Günter Kunert „Mann über Bord“, 1972
Analytische Texterschließung,
Worin besteht der Sinn von Literatur? Geht es darum,
Geschehenes in der Darstellung sprachlich auszuschmücken, Gehirngespinste zu
erstellen, Papier zu beschreiben?
Vielleicht bringt mich die Lektüre einer kurzen
Erzählung von Günter Kunert weiter.
Der Autor, Jahrgang 1929, widmet sich in seiner
Literatur vorrangig der kurzen Prosa, die keine langschweifigen Ausführungen
zulässt. So konzentriert er auch die Vorgänge in der zugrunde liegenden Erzählung
„Mann über Bord“ auf eine banale Fabel: Ein angetrunkener Matrose verursacht
auf seinem Schiff einen Unfall, indem er, sich nicht mehr in der Senkrechten
halten könnend, ins Wasser fällt. Die folgende Rettungsaktion der Mannschaft
führt jedoch wider Erwarten zum Untergang von Schiff, Kapitän und Mannschaft
aufgrund deren übereifriger unangemessener Aktionen, wogegen der Verursacher
des Unglücks, der Matrose, als Schiffsbrüchiger von Bewohnern einer Insel
aufgenommen und, eingebettet in eine erfundene Geschichte über die Ursache
seines „Erscheinens“, sich hegen und pflegen lässt.
Der betrunkene Matrose fällt ins blaue Meer; Rettungsversuch endet tragisch am Schiff.
Bei aller Trivialität des Geschehens versteht es
Kunert, mit Worten ein Wechselspiel sprachlicher Kontraste und Bilder zu
entwickeln, was das Lesen zum Vergnügen macht.
So beginnt er bereits in der Abfolge von Titel und
Anfang der Erzählung das Leseinteresse zu wecken, wenn er die durch die
Überschrift „Mann über Bord“ ausgelöste Erwartung einer Dramatik mit dem ersten
Satz wieder abschwächt: „Der Wind wehte nicht so stark.“ (Z 1)
Konfrontiert uns der Autor schon im Titel in
elliptischer Verknappung mit dem Geschehen, wobei es offensichtlich nicht um
die Individualität des Menschen an sich zu gehen scheint, da er die
Figurenbezeichnung auf die unpersönliche Zuordnung „Mann“ reduziert, lenkt er
im ersten Satz unser Augenmerk auf die umgebende Situation. Fast antithetisch
provoziert er dort das Bild der Ruhe, wenn er die Assoziationen, die mit dem
Substantiv „Wind“, gepaart mit dem Verb „weht“ und dem Adverb „stark“ , für einen
Moment entstehen, durch das Adverb „nicht“ sofort erstickt. „Der Wind wehte
nicht so stark.“ Dieses Bild der ruhigen Situation steht unvermittelt nach der
Unglücksmeldung: „Mann über Bord“, der Leser erweitert es zur ruhigen See
aufgrund der Titelanmerkung „Bord“. Ohne Erläuterung von Umständen listet
Kunert nun im ersten Abschnitt in sachlicher Darstellung auf, wie das Unglück
ablief. Dazu erweitert er den Kreis der auftretenden Figuren um den „Kapitän“
und „die Mannschaft“. Die Bezeichnung der Figuren bleibt weiter allgemein und
anonym, sodass sich das Lesen immer mehr auf das Geschehen und die Darstellung
der Situation konzentriert. Der anfangs ruhigen Stimmung wird eine dynamischere
Schiffsbewegung gegenübergestellt mit Hilfe der Substantivierung „Schlingern“
(Z 2), der bereits im Titel benannte „Mann“ mit der Dienst -Bezeichnung
„Matrose“ mit der Schiffssituation verknüpft. Zudem charakterisieren ihn
Adverbien und ein Verb: „angetrunken …leichtfertig tänzelnd“ (Z 3f) als ein
verantwortungsloses Besatzungsmitglied eben dieses Schiffes, von dessen Deck er
nachfolgend stürzte. Das Bild der Bewegung bestätigt sich mit dem Verb
„stürzte“ (Z4). Kunerts parataktischer Satzbau lässt die nun im zweiten
Abschnitt folgende Darstellung der Rettungsaktion der Mannschaft routiniert und
schnell erscheinen: „Der Mann am Ruder sah…gab sofort Alarm…Der Kapitän
befahl..“ (Z 5-9) Auffallend ist die wiederholte Charakterisierung des „mäßig
bewegten Wassers“ als Bild einer ruhigen See, das auch in dem „langsam
