Es wird immer wichtiger die Schüler in der Schule auf ein kompetentes und selbstverantwortliches Handeln in zukünftigen beruflichen, gesellschaftlich-politischen und privaten Situationen vorzubereiten.
Dies muss auch im Unterricht geübt werden. Es ist nicht einzusehen, warum Schüler plötzlich nach Verlassen der Schule selbstständig sein sollen, wenn sie die ganze Schulzeit lang daran gehindert wurden. Deshalb bekommen Unterrichtsformen, die den Kindern Möglichkeiten zum selbständigen Lernen und eigenverantwortlichen Handeln geben, eine wichtige Rolle.
2. Begriffsklärung
seit den frühen 70er Jahren Sammelbegriff für vielfältige Reformanliegen
lehnt sich an die amerikanische Bezeichnung „open education“ an
bezeichnet eher eine Bewegung als ein klar zu umschreibendes didaktisches Konzept
2.1 Entstehung des Offenen Unterrichts
in den 60er und 70er Jahren im Zusammenhang mit der Bildungsreform
2.1.1 Anlass der Bildungsreform
Weltpolitische Gründe
Konkurrenz der USA und UdSSR im Bereich (Rüstungs-) Technologie, Wirtschaft und Bildung
1957 „Auslöser“ Sputnikschock in den USA: War der Westen ins Hintertreffen geraten?
ïƒ Bildungsreformbemühungen in den USA bereits zu Beginn der 60er
Gesellschaftliche Gründe
Deutschland im Wandel von der Agrar- zur Industrienation
das bis in die 60er gültige Heimatkundekonzept war überkommen und wird Ansprüchen einer von Wissenschaft, Technik und Mobilität bestimmten Welt nicht mehr gerecht (Strukturplan 1970; Sputnikschock in den USA ïƒ auch dt. Forscher beschäftigten sich mit der Thematik; Debatte um mehr und bessere Qualifizierung der Bevölkerung)
Bildungsreformdebatte ging einher mit einer Demokratisierungsdebatte:
Abkehr von autoritären Herrschaftsstrukturen durch (emanzipatorische) Erziehung zu Mitspracherecht, Kritik- und eigener Urteilsfähigkeit
Bildungspolitische Gründe
1962: Georg Picht befürchtet den Bildungsnotstand in Deutschland; Ziel: Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland
es wurde gefordert, den Unterricht so zu gestalten, dass - im Sinne der Chancengleichheit - die sozial bedingten Begabungsunterschiede kompensiert werden
Lernpsychologische Gründe
maßgeblicher Anstoß der Bildungsreform durch Jerome Bruners Hypothese, die eine Bildungseuphorie auslöste: „Jeder Stoff kann jedem Kind in jedem Stadium in intellektuell redlicher Weise vermittelt werden“ (dynamischer Begabungsbegriff)
Abkehr vom statischen Begabungsbegriff: Begabung ist eher eine Anlage, d. h. genetisch determiniert und entwickelt sich in einem „Reifenlassen“ (O. Kroh)
2.1.2 Kernstück der Reform
Revision der Curricula: neue Curricula anstelle der Lehrpläne (veränderter Terminus aus angelsächsischem Sprachraum)
Inhaltliche Neuerungen
nicht allein die Orientierung am Kind und dessen Lern- und Interessensbedürfnisse sollten Prinzip der Unterrichtsgestaltung sein
Wissenschaftsorientierung als didaktisches Prinzip
inhaltliche Umgestaltung der Unterrichtsfächer (z. B. Mengenlehre)
fachlich gegliederter Lehrplan
Formale Umgestaltung
bisherige Richtlinien der Lehrpläne:
zu große Freiheit bei Stoffauswahl
Richtlinien wurden als Leerformeln gesehen
keine präzisen Anweisungen für die Gestaltung des Unterrichts
lernzielorientierte Tests zur Überprüfung des Lernergebnisses
2.1.3 Einfluss der Bildungsreform auf den Unterricht
Aufgaben der Schule:
Lernfähigkeit der Schüler entwickeln, fördern und Schüler stets neu motivieren
Lernwillen der Schüler verstärken
Verantwortung für die Aufstellung von Lernzielen ïƒ LZ müssen erneuert werden, wenn ihre Ãœbertragbarkeit auf die Gesellschaft nicht gewährleistet ist
optimale Organisation der Lernprozesse (Wissen, Medien, Methoden, Unterrichtsorganisation im Hinblick auf jeden einzelnen Schüler)
2.1.4 Auswirkungen des Lernprinzips auf die Schule: Lern- und Leistungsschule der 70er Jahre
Stärkere Betonung des Lernaspektes der menschl. Entwicklung hatte Konsequenzen für die Schule:
Lernen im gestuften Aufbau
(Stufenfolge der Lernprozesse musste erforscht werden und in der sachlich angemessenen Reihenfolge an das Kind herangetragen werden)
Curricula der einzelnen Fächer sollten LZ-Hierarchien und in sich gestufte Lernsequenzen enthalten
Veränderung des Leistungsverständnis und der Leistungsmessung
(neuer Stellenwert der LZ-Kontrolle)
exakte Leistungsmessung
(Ergebnis der Leistung tritt in den Vordergrund)
2.1.5 Bedeutung der Curricula für die Lehrpläne
präzise Angaben über LZ und Lerninhalte
methodisch didaktische Hinweise für die Unterrichtsgestaltung
‘81 Lehrplan in BY (LZ, LI, Empfehlungen für die Unterrichtsgestaltung)
ïƒ ABER: keine verbindlichen Anweisungen und genaue Festlegungen der U-Einheiten
ïƒ mehr Freiraum für den Lehrer
LP 2000 in Bayern: Konkrete Forderung nach „Formen freien Arbeitens“ in der GS
Lernzielorientierter Unterricht
Den größten Einfluss hatten die Curricula auf lernzielorientierten Unterricht:
LZ und methodische Schritte zum Erreichen dieser LZ werden genau festgelegt ïƒ Lernfortschritt des kann stets überprüft werden
Vorteile:
rationale Gestaltung des Unterrichts
Erhöhung der Lerneffektivität
Lernen im gestuften Aufbau (Reihenfolge ist wichtig)
Lernzielorientierte Tests: Lernerfolg im Vergleich zur Lernausgangslage kann gesehen werden ïƒ exakte Leistungsmessung ist möglich ïƒ objektive Kontrollen in der Schule
Nachteile:
übertriebener Glaube an Machbarkeit menschlichen Lernens
Glaube an Planbarkeit und Ziel menschlichen Lernens
Willensfreiheit der Schüler wird nicht beachtet
strenge Reglementierung für Lehrer und Schüler
kein Raum für Eigeninitiative und Kreativität
Mängel der Curricula
Lernziele (operationalisiert), -inhalte, -verfahren, Medien, Tests sind vorgeschrieben
ïƒ Lernprozesse sind dadurch genau festgelegt
Starrheit und mangelnde Anpassungsfähigkeit an konkrete Lernsituationen
 Forderung: Absetzung von geschlossenen Curriculaoffene Curricula (Tendenz zu offenem Curriculum im LP 2000)
Offene Curricula:
Anpassung an jeweilige Unterrichtssituation möglich
LZ haben Wegweiserfunktion
2.2 Definitionsversuch
Begriff „offener Unterricht“ lässt sich nicht einheitlich definieren
den offenen Unterricht gibt es nicht, es gibt nur verschiedene Formen von Unterricht, die mehr oder weniger Grade von Öffnung aufweisen
Begriff überlappt mit Begriffen wie „informelles Lernen“, „entdeckendes Lernen“, „schülerorientierter Unterricht“, „Projektunterricht“ ïƒ Begriffe lassen sich inhaltlich ganz oder teilweise unter dem Begriff „OU“ einordnen
heute ist es kaum mehr möglich herauszufinden, wer Begriff in die pädagogische Diskussion eingeführt hat
3. Vorbilder des offenen Unterrichts
Hugo Gaudig
Georg Kerschensteiner
Maria Montessori
Peter Petersen
Berthold Otto
4. Begründungen des offenen Unterrichts
4.1 Rechtliche Begründung
Notwendigkeit der Öffnung des Unterrichts ist verfassungsrechtlich verankert:
Art 2 GG:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“
Art 128 Bayerische Verfassung:
„Jeder hat einen Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten.“
Art 131 Bayerische Verfassung:
„Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“
schlägt sich nieder in den LP der einzelnen Schulstufen
4.2 Bildungspolitische Forderungen
In Bayern wird die Öffnung des Unterrichts ausdrücklich erwähnt: Öffnung nach außen und in der Klasse
LP 2000: Kap. I – Grundlagen und Leitlinien
2.1 Lernen und Lehren:
„Beim Lernen spielt die Eigenaktivität der Schüler eine entscheidende Rolle. Aufbauend auf bisherigen Erfahrungen entwickeln sie eigene, subjektiv stimmige Vorstellungen, die durch weiteres Lernen objektiviert werden. Die Kinder lernen, indem sie neue und bereits vorhandene Informationen und Handlungsmuster miteinander verknüpfen. Lernziele und Lernsituationen bedingen die Unterrichtsmethoden.
Ihre Wahl wird ferner dadurch bestimmt, wie sich soziales Lernen am besten verwirklichen lässt. Entdeckend-problemlösendes Lernen und Formen freien Arbeitens können besonders die Eigenaktivität und die Bereitschaft der Schüler fördern, die Verantwortung für ihr Lernen immer mehr selbst zu übernehmen.“
3.5 Öffnung der Schule:
„Schule ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrages öffnet sie sich ihrem Umfeld. Neben außerschulischen Fachleuten und Lernorten sowie den Eltern bezieht sie insbesondere Institutionen ein. Die GS beteiligt sich am öffentlichen Leben und wirkt als örtlicher Kulturträger. Sie stellt ihre Unterrichts- und Erziehungsarbeit in angemessener Weise vor.“
Unterricht kann nicht auf das Anspruchsniveau eines imaginären Durchschnittsschülers ausgerichtet sein (Über-/Unterforderung)
Heterogenität erzwingt Differenzierung hinsichtlich der Lernwege/Lernhilfen
Unterricht, der allen das gleiche bietet, wird nur einigen wenigen Schülern gerecht
jeder Schüler müsste seinen eigenen Lehrer haben ïƒ in der Praxis nicht realisierbar ïƒ Ã–ffnung des Unterrichts
Bemühung um „optimale Passung“ (Heckhausen)
Schwierigkeitsstand der Aufgabe soll sachstrukturellem Entwicklungsstand des Schülers entsprechen oder um ein geringes übersteigen („wohldosiertes Diskrepanzerlebnis“)
Gründe
es wird vom dynamischen Begabungsbegriff ausgegangen
Intelligenz ist das Ergebnis der Wechselwirkung von Anlage und Umwelt
Anlage ist unveränderbar, auf die Umwelt kann eingewirkt werden
Lernmotivation wird erhöht, wenn Anspruchsniveau so gesetzt wird, dass
Anforderungsgrad zur Bearbeitung reizt (etwas höher als momentaner Stand des Schülers)
Lösung möglich erscheint
Aufgabe dem Interesse der Schüler entspricht und die Schüler die Sachnotwendigkeit erkennen können
das von grundauf vorhandene Leistungsbedürfnis muss bei angemessener Aufgabenstellung durch Könnenserfahrung (Erfolgserlebnisse) befriedigt werden
veränderter Lernbegriff: Lernen ist individuell unterschiedlich (soll gemäß dem kindlichen Entwicklungsstand erfolgen); Lernen als eigenaktiver Prozess der Konstruktion von Wissen (Lernen ist ein „In-Beziehung-Setzen“ zu bereits vorhandenem Wissen) ïƒ Wirksame Lernprozesse setzen voraus, dass die Individuen aktiv bei der Auswahl der Lerngegenstände, Lernmethoden und Lerntempo mitwirken
4.4 Pädagogische Begründung
„Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine“
im Sinne der Chancengerechtigkeit ist eine gezielte Förderung der individuellen Anlagen anzustreben
die in vielen Belangen ungleichen Schüler sollen nicht gleich, sondern ihren Möglichkeiten gerecht werdend unterrichtet werden
gewandeltes Verständnis von Schule: Hilfe zur individuellen Entwicklung; Schule = Lebensraum
Folgen für den Unterricht
Unterricht/Erziehung muss kompensatorisch wirken
Maßnahmen dienen dazu, individuellen Lern- bzw. Leistungsdifferenzen entgegenzuwirken, um möglichst alle Kinder zu Ich-, Sach- und Sozialkompetenz zu führen und sie schul- und bildungsfähig zu machen
Hauptkennzeichen der gegenüber früheren Generationen heute veränderten Kindheit:
1. Familiengröße und Familienformen
früher war die die häufigste Lebensform die generationenübergreifende Großfamilie; sie ist heute er Kleinfamilie gewichen (3/4 der Kinder wachsen in einer Ein-Kind- (26,1 %) oder einer Zwei-Kind-Familie (47,4 %) auf)
es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl der Kinder aus "klassischen Familien" mit entsprechenden Grunderfahrungen kommt
2. Erwerbstätigkeit der Mütter
Problem der Betreuung der Kinder
3. Veränderung durch die Mediatisierung
Fernsehen und Computer sind die dominanten Medien im Kinderalltag
die mit Fernsehen und Computer verbrachte Zeit macht den größten Anteil der Freizeit der Kinder aus
