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Interpretation

Nacht von Sibylle Berg: Text­in­ter­pre­ta­tion - Kurzprosa

1.502 Wörter / ~4½ Seiten sternsternsternsternstern Autorin Kristine S. im Nov. 2014
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Interpretation
Deutsch

Sibylle Berg Nacht Interpretation

Universität, Schule

Schwäbisch Gmünd Hans-Baldung-Gymnasium

Note, Lehrer, Jahr

2012

Autor / Copyright
Kristine S. ©
Metadaten
Format: pdf
Größe: 0.22 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 43112







„Nacht“ von Sibylle Berg

Textinterpretation

 

Die von Sibylle Berg verfasste und 2001 erschienene Kurzgeschichte „Nacht“ thematisiert den vorerst erfolgreichen Ausbruchversuch zweier junger Menschen aus dem Alltagstrott einer Stadt. Er verdeutlicht sowohl den Mut und das Risiko, den es für den Schritt jenseits der Norm braucht, als auch die grandiose Chance, die in ihm liegt. 

(U)nabhängig voneinander“ (Z.12) beschließen zwei junge Menschen, sich der Monotonie des Alltags in einer Stadt zu entheben, indem sie dem Fluss der Masse, die am Feierabend nach  Hause drängt, widerstehen und auf einen „hohe(r)n Aussichtsturm“ (Z.14) steigen, der sich  außerhalb der Stadt befindet. Der anfängliche Ärger über die Anwesenheit des Anderen an diesem stillen Ort in der Nacht weicht nach und nach der Freude über die gefundene Nähe zu einem Du. Es sind die Gedanken und das Motiv, hierhergekommen zu sein, welche die beiden jungen Menschen verbinden und sie bis zum Morgen ihre Begegnung feiern lassen. Da beginnt die Stadt in ihrer Geschäftigkeit den Trott von Neuem und es bleibt unklar, ob die Nähe der jungen Menschen auch im Alltag Bestand hat.

Die junge Frau und der Mann genießen in stiller Verbundenheit den nächtlichen Ausblick vom Aussichtsturm.
Die junge Frau und der Mann genießen in stiller Verbundenheit den nächtlichen Ausblick vom Aussichtsturm.

Die Atmosphäre in der Massengesellschaft der Stadt wird im anfänglichen Erzählerbericht neutral, zugleich durch kurz eingeschobene Kommentare im  Grad ihrer Entfremdung bedrängend deutlich gemacht. Die „Menschen“ (Z.2, Z.3, Z.7,) wirken austauschbar in ihrer vorhersagbaren, im Konjunktiv II vermittelten, gleichförmigen Gestaltung ihres Feierabends, passive, namenlose Objekte einer Stadt, die zuletzt als aktive Person vorgestellt wird, wenn sie am Morgen „zu atmen“ (Z.32.) beginnt und die gleiche massive Bewegung geschildert wird wie am Abend zuvor: nur umgekehrt:

So werden die Menschen „geschoben“(Z.1), die folgende  Aufzählung ihrer prognostizierbaren, allabendlichen Handlungen unterstreicht den unerbittlichen, offenbar fraglos verinnerlichten Massentakt. Auch die Parataxe simuliert diesen gleichförmigen Takt. Ellipsen (Vgl. Z.2., Z.4, Z.6) erzeugen eine gewisse Atemlosigkeit, die diesem Feierabendtakt innewohnt.

Es ist paradoxerweise „die Stadt“ (Z.32), die als Person lebt, nicht „die Menschen in der Stadt“ (Z.7) pulsieren, sie haben ihre Individualität und Selbstbestimmung offenbar verloren. Die Stadt ist der symbolische Ort der Massengesellschaft in der Moderne und Postmoderne, in der  „Tausende(n)“ (Z.1) im Gleichklang „funktionier(t)en“ (Z.7), in der Anpassung unauffällig werden, wenn „Tausende“ (Z.32) gleichermaßen „geschäftig geputzt(e)“ (Z.a.a.O.) Autos besitzen. Dass dieses anonyme, bezugslose Neben – und Ineinander geschoben sein dem Menschen nicht gut tut, signalisiert der Erzählerkommentar, der hinweist auf die Enge (vgl.Z.2) in der Stadt, dieses Aneinander gedrängt sein in der anonymen Menge (vgl.Z.1) am „Abend“ (Z.3), wenn „Tausende(n)“ (Z.1) (von der Arbeit) „nach Hause“ (Z.3) streben. Auch der massenhaft gefühlte „kleine(n) Schmerz (beim Blick Richtung) Himmel“ (Z.4f.) nach Feierabend zeigt in die gleiche Richtung.

