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Interpretation

Mann über Bord von Günter Kunert - Analyse

1.630 Wörter / ~5 Seiten sternsternsternsternstern Autorin Anna N. im Jan. 2018
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Dokumenttyp

Interpretation
Deutsch

Universität, Schule

Gymnasium Berlin

Note, Lehrer, Jahr

2000

Autor / Copyright
Anna N. ©
Metadaten
Format: pdf
Größe: 0.19 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 70939







Günter Kunert „Mann über Bord“, 1972

Analytische Texterschließung,

 

Worin besteht der Sinn von Literatur? Geht es darum, Geschehenes in der Darstellung sprachlich auszuschmücken, Gehirngespinste zu erstellen, Papier zu beschreiben?

Vielleicht bringt mich die Lektüre einer kurzen Erzählung von Günter Kunert weiter.

Der Autor, Jahrgang 1929, widmet sich in seiner Literatur vorrangig der kurzen Prosa, die keine langschweifigen Ausführungen zulässt. So konzentriert er auch die Vorgänge in der zugrunde liegenden Erzählung „Mann über Bord“ auf eine banale Fabel: Ein angetrunkener Matrose verursacht auf seinem Schiff einen Unfall, indem er, sich nicht mehr in der Senkrechten halten könnend, ins Wasser fällt. Die folgende Rettungsaktion der Mannschaft führt jedoch wider Erwarten zum Untergang von Schiff,  Kapitän und Mannschaft aufgrund deren übereifriger unangemessener Aktionen, wogegen der Verursacher des Unglücks, der Matrose, als Schiffsbrüchiger von Bewohnern einer Insel aufgenommen und, eingebettet in eine erfundene Geschichte über die Ursache seines „Erscheinens“, sich hegen und pflegen lässt.

Der betrunkene Matrose fällt ins blaue Meer; Rettungsversuch endet tragisch am Schiff.
Der betrunkene Matrose fällt ins blaue Meer; Rettungsversuch endet tragisch am Schiff.

Bei aller Trivialität des Geschehens versteht es Kunert, mit Worten ein Wechselspiel sprachlicher Kontraste und Bilder zu entwickeln, was das Lesen zum Vergnügen macht.

So beginnt er bereits in der Abfolge von Titel und Anfang der Erzählung das Leseinteresse zu wecken, wenn er die durch die Überschrift „Mann über Bord“ ausgelöste Erwartung einer Dramatik mit dem ersten Satz wieder abschwächt: „Der Wind wehte nicht so stark.“ (Z 1)

Konfrontiert uns der Autor schon im Titel in elliptischer Verknappung mit dem Geschehen, wobei es offensichtlich nicht um die Individualität des Menschen an sich zu gehen scheint, da er die Figurenbezeichnung auf die unpersönliche Zuordnung „Mann“ reduziert, lenkt er im ersten Satz unser Augenmerk auf die umgebende Situation. Fast antithetisch provoziert er dort das Bild der Ruhe, wenn er die Assoziationen, die mit dem Substantiv „Wind“, gepaart mit dem Verb „weht“ und dem Adverb „stark“ , für einen Moment entstehen, durch das Adverb „nicht“ sofort erstickt. „Der Wind wehte nicht so stark.“ Dieses Bild der ruhigen Situation steht unvermittelt nach der Unglücksmeldung: „Mann über Bord“, der Leser erweitert es zur ruhigen See aufgrund der Titelanmerkung „Bord“. Ohne Erläuterung von Umständen listet Kunert nun im ersten Abschnitt in sachlicher Darstellung auf, wie das Unglück ablief. Dazu erweitert er den Kreis der auftretenden Figuren um den „Kapitän“ und „die Mannschaft“. Die Bezeichnung der Figuren bleibt weiter allgemein und anonym, sodass sich das Lesen immer mehr auf das Geschehen und die Darstellung der Situation konzentriert. Der anfangs ruhigen Stimmung wird  eine dynamischere Schiffsbewegung gegenübergestellt mit Hilfe der Substantivierung „Schlingern“ (Z 2), der bereits im Titel benannte „Mann“ mit der Dienst -Bezeichnung „Matrose“ mit der Schiffssituation verknüpft. Zudem charakterisieren ihn Adverbien und ein Verb: „angetrunken …leichtfertig tänzelnd“ (Z 3f)  als ein verantwortungsloses Besatzungsmitglied eben dieses Schiffes, von dessen Deck er nachfolgend stürzte. Das Bild der Bewegung bestätigt sich mit dem Verb „stürzte“ (Z4). Kunerts parataktischer Satzbau lässt die nun im zweiten Abschnitt folgende Darstellung der Rettungsaktion der Mannschaft routiniert und schnell erscheinen: „Der Mann am Ruder sah…gab sofort Alarm…Der Kapitän befahl..“ (Z 5-9) Auffallend ist die wiederholte Charakterisierung des „mäßig bewegten Wassers“ als Bild einer ruhigen See, das auch in dem „langsam forttreibenden Matrosen“