Fernsehen bestimmt zunehmend den Modus der Kommunikation und die Art der Aneignung der Welt (zunehmend ikonisch ïƒ Verlust der sinnlich-gegenständlichen Erfahrungen)
falls sich das Kind an die Aneignung der Welt durch technische Bilder gewöhnt, kann die Entwicklung der Phantasie und Denktätigkeit gehemmt werden
4. Einflüsse der multikulturellen Gesellschaft
Anteil ausländischer Schüler ist in den letzten Jahren ständig gestiegen
in manchen Stadtteilen in der GS 30 - 50 %
5. Spiel- und Freizeitverhalten
verkehrsreiche Straßen, verbaute Umwelt und normierte Spielgelegenheiten (Spielplätze, Spielzeug, Kinderzimmer) entziehen dem Kind die Möglichkeit zu phantasievollem Spiel und ermöglichen nur wenige entdeckende Erfahrungen
6. Erziehungsnormen
Schule als Subsystem der Gesellschaft ïƒ demokratisch verfasste Gesellschaft erfordert auch eine demokratische Schule
in der Demokratie besitzt jedes Individuum die Chance und die Möglichkeit sich frei zu entfalten und über sich zu befinden
OU ermöglicht einen Beitrag zur Emanzipation der Schüler
Schule und OU liefern Möglichkeiten zum Einüben von eigenverantwortlichem Handeln und zur eigenverantwortlichen Entscheidungsfähigkeit der Schüler
7. Weitere Merkmale der heutigen Kindheit
wenig Möglichkeiten für aktives, selbständiges und verantwortliches Handeln
Kindern werden nur selten in der Familie verantwortungsvolle Aufgaben übertragen
der direkte Zugang zur Lebenswirklichkeit der Erwachsenen ist häufig versperrt
wenig Möglichkeiten für Kinder Arbeitsabläufe als Ganzes zu verfolgen oder sich daran zu beteiligen
Selbstständigkeit und Initiative der Kinder werden durch Außensteuerung stark eingeschränkt (Vorschriften, Medienkonsum, vorstrukturierte Spiele, institutionalisierte Freizeit)
ihnen fehlen Gelegenheiten, Zeit und Ruhe, sich zu sammeln und in eine Sache zu vertiefen
Folgen für den Unterricht
weitgehende Auflösung herkömmlicher Normalbiographien der Kinder
unterschiedliche Erfahrungen, Voraussetzungen und Einstellungen beim einzelnen Kind
fehlende Sozialfertigkeiten
Verschiedenheit macht sich in einer früher unbekannten Breite der Reaktionsweisen und Verarbeitungsformen bemerkbar, mit denen Kinder heute auf Informationen und Lerninhalte reagieren
Förderung der kommunikativen und sozialen Kompetenz
Unterricht, der mit dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten zugleich auch erziehlich wirkt in Bezug auf Haltungen, Einsichten und Orientierungen
Förderung kognitiver Persönlichkeitsmerkmale (Denkfähigkeit, geistige Selbstständigkeit, Produktivität, Kreativität und Kritikfähigkeit) als auch die nichtkognitiven Persönlichkeitsmerkmale (Leistungsmotivation, Interessen, Arbeitshaltung, Konzentration, Selbstkonzept)
5. Ziele des offenen Unterrichts
Erfüllung des Allgemeinbildungsanspruchs
Erziehung zu einer selbständigen und selbstverantwortlichen Persönlichkeit
problemlösendes Handeln und Denken anbahnen (durch Mitwirkung an Planung des Unterrichts)
Ergänzung der gezielten lehrgangsmäßigen Unterweisung durch den Lehrer durch Phasen selbstgesteuerten Lernens und Handelns
Wecken, Erhalten und Steigern des Spaßes am Lernen, des Interesses an Sachen, Probleme
Optimierung des Unterrichtsprinzips der Individualisierung bzw. der optimalen Passung
ganzheitliche Erziehung
Lebenswirklichkeit erschließen
Erfahrungsarmut ausgleichen, Verminderung der Passivität, Regressivität
Schaffung eines Bezugs: „Für das Leben lernen!“
Kinder so fördern, dass sie ihre individuellen Fähigkeiten, Interessen, Lernstil/Lerntyp erkennen
Unterrichtskonzept­ion Lehrergesteuerter Unterricht - schülergesteuerter Unterricht 1. Lehrergesteuerter Unterricht Planung, Organisation und Evaluation des Lehr- Lernprozesses in Regie des Lehrers · Lehrform, die vom Lehrer schülerorientiert geplant ist · Schüler sollen aktiv und…
...[weiter lesen]