Es ist der Wechsel der Farben, der die Nacht ankündigt und kurz melancholisch stimmt; eventuell zum Träumen oder Nachdenken einladen könnte. Offenbar scheint hierfür der Sinn, das Motiv, die Hoffnung auf Änderung des ewig Gleichen zu fehlen, wie die einzige Frage der Kurzgeschichte verdeutlicht: Sie macht die kurz aufglimmende Sehnsucht nach Ausbruch aus dem Gleichschritt mit dem noch kürzer ausfallenden, nachgeschobenen Erzählerkommentar zunichte: „Eine Nacht wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen, aber wofür?“ (Z.6)  Zugleich wird klargemacht, dass diese Objekthaftigkeit des Einzelnen und sein Aufgehen in der gesichtslosen Masse und im Massentakt von der Mehrheit gewählt ist, ihr „Halt (Z.7) gibt, da so dem individuellen Nachdenken und Infrage stellen des Alltagtrotts  „keine Pausen, … keine stille Zeit“ (Z.7f.) gegeben ist. Nur so kann der Einzelne in den Großbetrieben und -städten der Industriegesellschaft funktionieren. Und  das will er offenbar, wenn er seine allabendliche Sehnsucht sofort unterdrückt, auch ihr einen Platz in der Alltagsroutine einräumt, sie im Ritual erstarren lässt. Die Alliterationen und Wortwiederholungen betonen die extreme Wichtigkeit, nicht innezuhalten, wenn man funktionieren will.

Nach dieser recht Trost- und aussichtlos wirkenden Schilderung der Entfremdung in der Großstadt tauchen nun plötzlich „(d)as Mädchen und der Junge (auf, die) …  nicht nach Hause (gehen)“ (Z.10): Sie ergreifen „in dieser Nacht“ (Z.16) die Chance, sich selbst aus dem Massentakt und der anonymen Enge der Stadt zu nehmen. Was für ein Kontrast!

Es ist die kontrastive Anordnung der Orte, Zeiten und Figuren, welche erst den „Mut“ (Z.11) der beiden „jung(en)“ (Z.10) Menschen und dann auch die Chance auf Selbstbestimmung und Nähe in der Moderne und Postmoderne begreiflich macht, gerade weil sie den Schritt konsequent tun, den „Tausende(n)“(Z.1, Z.32) nicht wagen: „unabhängig voneinander“(Z.12) und als Einzelpersonen!

Das individuelle Denken schafft in der anonymen Masse dennoch Annäherung ähnlich Sehnender und die daraus resultierende Nähe ermöglicht den Dialog, den direkten Austausch des individuellen Denkens. Nur die radikale und persönliche, vielmehr einsame Entscheidung für „(e)twas ganz Verrücktes“ (Z.11), symbolisiert den Gegenort der Stadt und in der dem „geschäftig(en)“ (Z.32) Treiben entrückten Zeit vermag es, dem beim  Sonnenuntergang kurz aufkeimenden, dann unterdrückten Sehnen Raum zu geben. So wie es für eine Verweigerung des bloßen Funktionierens im Massenbetrieb „Stadt“(Z.7, Z.32) nicht ausreicht, „(e)twas … Verrücktes“ (Z.11) zu tun, so reicht auch nicht ein Ort außerhalb der Stadt, nein, er muss der Stadt „ganz“ (Z.11) entrückt sein: Der „hohe Aussichtsturm“ (Z.14) steht auf einem Berg, „400 Stufen“(Z.17) hoch muss man steigen, um ihn zu erreichen.

