„Nacht“
von Sibylle Berg
Textinterpretation
Die von Sibylle Berg verfasste und
2001 erschienene Kurzgeschichte „Nacht“ thematisiert den vorerst erfolgreichen
Ausbruchversuch zweier junger Menschen aus dem Alltagstrott einer Stadt. Er verdeutlicht
sowohl den Mut und das Risiko, den es für den Schritt jenseits der Norm
braucht, als auch die grandiose Chance, die in ihm liegt.
„(U)nabhängig
voneinander“ (Z.12) beschließen zwei junge Menschen, sich der Monotonie des
Alltags in einer Stadt zu entheben, indem sie dem Fluss der Masse, die am
Feierabend nach Hause drängt, widerstehen und auf einen „hohe(r)n
Aussichtsturm“ (Z.14) steigen, der sich außerhalb der Stadt befindet. Der
anfängliche Ärger über die Anwesenheit des Anderen an diesem stillen Ort in der
Nacht weicht nach und nach der Freude über die gefundene Nähe zu einem Du. Es
sind die Gedanken und das Motiv, hierhergekommen zu sein, welche die beiden
jungen Menschen verbinden und sie bis zum Morgen ihre Begegnung feiern lassen.
Da beginnt die Stadt in ihrer Geschäftigkeit den Trott von Neuem und es bleibt
unklar, ob die Nähe der jungen Menschen auch im Alltag Bestand hat.
Die junge Frau und der Mann genießen in stiller Verbundenheit den nächtlichen Ausblick vom Aussichtsturm.
Die Atmosphäre in der
Massengesellschaft der Stadt wird im anfänglichen Erzählerbericht neutral,
zugleich durch kurz eingeschobene Kommentare im Grad ihrer Entfremdung
bedrängend deutlich gemacht. Die „Menschen“ (Z.2, Z.3, Z.7,) wirken
austauschbar in ihrer vorhersagbaren, im Konjunktiv II vermittelten,
gleichförmigen Gestaltung ihres Feierabends, passive, namenlose Objekte einer
Stadt, die zuletzt als aktive Person vorgestellt wird, wenn sie am Morgen „zu
atmen“ (Z.32.) beginnt und die gleiche massive Bewegung geschildert wird wie am
Abend zuvor: nur umgekehrt:
So werden die Menschen
„geschoben“(Z.1), die folgende Aufzählung ihrer prognostizierbaren,
allabendlichen Handlungen unterstreicht den unerbittlichen, offenbar fraglos
verinnerlichten Massentakt. Auch die Parataxe simuliert diesen gleichförmigen
Takt. Ellipsen (Vgl. Z.2., Z.4, Z.6) erzeugen eine gewisse Atemlosigkeit, die
diesem Feierabendtakt innewohnt.
Es ist paradoxerweise „die Stadt“
(Z.32), die als Person lebt, nicht „die Menschen in der Stadt“ (Z.7) pulsieren,
sie haben ihre Individualität und Selbstbestimmung offenbar verloren. Die Stadt
ist der symbolische Ort der Massengesellschaft in der Moderne und Postmoderne,
in der „Tausende(n)“ (Z.1) im Gleichklang „funktionier(t)en“ (Z.7), in der
Anpassung unauffällig werden, wenn „Tausende“ (Z.32) gleichermaßen „geschäftig
geputzt(e)“ (Z.a.a.O.) Autos besitzen. Dass dieses anonyme, bezugslose Neben –
und Ineinander geschoben sein dem Menschen nicht gut tut, signalisiert der
Erzählerkommentar, der hinweist auf die Enge (vgl.Z.2) in der Stadt, dieses
Aneinander gedrängt sein in der anonymen Menge (vgl.Z.1) am „Abend“ (Z.3), wenn
„Tausende(n)“ (Z.1) (von der Arbeit) „nach Hause“ (Z.3) streben. Auch der
massenhaft gefühlte „kleine(n) Schmerz (beim Blick Richtung) Himmel“ (Z.4f.)
nach Feierabend zeigt in die gleiche Richtung.
Es ist der Wechsel der Farben, der
die Nacht ankündigt und kurz melancholisch stimmt; eventuell zum Träumen oder
Nachdenken einladen könnte. Offenbar scheint hierfür der Sinn, das Motiv, die
Hoffnung auf Änderung des ewig Gleichen zu fehlen, wie die einzige Frage der
Kurzgeschichte verdeutlicht: Sie macht die kurz aufglimmende Sehnsucht nach
Ausbruch aus dem Gleichschritt mit dem noch kürzer ausfallenden,
nachgeschobenen Erzählerkommentar zunichte: „Eine Nacht wie geschaffen, alles
hinter sich zu lassen, aber wofür?“ (Z.6) Zugleich wird klargemacht, dass
diese Objekthaftigkeit des Einzelnen und sein Aufgehen in der gesichtslosen
Masse und im Massentakt von der Mehrheit gewählt ist, ihr „Halt (Z.7) gibt, da
so dem individuellen Nachdenken und Infrage stellen des Alltagtrotts „keine
Pausen, … keine stille Zeit“ (Z.7f.) gegeben ist. Nur so kann der Einzelne in
den Großbetrieben und -städten der Industriegesellschaft funktionieren. Und
das will er offenbar, wenn er seine allabendliche Sehnsucht sofort unterdrückt,
auch ihr einen Platz in der Alltagsroutine einräumt, sie im Ritual erstarren
lässt. Die Alliterationen und Wortwiederholungen betonen die extreme
Wichtigkeit, nicht innezuhalten, wenn man funktionieren will.
Nach dieser recht Trost- und
aussichtlos wirkenden Schilderung der Entfremdung in der Großstadt tauchen nun
plötzlich „(d)as Mädchen und der Junge (auf, die) … nicht nach Hause (gehen)“
(Z.10): Sie ergreifen „in dieser Nacht“ (Z.16) die Chance, sich selbst aus dem
Massentakt und der anonymen Enge der Stadt zu nehmen. Was für ein Kontrast!
Es ist die kontrastive Anordnung der
Orte, Zeiten und Figuren, welche erst den „Mut“ (Z.11) der beiden „jung(en)“
(Z.10) Menschen und dann auch die Chance auf Selbstbestimmung und Nähe in der
Moderne und Postmoderne begreiflich macht, gerade weil sie den Schritt
konsequent tun, den „Tausende(n)“(Z.1, Z.32) nicht wagen: „unabhängig
voneinander“(Z.12) und als Einzelpersonen!
Das individuelle Denken schafft in
der anonymen Masse dennoch Annäherung ähnlich Sehnender und die daraus
resultierende Nähe ermöglicht den Dialog, den direkten Austausch des
individuellen Denkens. Nur die radikale und persönliche, vielmehr einsame
Entscheidung für „(e)twas ganz Verrücktes“ (Z.11), symbolisiert den Gegenort
der Stadt und in der dem „geschäftig(en)“ (Z.32) Treiben entrückten Zeit vermag
es, dem beim Sonnenuntergang kurz aufkeimenden, dann unterdrückten Sehnen Raum
zu geben. So wie es für eine Verweigerung des bloßen Funktionierens im
Massenbetrieb „Stadt“(Z.7, Z.32) nicht ausreicht, „(e)twas … Verrücktes“ (Z.11)
zu tun, so reicht auch nicht ein Ort außerhalb der Stadt, nein, er muss der
Stadt „ganz“ (Z.11) entrückt sein: Der „hohe Aussichtsturm“ (Z.14) steht auf
einem Berg, „400 Stufen“(Z.17) hoch muss man steigen, um ihn zu erreichen.
Die zwei jungen Menschen suchen dort das
„Unbekannte(s)“ (Z.8), um aus dem Takt zu geraten und zu sich zu kommen, was
die Masse eben nicht tut: um im Takt zu bleiben. Sie suchen die „stille
Zeit“(a.a.O.), um Eigenes zu denken, „in die Nacht“ (Z.19). Hier wird die
Bedeutung des Titels klar: Die „Nacht“(Titel), stehend für eine Tageszeit, in
der man nichts sieht ohne Licht, wird hier paradoxerweise als Symbol für die
Zeit der Erkenntnis eingesetzt, denn nichts, keine Massenbewegung, kein
Geräusch der Stadt, lenken das eigene, kleine Individuelle ab. So wie die Stadt
in der Moderne nach Sibylle Berg zur „atmen(den)“ (Z.32) Person mutiert und
mit „Leben“ (Z.33.) identifiziert wird, während der Mensch entpersönlicht und
zum bloßen Funktionsträger irgendeiner Maschinerie verkommt, so bringt erst die
„Nacht“ (Titel) Licht ins Dunkel der individuellen Seele. Nach der Phase der
Annäherung (vgl. Z.19f.) und Entdeckung der Seelenverwandtschaft (Z.21f.) leben