forttreibenden Matrosen“
(Z 9) eine Bestätigung findet. Die Metaphorik der
Seemannsprache verwendend gestaltet der Autor die Rettungsaktion bildhaft:
„Die Mannschaft legte sich kräftig in die Riemen“ (Z 10) Es entsteht dadurch
auch ein Bild der Kraft und Stärke gemeinsamer Aktion. Unvermittelt erscheint dagegen
das Bild der Panik des „um Hilfe rufenden (Z 12), der sich an den ausgeworfenen
Rettungsring „klammerte“ (Z 14) im Kontrast zur Wiederholung der ruhigen See (Z
1 / 9) und der geringen Entfernung zwischen Matrose und Schiff (vgl. Z 11). Der
auktoriale Erzähler, der sich bisher nur auf die Darstellung des Geschehens
konzentrierte, scheint hier sich einzubringen und in einer ersten Wertung das
Verhalten des Matrosen indirekt zu kritisieren, indem er Situation und
unangemessenes Verhalten gegenüberstellt. Dieser Gedanke des unangemessenen
Verhaltens wird nun vom Autor weiter geführt, wenn er „im näher schaukelnden
Boot“ sich „einen“ aufrichten lässt, um den Matrosen herauszuretten. Jedoch verliert
der Mensch als Akteur immer mehr an Bedeutung, da der Autor den Retter als
„einen“ bezeichnet und den Matrosen zu einem „im Wasser Treibenden“ (Z 16) verdinglicht.
Das Geschehen wird nun dramatisiert, indem Kunert auch
den zweiten Matrosen „in die Fluten“ (Z19) fallen lässt, wobei die Situation
von der ruhigen See zu den genannten „Fluten“ erneut unvermittelt umbrach und eine
„ungeahnte hohe Woge das Boot seitlich unterlief und umwarf.“ (Z 21) Somit
wechselt der Leser erneut von Geschehen um den Matrosen zum Geschehen des
Schiffes, das in den weiteren Ausführungen mit mehreren sprachlichen Feinheiten
in den Mittelpunkt der Erzählung rückt, wogegen der Autor in den Darstellung
des Verhaltens der Matrosen sachlich bleibt. bzw. sogar ins Sarkastische
abgleitet: Verharrt der Leser anfangs noch bei der Rettungsaktion der
„Schwimmenden und Schreienden“ durch die Alliteration und der Lautgruppe „SCH“
(Z 22), verlagert sich seine Aufmerksamkeit im folgenden auf die
personifizierende Darstellung des Geschehens um das Schiff, das, „sterbensmüde“,
tödlich verwundet durch den „aufgerissenen“ (Z 26f) stählernen Körper, nun auch
noch von einem Stoß „erschüttert“ (Z 25) wurde. Mit hypotaktischem Satzbau
erfahren wir die genauen Zusammenhänge des Schiffsunterganges. Die Häufung der
sinntragenden Adverbien (vgl. Z 25f) steigert das Bild des sterbenden Schiffes,
das dem „zackigen Korallenriff“ (Z 28) mit seiner zackigen Gestalt gegenüber steht.
Die lakonische Bemerkung: „Der Kapitän versackte wie üblich mit dem tödlich
verwundeten Schiff.“ (Z 29ff) nimmt die im vorderen Teil durchscheinende,
sarkastisch anmutende Abwertung des menschlichen Verhaltens auf, verdinglicht den
Kapitän mit der Verbwahl: „versackte“ sowie der Ergänzung: „wie üblich“(Z 30).
Der Mensch bleibt Objekt der Aktionen. Handlungsträger werden nun die
Haifische, denen die restlichen Mitglieder der Besatzung ausgesetzt sind. Der
Mensch ist in seinem Schicksal der Natur unterworfen: „Haie näherten sich und
verschlangen, wen sie erwischten.“ (Z 32f) Die Umgangssprache („…wen sie erwischten.“
) nimmt dem Dargestellten die Brutalität und Brisanz. Fast grotesk wirkt dann
der Nachsatz: „Wenige der Seeleute gelangten in die Rettungsboote, um ein paar
Tage später auf der unübersehbaren Menge salziger Flüssigkeit zu verdursten“ (Z34ff)
Die Konjunktionalsatz „..,um zu“ deutet eigentlich auf eine bewusste
Zweckhandlung hin, wird aber durch seinen inhaltlichen Kontext in der Erzählung
ins Gegenteil gekehrt, sodass das Verdursten der Seeleute trotz der
“unübersehbaren Menge …Flüssigkeit“ mit dem Adjektiv „salzig“ (ebd.) neben der
tragischen auch eine groteske Note erhält.