Die zwei jungen Menschen suchen dort das „Unbekannte(s)“ (Z.8), um aus dem Takt zu geraten und zu sich zu kommen, was die Masse eben nicht tut: um im Takt zu bleiben. Sie suchen die „stille Zeit“(a.a.O.), um Eigenes zu denken, „in die Nacht“ (Z.19). Hier wird die Bedeutung des Titels klar: Die „Nacht“(Titel), stehend für eine Tageszeit, in der man nichts sieht ohne Licht, wird hier paradoxerweise als Symbol für die Zeit der Erkenntnis eingesetzt, denn nichts, keine Massenbewegung, kein Geräusch der Stadt, lenken das eigene, kleine Individuelle ab. So wie die Stadt in der Moderne nach Sibylle Berg zur „atmen(den)“ (Z.32) Person mutiert und mit  „Leben“ (Z.33.) identifiziert wird, während der Mensch entpersönlicht und zum bloßen Funktionsträger  irgendeiner Maschinerie verkommt, so bringt erst die „Nacht“ (Titel) Licht ins Dunkel der individuellen Seele. Nach der Phase der Annäherung (vgl. Z.19f.) und Entdeckung der Seelenverwandtschaft (Z.21f.) leben „der Junge“ (Z.27) und das Mädchen(Z.29) auf dem Turm ihre Vertrautheit, indem „(s)ie … sich an der Hand (halten), die ganze Nacht“ (Z.25f.). Das im Kontext des Ausbruchs aus der Alltagsroutine zum wiederholten Male eingesetzte Attribut „ganz(e)“(a.a.O.) betont die radikale Nachhaltigkeit der Entscheidung, die es braucht, um sich dem Räderwerk der Maschinerie „Stadt“(Z.7) widersetzen zu können. Im nachfolgenden Dialog kommentiert der Junge den Schritt aus der Monotonie des Alltags als „so einfach“ (Z.27)- ein wiederholtes Paradox. Beide Paradoxien verweisen allerdings auf den der Massengesellschaft unterstellten Rollentausch von Stadt  und Mensch. Die Stadt steht hier als Symbol für industrielle und betriebliche Geschäftigkeit, welche wie ein individueller, lebendiger Organismus (vgl. Z.32f.) wirkt, dem seine Bewohner zu Diensten stehen, für dessen Funktionstüchtigkeit die Menschen sorgen. Die Letztgenannten verlieren in dieser Rollenzuweisung ihre Individualität und die Fähigkeit, ihre Welt individuell zu gestalten. Aussteiger wie die beiden jungen Menschen fragen sich nur zu „Hause, … wo das Leben bleibt.“ (Z.31),  „auf den Straßen“(Z.2) hingegen, in der Masse und der Alltagsroutine funktionieren selbst sie.  Dass das Zurückgehen in die Stadt daher „das Ende von ihnen wäre“ (Z.33), diese Erkenntnis können die beiden allerdings auf dem „hohe(n) Aussichtsturm“(Z.14) und in der „Nacht“ (Titel) entwickeln. Er  und sie stehen kontrastiv und symbolisch für das selbstbestimmte, individuell „(er)dachte(n)“ (Z.19) Leben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die dreifache Wiederholung des Prädikats „dachten, dachte“ (Z.11, Z.19, Z.34) und die vierfache des Nomens „Gedanken“ (Z.13, Z.20, Z.21, Z.22). Der Fähigkeit des Menschen, sich Welten zu denken und seine eigene danach zu gestalten, erinnert an den Wahlspruch der Aufklärung nach dem Dunkel des langen Mittelalters: „Sapere aude!“(Kant). Auch hier entsteht eine scheinbare Paradoxie: Obwohl der Mensch der Postmoderne in einer extrem individualisierten Gesellschaft lebt, wagt er -nach Berg- nicht, sich selbst jenseits von der Norm, dem Mainstream zu erfinden und zu leben. Er bleibt, so wie der gemeine Mensch des Mittelalters, im Räderwerk der vergebenen Funktion in der Gesellschaft hängen. Im Unterschied zum Mittelalter hat der Einzelne -nach Sibylle Berg- allerdings die Chance, indem er sich der Normalität entsetzt, beispielsweise auf einem hohen Turm und aus eigenem Antrieb. Dort kann er eigenen „Gedanken“ (a.a.O) nachhängen, sich und seiner persönlichen Identität näher kommen. Es bleibt ja auch nicht beim Denken, denn die beiden jungen Menschen tauschen ihre Gedanken aus (vgl. Z.19ff.), kommen ins Gespräch und in einen vertrauten Kontakt (vgl.Z.22ff.), der den innigen Wunsch nach Identität und persönlichem Leben (Vgl.Z.34f.) stiftet.

 

Die zwei Dimensionen der symbolbehafteten Orte und Zeiten sowie die verschiedenen Erzähltechniken arbeiten in  der Kurzgeschichte „Nacht“ von Sibylle Berg vor allem die Chance heraus, auch in der Massengesellschaft einen individuellen Weg finden zu können: mit einem nahen Du - gegen die Entfremdung. Die atmosphärisch dichte Schilderung des Massentaktes in der Stadt nach Feierabend -zu Beginn- und zuletzt am Morgen bringen den Sog, der vom Massentakt in der Stadt ausgeht, sinnlich näher. Die Entdeckung der Seelenverwandtschaft der beiden jungen Menschen, die sich diesem Takt verweigern, indem sie einen Ort hoch über der Stadt aufsuchen, um individuell denken und sich auszutauschen zu können, wird in der Gedanken- und Dialogspiegelung lebhaft nachvollziehbar. Ob diese Verweigerung im Zweisamen, in der Liebe Bestand haben kann, bleibt offen; klar scheint in der Logik der Kurzgeschichte zugleich, dass nur dieser Weg aus der Entfremdung und Vereinsamung der Postmoderne führen kann.

 


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