Beispiel für eine Redeanalyse
Otto Wels, Rede zum
„Ermächtigungsgesetz“ (1933)
Die
vorliegende Rede wurde am 23. März 1933 im Berliner Reichstag vom damaligen
SPD-Vorsitzenden Otto Wels anlässlich der bevorstehenden Abstimmung über das
sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ gehalten, durch das der
nationalsozialistischen Koalitionsregierung unter dem am 30. Januar von
Reichspräsident von Hindenburg zum Kanzler ernannten Adolf Hitler die
Möglichkeit gegeben werden sollte, künftig auch ohne Zustimmung des Reichstages
Gesetze zu verabschieden und so die politischen Verhältnisse in Deutschland
ganz nach den eigenen Vorstellungen im Sinne einer Diktatur zu verändern. Die
Rede des SPD-Vorsitzenden Otto Wels stellt einen letzten verzweifelten Versuch
dar, die geschlossene Ablehnung der SPD hinsichtlich des Ermächtigungsgesetzes
zu demonstrieren und in leidenschaftlichem Appell an die Ideale des Sozialismus
die moralische Überlegenheit der demokratischen Kräfte gegenüber dem sich immer
unverhüllter offenbarenden Charakter des NS-Regimes als einer
antidemokratischen und menschen- verachtenden Bewegung hervorzuheben. Die
SPD-Fraktion lehnte in der anschließenden Abstimmung als einzige das Gesetz
geschlossen ab (die KPD-Abgeordneten waren bereits im Vorfeld geflohen oder
verhaftet worden) und ihre führenden Funktionäre flohen zum größten Teil ins
Ausland.
Die
Rede lässt sich in sieben bzw. acht Sinnabschnitte gliedern, die
argumentativ-rhetorisch aufeinander aufbauen:
Im
ersten Abschnitt (1-28) gibt Wels seine eingeschränkte Zustimmung zu bestimmten
Aussagen Hitlers in Bezug auf den Umgang mit dem Versailler Vertrag, um daraus
aber die Forderung nach Gerechtigkeit im Inneren und den Verzicht auf die
Unterscheidung zwischen Siegern und Besiegten unter den politischen Lagern zu
formulieren.
Im
zweiten Abschnitt (29-47) betont er in Anknüpfung an die Erinnerung an den
Waffenstillstand von 1918, den die deutsche Regierung damals erzwungenermaßen
annehmen musste, dass die SPD der beginnenden Diktatur wie damals die deutsche
Regierung den siegreichen Mächten des Ersten Weltkrieges zwar wehrlos
gegenüberstehe, sie sich ihre Ehre aber auch unter diesen besonderen Umständen
nicht nehmen lasse.
Die
bisher eher vorsichtig angedeuteten Vorwürfe gegenüber den Nationalsozialisten
werden von Wels im dritten Sinnabschnitt (48 – 81) weiter konkretisiert, indem
er die Unverhältnismäßigkeit und Einseitigkeit der Regierung Hitler im Vorgehen
gegen die politische Opposition brandmarkt und die Ablehnung des
Ermächtigungsgesetzes durch die SPD als konsequente Reaktion auf dieses
Vorgehen gegen die Sozialdemokraten zum Ausdruck bringt – die inzwischen
erfolgten Einschränkungen der Pressefreiheit macht er für eine politisch
entsprechend einseitige Berichterstattung verantwortlich und weist damit auf
den sich hier bereits in vollem Gange befindlichen Abbau demokratischer Rechte
durch die Regierung Hitler hin.
Der
vierte Sinnabschnitt (83 -101) wird von Wels zur Entlarvung eines
Verständnisses von Sozialismus durch die NSDAP verwendet, das er als unecht
darstellt, um direkt daran anschließend (102-132) die historischen Leistungen
der SPD für Staat und Gesellschaft im Geiste der sozialistischen Idee
hervorzuheben und damit die moralische Überlegenheit der eigenen Partei
gegenüber der gewaltsamen Herrschaft der NSDAP zu betonen.
Eine
Ausweitung dieser Argumentationslinie erfolgt im siebten Abschnitt (133-148),
indem diese moralische Überlegenheit der SPD auch auf die Verfassungsprinzipien
der Weimarer Republik und ihrem Charakter als Rechtsstaat übertragen und die
Fähigkeit der SPD zum Überstehen dieser schweren Zeit betont wird.