Auch der Matrose bleibt Objekt der Umstände: In
Passivkonstruktionen erfahren wir vom Autor dessen Rettung durch das Meer auf
eine Insel und die Aufnahme durch deren Inselbewohner. Jedoch wird der Blick
des Lesers jetzt wieder auf den Matrosen fokussiert, da mit der Alliteration:
„gefunden, gepflegt und gefeiert…“ (Z47f) erneut der Matrose Mittelpunkt des
Geschehens wird. Somit erhält die Erzählung eine Rahmung: Titel und Ausgangssituation
auf dem Schiff bringen den Matrosen ins Zentrum der Erzählung und vermitteln im
Zusammenhang mit der Darstellung der Handlung und Situationscharakterisierung
ein fragwürdiges Bild von eben diesem Matrosen. Eben diese Fragwürdigkeit keimt
auch in den Schilderungen um seine Rettung wieder auf: Der Autor lässt es zu,
dass der Matrose, der den Tod seiner Mannschaft verschuldet hat, in eine
Auseinandersetzung geraten kann mit dem Passierten, mit seinem Verhalten und
mit neuen Menschen auf einer einsamen Insel. Als Weg dieser Auseinandersetzung
bietet der Autor jedoch die Flucht des Protagonisten in eine Lügengeschichte
an, indem er in komplizierten Parataxen die „Katastrophe als Folge einer
Kesselexplosion schilderte“. (Z45) Die sachlich nüchterne Darstellungsart des
Schilderns steht jetzt im Gegensatz zur Dramatik des vermeintlichen Geschehens
und lässt den aus der „Höhe (Z)usehen(den)“ (Z48) unglaubwürdig erscheinen,
zumal die umgangssprachliche Redensart. „wie die Trümmer mit Mann und Maus
versanken“ (Z 48f) das vermeintlich Beobachtete banalisieren. Diese mögliche
Wertung durch den Leser findet jedoch in der weitern Erzählung keine
Entsprechung.
Mit der Wiederholung: „der einzig Überlebende“ (Z 43 /
51) fixiert der Autor den Lesenden auf den Matrosen und gestaltet nun diesen
Weg der Auseinadersetzung mit seiner Vergangenheit einseitig: „Von dieser Geschichte
konnte der einzig Überlebende trefflich leben;“ (Z 50f) Die bewusst handelnden
Menschen treten zurück. „Mitleid und das Hochgefühl, einen seines Schicksals zu
erkennen, ernährten ihn.“ (Z 52f) Die Zeilen konzentrieren sich auf die
Darstellung der Umstände, die den Matrosen mit Verwendung in der
Passivkonstruktion „trefflich leben“ ließen und ihn „ernährten“ (ebd.)
Der Autor steigert dieses passive Verhalten der
Menschen, den Umständen ausgeliefert zu sein, im Schlussteil der Erzählung noch
einmal, indem er einerseits die Beobachtungen der Inselbewohner im Konjunktiv:
„Nun schien es den Leuten…“ (Z 54) und andererseits den Protagonisten vor einer
direkten Auseinandersetzung mit der Wahrheit entfliehen lässt: „Wenn ein
Fremder auftauchte, verschwand…“ (Z 56), wobei die Adverbialaufzählung:
„erblassend und zitternd und erfüllt von einer Furcht“ (ebd.) nur Vermutungen
über innere Zustände und Zweifel des Matrosen zulassen, zumal die Ergänzung:
„…die keiner deuten konnte: ein stetes Geheimnis“ (Z 60) Ausdruck keiner
direkten Kommunikation zwischen den Bewohnern der Insel und dem Matrosen ist. Daraus
folgend erscheint Kunerts Schlussgedanke: „…ein stetes Geheimnis und daher ein
steter Gesprächsstoff für die langen Stunden der Siesta.“ (Z 59ff) den Umgang
der Menschen miteinander aus einer anderen Sicht noch einmal aufzugreifen:
Einige Menschen auf einer Insel werden in ihrer Kommunikation mit neuen Menschen
zurückhaltend dargestellt, verharren lieber in Spekulationen über beobachtete
Detailerscheinungen bzw. erzählte Oberflächlichkeiten verharrend, statt ihren
Lebenssinn in sinnvolleren Aktionen zu suchen. Andererseits lässt der Autor es
zu, dass sich der Matrose seine Privatsphäre bewahrt, wenngleich seine
Vergangenheit eine schwere Bürde darstellt. