit einer klaren Erwartungshaltung auf: Nicht der mimetisch nachgebildete Sinneseindruck wird zum Inhalt der Kommunikation, sondern dessen refigurierte imago wird mit jedem neuen Kommunikationsakt erneut zu einem infixum, auf welches wiederum in Form einer Refiguration oder eines ästhetischen Urteils zu antworten ist.

Gern ich in allen dienen sol,
doch habe ich mir dise ûz erkorn.

Wenn der Dichter die Seine, durch eine im Perfekt beschriebene Auswahl gegen alle andern Frauen abgrenzt, so deckt er sich mit dem Postulat Augustins, der durch die Augenlust (cupiditas oculorum)[22] verursachte Zerstreuung (distentio)[23] durch eine aktive Hinwendung (attentio animi) zu einem einzelnen Objekt entgegenzuwirken.

Da das infixum und die attentio im Verhältnis der Unähnlichkeit (dissimilitudo)[24] zueinander stehen, kann der Dichter einen andern Sänger ‚die sînen‛ ‚âne … zorn‛ loben lassen, auch wenn jener ‚ime wîs und wort‛ mit ihm gemeinsam (similitudo) hätte.

ein ander weiz die sînen wol,
die lobe er âne mînen zorn;
habe ime wîs und wort
mit mir gemeine: lobe ich hie, sô lobe er dort.

Das Ende des ersten Verses, ‚lobe ich hie, sô lobe er dort‛ weist mit den beiden Deiktika ‚hie‛ und ‚dort‛ dem Sang einen Ort zu, der nicht nur lokal zu verstehen ist: Augustinus setzt der Ausdehnung des Lebens (distentio vitae) die aktive geistige Zuwendung (attentio animi) entgegen, welche dadurch zu einer Ausdehnung des menschlichen Geistes (distentio animi)[26] wird.[27] Die Summe der sich stetig verwandelnden imagines memoriae wird so zum prozessualen Ort der Dichtung, der sich im konkreten Text ‚hie‛ oder ‚dort‛ manifestiert.


2.2 Curiositas e conversio waltherinensis


Augustinus leitete aus dem Begriff der Neugierde (curiositas) den Abfall des Menschen von Gott ab, indem jener die Zeichenhaftigkeit der Welt verkennt und sie in ihrer sinnlichen Gestalt als real gegeben erfährt.[28] Wird dieser als realiter erfahrene, horizontale Weltbezug als Illusion, die Welt mit ihren Objekten als falsa corpora[29] durchschaut, so tritt eine Richtungsänderung der Betrachtung, eine conversio[30] ein: Die horizontale Achse des Materiellen und Wahrnehmbaren wird nun gelesen als Zeichen des Göttlichen, als vertikale Achse des Metaphysischen oder Transzendenten.[31]

Ir houbet ist sô wunnenrîch,
alse ez mîn himel welle sîn.

Indem der Sänger ‚ir wunnenrîch houbet‛ mit ‚himel‛ gleichsetzt, verschiebt sich - natürlich nicht im Sinne der conversio Augustins – die horizontale Achse des Betrachtens in eine vertikale. Der Vergleich mit dem Haupt der Minnedame als mikrokosmische Himmelskugel greift zudem einen traditionellen Gedanken auf, der als literarischer Topos vor allem in der lateinischen Vagantenlyrik, wie etwa der Carmina Burana, oft anzutreffen ist: Die kosmische Ordnung wird in der Schönheit und Ebenmässigkeit der Frauenschönheit im Verhältnis der similitudo sicht- und lesbar.[32] Der Dichter grenzt sich jedoch zweifach von diesem vertikalen Verhältnis der Ähnlichkeit ab: Einerseits bricht er den Vergleich im Modus des ‚als ob‛ (‚alse‛) auf und folgt so Augustins Denken der grundsätzlichen Unähnlichkeit zwischen den realen oder vorgestellten Körpern (corporalia phantasmata)[33] und dem Intelligiblen: „Nec ista corpora es, quae videmus.“[34] Andererseits bezieht sich der Vergleich aber nur scheinbar auf ein vertikal Transzendentes, denn der Sänger nennt den Himmel ‚mîn‛ und verbleibt somit auf der horizontalen Achse einer Bezugnahme, die im Modus des ‚als ob‛, der dissimilitudo, eine fortlaufende Reflexion in Gang setzt.

Die Zeile fragt nicht ohne leise Ironie wem ‚ir houbet‛ – als visueller Sinneseindruck der rellen Minnedame, aber auch als literarische Umformung im Sang – im Modus des ‚als ob‛ gleicht. Das Fragepronomina ‚wem‛ bezieht sich einerseits auf ‚himel‛, einen Beschreibungskontext der lateinischen Vagantenlyrik oder der christlichen Literatur.

Andererseits referiert es auf ‚mîn himel‛, ein Bezugmoment, welches dem Sänger inhärent ist. Der Dichter setzt so seinen ‚himel‛ und das von ihm artikulierte Bild der Minnedame in eine wechselseitige Beziehung. Er verlegt damit beide Achsen, die Horizontale und die Vertikale, in seine attentio animi und stellt deren Möglichkeiten der Betrachtung in den Dienst literarischer Imagination: Das heisst, er verortet und bestimmt seinen Sang als Refiguration von äusserer sichtbarer Welt und sowohl literarisch als auch sakral tradierter Beschreibung und Form.

ez hât doch himeleschen schîn.
Dâ liuhtent zwêne sternen abe,

Die Ekphrasis im ganzen Gedicht folgt dem rhetorischen Muster ex capite ad calcem, welches seit der Antike mit der Beschreibung des Hauptes beginnt und sich in der Vertikalen Schritt für Schritt bis hin zu den Füssen bewegt, wobei die qualitates corporis mit jenen der anima kombiniert werden.[35] Die Vertikale ist aber nicht nur in der Abfolge der Beschreibung verwirklicht, sondern auch in der Aufname des religiösen Topos der Himmelsmutter Maria[36], sowie einer Licht- und Augenmotivik, die sowohl in der literarischen (Mohrungen)[37] als auch in der mystischen Tradition (Plotin)[38] eine wichtige Rolle spielt: Die Unverrückbarkeit der Sterne, die Unergründlichkeit des göttlich Seienden oder Unerreichbarkeit der hehren Minnedame werden dabei durch eine jeweils verschieden geartete Lichtemanation kompensiert, die über die äusseren Augen oder die inneren der Kontemplation vermittelt wird.

In dieser Strophe sind die ‚zwêne sternen‛ als literarische Konfiguration der Augen jedoch nicht unverrück- und unerreichbar und auch die Kommunikationsrichtung ist anders und vielfältiger gestaltet als die der einseitigen Emanation. Der Dichter erwägt die Möglichkeit sich in den ‚sternen‛, die im Modus des ‚als ob‛ und der dissimilitudo eigentlich pars pro toto seinen Sang verkörpern, zu spiegeln.

Wird die metaphorische Sprechweise der ‚zwêne sternen‛ hingegen aufgelöst, so greift er den naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit auf: Er wünscht sich ganz real in ihren Augen zu spiegeln.[39] Dies allerdings bedingt, die äussere, meistens unüberwindbare Distanz der Minnesterne auf eine paar wenige frivole Zentimeter zu verkürzen:

– daz si mirs alsô nâhe habe! – sô möhte ein wunder wol geschehen:

Was mag es bedeuten, wenn der Dichter das Attribut ‚wunderwol‛ in ein ‚wunder wol’ auseinander dividiert? Hatte er eingangs eine reelle Dame mit dem Attribut ‚wunderwol‛ beschrieben und ihr so eine sprachlich adäquate Gestalt verliehen, so wird dasselbe Attribut nun in ein abstraktes Nomen und in ein Adverb verwandelt.

Die eine betont in ihrer Kürze das Wunder des Verjüngens als dynamisches und gestalterisches Prinzip, die andere, längere, erhält durch die Erstsilbenbetonung der letzten fünf Worte einen eigentümlich schwerfälligen Rhythmus. Damit wird das „Sicht-Verzehren“ nach etwas Unerreichbarem ironisch nachgeahmt: Die curiositas in extensis, die als acedia und melancholia krankhafte Züge annimmt.[40]

ich junge, und tuot si daz,
und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz.

Wo ist das Wunder also zu suchen? Geht man der etymologischen Bedeutung des Wortes nach, so lässt sich das Wort Wunder eindeutig auf das germanische *wundra- zurückführen, dessen Herkunft vielleicht eine ro-Ableitung zu winden ist.[41] Das Wort ‚winden’ wiederum stammt aus dem germanischen *wenda-. Das etymologische Lexikon weist auf ähnliche Bedeutungen bei gleicher Lautform hin: wandeln, wandern, wenden, vielleicht auch Want und Wunder.[42] Das Wort Wunder erscheint so in seiner etymologischen nahen Verbindung zu winden und wenden, lateinisch versare, als Textmetapher: Der Dichter schmiedet nicht nur Verse, indem er sie mittels Reimstrukturen, Tropen und Figuren in sich winden und wenden lässt: Er wendet damit auch die primär semantische Ebene der Kommunikation und des Verstehens in ein Verhältnis der dissimilitudo.



2.3 „Solus creator est deus“[43]


Diese Wende äußert sich unter anderem darin, dass der Sänger nun auf das Dogma Augustins Bezug nimmt, welches dem Dichter lediglich einen Platz als artifex, als Gestalter des immer schon Vorhandenen zuweist.

Got hât ir wengel hôhen vlîz,
er streich sô tiure varwe dar,
sô reine rôt, sô reine wîz,

‚Got‛ wird hier vorerst als Schöpfer der Minnedame dargestellt, der in seiner Kunst ganz in der Manier des Minnesang ‚hohen vlîz‛ aufwendet. Mit einem dreimaligen Parallelismus und der Formulierung ‚er streich … dar‛ wird jedoch sein Anspruch als ‚solus creator‛ diskreditiert, indem dieser nun nicht mehr als Schöpfer, sondern als Maler zweiter Klasse, als Anstreicher[44], erscheint.

Die einzelnen Teile des Trikolon beginnen jeweils mit der adverbialen Anapher ‚sô‛, gefolgt von je einem Adjektiv und Nomen. Interessant ist dabei, dass die Attribute der Farben aus dem Vokabular des Minnesangs entlehnt sind: Die ‚sô tiure varwe‛ wird im zweiten und dritten Kolon jeweils konkretisiert als ‚sô reine rôt‛ und ‚sô reine wîz‛. ‚Got‛ wird durch dieses poetische Verfahren als artifex in die Tradition des Minnesangs hineingestellt, wobei durch die dreimalige iterative Stilisierung von ‚tiure varwe‛ ‚reine rôt‛ und ‚reine wîz‛ der theologische Diskurs in den literarischen des Minnesangs eingeflochten wird.

hie rœseloht, dort lilienvar.

Durch die Rekurrenz der beiden Deiktika ‚hie‛ und ‚dort‛, welche auf die Minnesänger der ersten Verszeile ‚lobe ich hie, sô lobe er dort‛ verweisen, wird die Position des Dichters derjenigen Gottes als zweitklassigem artifex gegenübergestellt. Nach dieser gekonnt aufgebauten Steilvorlage, gelingt dem Sänger beinahe mühelos, mit den beiden Worten ‚rœseloht‛ und ‚lilienvar‛ den Dichter als ‚solus creator est auctor‛ zu postulieren.

Obe ichz vor sünden tar gesagen,
sô sæhe ichs iemer gerner an
dan [ ] himel oder himelwagen.

„Conscientia vitiorum“[45], im Bewusstsein mittels eines meisterhaft konstruierten poetischen Verfahrens ein eigentliches Sakrileg begangen zu haben und der impia superbia[46] erlegen zu sein, stimmt der Sänger nun einen eher unterwürfigen Ton an, in dem er sich der Sünde, der cupiditas oculorum bezichtigt.

Doch auch hier wird der theologische Diskurs unterlaufen, indem der Dichter nur partiell mit dem Wort ‚himel‛ auf ihn referiert. Der ‚himelwagen‛ hingegen bezieht sich in erster Linie auf den nautischen Diskurs, wird doch mittels einer fünfmaligen Verlängerung der Hinterachse dieses Sternbildes der Polarstern anvisiert.