(Z 9) eine Bestätigung findet. Die Metaphorik der Seemannsprache verwendend gestaltet der Autor die Rettungsaktion bildhaft:  „Die Mannschaft legte sich kräftig in die Riemen“ (Z 10) Es entsteht dadurch auch ein Bild der Kraft und Stärke gemeinsamer Aktion. Unvermittelt erscheint dagegen das Bild der Panik des „um Hilfe rufenden (Z 12), der sich an den ausgeworfenen Rettungsring „klammerte“ (Z 14) im Kontrast zur Wiederholung der ruhigen See (Z 1 / 9) und der geringen Entfernung zwischen Matrose und Schiff (vgl. Z 11). Der auktoriale Erzähler, der sich bisher nur auf die Darstellung des Geschehens konzentrierte,  scheint hier sich einzubringen und in einer ersten Wertung das Verhalten des Matrosen indirekt zu kritisieren, indem er Situation und unangemessenes Verhalten gegenüberstellt. Dieser Gedanke des unangemessenen Verhaltens wird nun vom Autor weiter geführt, wenn er „im näher schaukelnden Boot“ sich „einen“ aufrichten lässt, um den Matrosen herauszuretten. Jedoch verliert der Mensch als Akteur immer mehr an Bedeutung, da der Autor den Retter als „einen“ bezeichnet und den Matrosen zu einem „im Wasser Treibenden“ (Z 16) verdinglicht.

Das Geschehen wird nun dramatisiert, indem Kunert auch den zweiten Matrosen „in die Fluten“ (Z19) fallen lässt, wobei die Situation von der ruhigen See zu den genannten „Fluten“ erneut unvermittelt umbrach und  eine „ungeahnte hohe Woge das Boot seitlich unterlief und umwarf.“ (Z 21) Somit wechselt der Leser erneut von Geschehen um den Matrosen zum Geschehen des Schiffes, das in den weiteren Ausführungen mit mehreren sprachlichen Feinheiten in den Mittelpunkt der Erzählung rückt, wogegen der Autor in den Darstellung des Verhaltens der Matrosen sachlich bleibt. bzw. sogar ins Sarkastische abgleitet: Verharrt der Leser anfangs noch bei der Rettungsaktion der „Schwimmenden und Schreienden“ durch die Alliteration und der Lautgruppe „SCH“ (Z 22), verlagert sich seine Aufmerksamkeit im folgenden auf die personifizierende Darstellung des Geschehens um das Schiff, das, „sterbensmüde“, tödlich verwundet durch den „aufgerissenen“ (Z 26f) stählernen Körper, nun auch noch von einem Stoß „erschüttert“ (Z 25) wurde. Mit hypotaktischem Satzbau erfahren wir die genauen Zusammenhänge des Schiffsunterganges. Die Häufung der sinntragenden Adverbien (vgl. Z 25f) steigert das Bild des sterbenden Schiffes, das dem „zackigen Korallenriff“ (Z 28) mit seiner zackigen Gestalt gegenüber steht. Die lakonische Bemerkung: „Der Kapitän versackte wie üblich mit dem tödlich verwundeten Schiff.“ (Z 29ff) nimmt die im vorderen Teil durchscheinende,  sarkastisch anmutende Abwertung des menschlichen Verhaltens auf, verdinglicht den Kapitän mit der Verbwahl: „versackte“ sowie der Ergänzung: „wie üblich“(Z 30).  Der Mensch bleibt Objekt der Aktionen. Handlungsträger werden nun die Haifische, denen die restlichen Mitglieder der Besatzung ausgesetzt sind. Der Mensch ist in seinem Schicksal der Natur unterworfen: „Haie näherten sich und verschlangen, wen sie erwischten.“ (Z 32f) Die Umgangssprache („…wen sie erwischten.“ ) nimmt dem Dargestellten die Brutalität und Brisanz. Fast grotesk wirkt dann der Nachsatz: „Wenige der Seeleute gelangten in die Rettungsboote, um ein paar Tage später auf der unübersehbaren Menge salziger Flüssigkeit zu verdursten“ (Z34ff) Die Konjunktionalsatz „..,um zu“ deutet eigentlich auf eine bewusste Zweckhandlung hin, wird aber durch seinen inhaltlichen Kontext in der Erzählung ins Gegenteil gekehrt, sodass das Verdursten der Seeleute trotz der “unübersehbaren Menge …Flüssigkeit“ mit dem Adjektiv „salzig“ (ebd.) neben der tragischen auch eine groteske Note erhält.