Die
Rede endet mit einem solidarischen Abschiedsgruß an alle Gleichgesinnten und
Oppositionellen, die wie die SPD von der Verfolgung durch das neue Regime
betroffen sind. (149-153)
Die
Rede ist argumentativ stringent aufgebaut und zielt auf eine Entlarvung der
Nationalsozialisten ab, die durch das Ermächtigungsgesetz freie Hand zur
scheinlegalen Umwandlung der Weimarer Republik in eine Diktatur zu erhalten
versuchen. Wels grenzt sich in seiner Rede klar von diesem Ansinnen ab – zwar
scheint es zunächst so, als ob er im ersten Abschnitt durch die Anführung von
Gemeinsamkeiten mit der NSDAP hinsichtlich der ablehnenden Haltung gegenüber
dem Versailler Vertrag die fundamentalen politischen Gegensätze zwischen beiden
Parteien zu überdecken versuchen würde (1 ff.), doch wird schon kurz darauf
deutlich, dass er dies nur dazu nutzen möchte, um in einem Analogieschluss die
auch von den Nationalsozialisten im Bereich der Außenpolitik geforderte
Forderung nach „Gleichberechtigung“
(2) auch für die Innenpolitik zu beanspruchen und die „Theorie von den Siegern und Besiegten“
(26/27) auch für die Auseinandersetzung zwischen der SPD und der NSDAP
abzulehnen. Die in Deutschland damals empfundene Empörung über die harten
Bedingungen des Friedensvertrages, der in einer Situation militärischer
Ohnmacht unterzeichnet werden musste, wird von Wels damit auf die Situation der
SPD übertragen, die sich zunehmender Verfolgung durch die Nationalsozialisten
ausgesetzt sieht und lediglich auf ihre Ehre und damit auf ihre moralische
Überlegenheit verweisen kann. Zur Betonung dieses Gedankens verweist er auf ein
Zitat („Wir sind wehrlos, aber nicht
ehrlos.“, 32/33) der deutschen Waffenstillstands-Delegation
gegenüber den Entente-Mächten, die Deutschland 1919 vor die Entscheidung
stellten, den Versailler Vertrag ohne Änderungen anzunehmen oder militärisch
besetzt zu werden. Wels betont dabei unter Verweis auf Äußerungen, die im
Reichstag 1919 angesichts der zu treffenden Entscheidung getätigt wurden, denen
zufolge die Gegner Deutschland nicht einmal die Ehre zugestehen mochten (33 f.)
und nach der in der damaligen Nationalversammlung vorherrschenden Auffassung,
dass „dieser Versuch der Ehrabschneidung
einmal auf die Urheber selbst zurückfallen“ (35 f.) werde, die
besondere Würde des physisch Schwächeren - hier wird die moralische
Überlegenheit der Deutschen in der damaligen Situation betont, die sich der
Androhung von Gewalt beugen mussten und zur Unterzeichnung eines Vertrages
gezwungen wurden, den sie an sich wegen der Härte seiner Bedingungen ablehnten.
Mit
diesem Gedanken leitet Wels den nächsten gedanklichen Schritt ein – er
überträgt die Verhältnisse von 1919 auf die Situation vor der Abstimmung über
das Ermächtigungsgesetz, indem er einen Analogieschluss zwischen der
erzwungenen Vertragsunterzeichnung und den Verstößen gegen das Recht durch die
Nationalsozialisten vornimmt („Aus einem
Gewaltfrieden kommt kein Segen; im Inneren erst recht nicht., 48
f.). Er gesteht der Regierung Hitler zwar zu, sich „gegen rohe Ausschreitungen der Polemik“ zu schützen (52
f.), lehnt aber eine einseitige Vorgehensweise ab, von der vor allem die
politischen Gegner betroffen sind. Wels spricht hier die Verfolgung
oppositioneller Kräfte durch die Nationalsozialisten nach der Machtübertragung
am 30. Januar 1933 an, der nach kurzer Zeit bereits die ersten Verhaftungen vor
allem kommunistischer und sozialdemokratischer Politiker folgten und die ein
systematisches und aufeinander abgestimmtes Vorgehen gegen die Regierung Hitler
massiv behinderten bzw. nahezu unmöglich machte. Der brutale Einsatz von Gewalt
und die massiven Einschüchterungsaktionen der NSDAP – teilweise vor den Augen
der Öffentlichkeit – wird von Wels hier zum ersten Mal klar hervorgehoben und
als Argument für die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD benutzt.
Die moralische Überlegenheit des Schwächeren („Freiheit
und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“, 59 f.) wird
wiederum auf die aktuelle Situation übertragen, um die mangelnde Legitimation
der Nationalsozialisten für ihr Vorgehen zu betonen. Wels brandmarkt dabei das
Ermächtigungsgesetz als schweren Bruch mit den verfassungsmäßigen Prinzipien,
indem er darin eine Ausschaltung der „Kontrolle
der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes“ (73
f.) sieht. Durch die hier benutzte Wortwahl betont er dabei, dass nicht in
erster Linie die SPD von diesem Ansinnen der Regierung Hitler betroffen ist,
sondern der demokratische Rechtsstaat und seine verfassungsmäßigen
Institutionen, die durch das Ermächtigungsgesetz betroffen sein würden und so
der „Allmacht der Regierung“ (78
f.) dienen würden, durch die bereits die Presse „jeder Bewegungsfreiheit“ (80
f.) entbehre.