Die demütig in Gott aufgehobene Gotteserkenntnis der memoria Augustins wird hier über das ironisch zu lesende ‚vil lîhte‛ erneut uminterpretiert: Des Dichters ‚mundes lop‛ wird indem er ‚si … ze hêr‛ macht, ‚vil lîhte‛[47] – nicht nur vielleicht, sondern sicherlich – zu dessen Betroffen- und Ergriffenheit über seine eigene Sprachschöpfung: ‚Mîns herzen sêr.‛


2.4 Inopia scriptoris est virtus illii


Indes der Dichter nun durch die Gleichführung des theologischen Diskurses mit dem des Minnesangs zugleich dessen beider Grenzen mittels seines poetischen Verfahrens zumindest unterlaufen, wenn nicht gar gesprengt hat, nutzt er die so errungene dichterische Freiheit, indem er seinen hoch artifiziellen Sang mittels weiterer Figuren und Tropen mit einer sinnlich imaginären Ebene verknüpft.

Si hât ein küssen, daz ist rôt,
gewünne ich daz für mînen munt,

Einerseits verbindet die Rekurrenz des Farbadjektivs ‚rôt‛ das ‚reine rôt‛ ihrer Wangen mit dem roten Kissen, auf welchem die Dame sich wohl auszuruhen pflegt. Andererseits besteht durch das Homonym ‚küssen‛[48] mit der zweifachen Bedeutung von Kissen und küssen auch eine Verbindung zu ihren (roten) Lippen, welche er für seinen Mund gewinnen will.

Si hât ein küssen, daz ist rôt,
gewünne ich daz für mînen munt, sô stüent ich ûf ûz dirre nôt
und wære och iemer mê gesunt.

Ein ‚küssen‛ für seinen ‚munt‛ gewinnen macht jedoch erst Sinn, wenn die Doppeldeutigkeit des Sprachspiel erkannt wird. Da auf der Ebene des Syntagmas das Akkusativobjekt ‚ein küssen‛ nicht einfach durch ein Verb ‚küssen‛ ersetzt werden kann, muss je nach Lesart eine semantische oder grammatische Inkorrektheit in Kauf genommen werden.

In Anbetracht dessen liessen sich – mit einem Augenzwinkern – die beiden im Konjunktiv gehaltenen Zeilen ‚gewünne ich daz … / sô stüent ich ûf ûz dirre nôt‛ auch auf das nicht ganz funktionierende Sprachspiel hin lesen.


Liest man mit etwas mehr Wohlwollen, so bringt der Dichter mit dem Konsekutiv ‚gewünne / sô stüent‛ eine ‚wenn / dann‛ Relation ins Spiel, die mittels des Relativpronomens ‚daz‛ die Semantik der beiden Endreime ‚rôt / nôt‛ und ‚munt / gesunt‛ in eine vielschichtige Beziehung setzt. Das Sprachspiel, welches durch die Sinnverfremdung der primärsemantischen Ebene geradezu erzwungen wird, erwiese so ‚mînen mund‛ als poetische Fähigkeit des Sängers, welcher dadurch aus seiner ‚nôt‛ ‚ûf … stüent‛ und ‚gesunt‛ wird.

Swâ si daz an ir wengel leget,
dâ wære ich gerne nâhe bî.
ez smecket, sô manz iender reget,
alsam ez allez balsame sî.

Das zweite Relativpronomen ‚daz‛ scheint nun eher wieder auf das Kissen zu verweisen, welches die Minnedame ‚an ir wengel leget‛. Der Sänger wünscht sich in die Nähe der Dame, da dieses ‚küssen‛ nicht nur gut riecht, sondern auch gut schmeckt. Durch das zweite Homonym ‚smecken‛[49] wird wiederum das erste aktiviert, sodass nun die Küsse schmecken ‚alsam ez allez balsame‛ sei.

Aber auch dieser imaginierte Sinnesgenuss ist bereits durch den Dichter in ein geradezu sinnlich wahrnehmbares Sprachbild transponiert worden: Das Wort ‚alsam‛ kann auch als ‚alsame‛[50] geschrieben werden, wurde aber hier ähnlich einer Ellison wegen metrischen Zwecken weggelassen.[51] Wird von der Paronomasie ‚alsame / balsame‛ der Buchstaben ‚b‛ weggestrichen, so erhält man eine dreimalige Alliteration auf ‚al-‛ und je ein Homoioteleuton auf ‚-ame‛ und ‚-ez‛.

Zudem Überträgt sich durch die Paronomasie der Irrealis des ‚alsame‛ auf ‚balsame‛, dessen Sinneseindruck sich so als trügerisch erweist, bzw. dessen Duft weit mehr verdeckt, als er zu erkennen gibt.


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