Auch der Matrose bleibt Objekt der Umstände: In Passivkonstruktionen erfahren wir vom Autor dessen Rettung durch das Meer auf eine Insel und die Aufnahme durch deren Inselbewohner. Jedoch wird der Blick des Lesers jetzt wieder auf den Matrosen fokussiert, da mit der Alliteration: „gefunden, gepflegt und gefeiert…“ (Z47f) erneut der Matrose Mittelpunkt des Geschehens wird. Somit erhält die Erzählung eine Rahmung: Titel und Ausgangssituation auf dem Schiff bringen den Matrosen ins Zentrum der Erzählung und vermitteln im Zusammenhang mit der Darstellung der Handlung und Situationscharakterisierung ein fragwürdiges Bild von eben diesem Matrosen. Eben diese Fragwürdigkeit keimt auch in den Schilderungen um seine Rettung wieder auf: Der Autor lässt es zu, dass der Matrose, der den Tod seiner Mannschaft verschuldet hat, in eine Auseinandersetzung geraten kann mit dem Passierten, mit seinem Verhalten und mit neuen Menschen  auf einer einsamen Insel. Als Weg dieser Auseinandersetzung bietet der Autor jedoch die Flucht des Protagonisten in eine Lügengeschichte an, indem er in komplizierten Parataxen die „Katastrophe als Folge einer Kesselexplosion schilderte“. (Z45) Die sachlich nüchterne Darstellungsart des Schilderns steht jetzt im Gegensatz zur Dramatik des vermeintlichen Geschehens und lässt den aus der „Höhe (Z)usehen(den)“ (Z48) unglaubwürdig erscheinen, zumal die umgangssprachliche Redensart. „wie die Trümmer mit Mann und Maus versanken“ (Z 48f) das vermeintlich Beobachtete banalisieren. Diese mögliche Wertung durch den Leser findet jedoch in der weitern Erzählung keine Entsprechung.

Mit der Wiederholung: „der einzig Überlebende“ (Z 43 / 51) fixiert der Autor den Lesenden auf den Matrosen und gestaltet nun diesen Weg der Auseinadersetzung mit seiner Vergangenheit einseitig: „Von dieser Geschichte konnte der einzig Überlebende trefflich leben;“ (Z 50f) Die bewusst handelnden Menschen treten zurück. „Mitleid und das Hochgefühl, einen seines Schicksals zu erkennen, ernährten ihn.“ (Z 52f) Die Zeilen konzentrieren sich auf die Darstellung der Umstände, die den Matrosen mit Verwendung in der Passivkonstruktion „trefflich leben“ ließen und ihn „ernährten“ (ebd.)

Der Autor steigert dieses passive Verhalten der Menschen, den Umständen ausgeliefert zu sein, im Schlussteil der Erzählung noch einmal, indem er einerseits die Beobachtungen der Inselbewohner im Konjunktiv: „Nun schien es den Leuten…“ (Z 54) und andererseits den Protagonisten vor einer direkten Auseinandersetzung mit der Wahrheit entfliehen lässt: „Wenn ein Fremder auftauchte, verschwand…“ (Z 56), wobei die Adverbialaufzählung: „erblassend und zitternd und erfüllt von einer Furcht“ (ebd.) nur Vermutungen über innere Zustände und Zweifel des Matrosen zulassen, zumal die Ergänzung: „…die keiner deuten konnte: ein stetes Geheimnis“ (Z 60) Ausdruck keiner direkten Kommunikation zwischen den Bewohnern der Insel und dem Matrosen ist. Daraus folgend erscheint Kunerts Schlussgedanke: „…ein stetes Geheimnis und daher ein steter Gesprächsstoff für die langen Stunden der Siesta.“ (Z 59ff) den Umgang der Menschen miteinander aus einer anderen Sicht noch einmal aufzugreifen: Einige Menschen auf einer Insel werden in ihrer Kommunikation mit neuen Menschen zurückhaltend dargestellt, verharren lieber in Spekulationen über beobachtete Detailerscheinungen bzw. erzählte Oberflächlichkeiten verharrend, statt ihren Lebenssinn in sinnvolleren Aktionen zu suchen. Andererseits lässt der Autor es zu, dass sich der Matrose seine Privatsphäre bewahrt, wenngleich seine Vergangenheit eine schwere Bürde darstellt. Dieses offene Ende greift die Frage nach dem Sinn von Literatur erneut auf und entlässt mich ohne eine eindeutige Antwort.

Für mich bleibt Kunerts vielschichtige Darstellung des Menschen, der in seinen Handlungen durch verschiedene Umstände gesteuert wird. Einerseits durch Beeinflussung seiner biologischer Eigenkontrolle (Alkohol), dann durch die erworbenen Fähigkeiten, in bestimmten Situationen maschinenartig gesteuert zu funktionieren, ohne die konkrete Situation abzuschätzen. Andererseits das passive Ausgesetztsein höheren Gewalten (Drift trug an den Strand), aber auch das sich zum Objekt anderer ergebende Verhalten, um den Genuss derer Gunst und Zuwendung zu erheischen und letztendlich die bewusste Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben , das durch den konkreten Inhalt der Erzählung eine dramatische Sonderform erhält.


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