„der Junge“ (Z.27) und das Mädchen(Z.29) auf dem Turm ihre Vertrautheit, indem
„(s)ie … sich an der Hand (halten), die ganze Nacht“ (Z.25f.). Das im Kontext
des Ausbruchs aus der Alltagsroutine zum wiederholten Male eingesetzte Attribut
„ganz(e)“(a.a.O.) betont die radikale Nachhaltigkeit der Entscheidung, die es
braucht, um sich dem Räderwerk der Maschinerie „Stadt“(Z.7) widersetzen zu
können. Im nachfolgenden Dialog kommentiert der Junge den Schritt aus der
Monotonie des Alltags als „so einfach“ (Z.27)- ein wiederholtes Paradox. Beide Paradoxien
verweisen allerdings auf den der Massengesellschaft unterstellten Rollentausch
von Stadt und Mensch. Die Stadt steht hier als Symbol für industrielle und
betriebliche Geschäftigkeit, welche wie ein individueller, lebendiger
Organismus (vgl. Z.32f.) wirkt, dem seine Bewohner zu Diensten stehen, für
dessen Funktionstüchtigkeit die Menschen sorgen. Die Letztgenannten verlieren
in dieser Rollenzuweisung ihre Individualität und die Fähigkeit, ihre Welt
individuell zu gestalten. Aussteiger wie die beiden jungen Menschen fragen sich
nur zu „Hause, … wo das Leben bleibt.“ (Z.31), „auf den Straßen“(Z.2)
hingegen, in der Masse und der Alltagsroutine funktionieren selbst sie. Dass
das Zurückgehen in die Stadt daher „das Ende von ihnen wäre“ (Z.33), diese
Erkenntnis können die beiden allerdings auf dem „hohe(n) Aussichtsturm“(Z.14)
und in der „Nacht“ (Titel) entwickeln. Er und sie stehen kontrastiv und
symbolisch für das selbstbestimmte, individuell „(er)dachte(n)“ (Z.19) Leben.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang die dreifache Wiederholung des Prädikats
„dachten, dachte“ (Z.11, Z.19, Z.34) und die vierfache des Nomens „Gedanken“
(Z.13, Z.20, Z.21, Z.22). Der Fähigkeit des Menschen, sich Welten zu denken und
seine eigene danach zu gestalten, erinnert an den Wahlspruch der Aufklärung
nach dem Dunkel des langen Mittelalters: „Sapere aude!“(Kant). Auch hier
entsteht eine scheinbare Paradoxie: Obwohl der Mensch der Postmoderne in einer
extrem individualisierten Gesellschaft lebt, wagt er -nach Berg- nicht, sich
selbst jenseits von der Norm, dem Mainstream zu erfinden und zu leben. Er
bleibt, so wie der gemeine Mensch des Mittelalters, im Räderwerk der vergebenen
Funktion in der Gesellschaft hängen. Im Unterschied zum Mittelalter hat der
Einzelne -nach Sibylle Berg- allerdings die Chance, indem er sich der
Normalität entsetzt, beispielsweise auf einem hohen Turm und aus eigenem
Antrieb. Dort kann er eigenen „Gedanken“ (a.a.O) nachhängen, sich und seiner
persönlichen Identität näher kommen. Es bleibt ja auch nicht beim Denken, denn
die beiden jungen Menschen tauschen ihre Gedanken aus (vgl. Z.19ff.), kommen
ins Gespräch und in einen vertrauten Kontakt (vgl.Z.22ff.), der den innigen
Wunsch nach Identität und persönlichem Leben (Vgl.Z.34f.) stiftet.
Die zwei Dimensionen der
symbolbehafteten Orte und Zeiten sowie die verschiedenen Erzähltechniken
arbeiten in der Kurzgeschichte „Nacht“ von Sibylle Berg vor allem die Chance
heraus, auch in der Massengesellschaft einen individuellen Weg finden zu
können: mit einem nahen Du - gegen die Entfremdung. Die atmosphärisch dichte
Schilderung des Massentaktes in der Stadt nach Feierabend -zu Beginn- und
zuletzt am Morgen bringen den Sog, der vom Massentakt in der Stadt ausgeht,
sinnlich näher. Die Entdeckung der Seelenverwandtschaft der beiden jungen
Menschen, die sich diesem Takt verweigern, indem sie einen Ort hoch über der
Stadt aufsuchen, um individuell denken und sich auszutauschen zu können, wird
in der Gedanken- und Dialogspiegelung lebhaft nachvollziehbar. Ob diese
Verweigerung im Zweisamen, in der Liebe Bestand haben kann, bleibt offen; klar
scheint in der Logik der Kurzgeschichte zugleich, dass nur dieser Weg aus der
Entfremdung und Vereinsamung der Postmoderne führen kann.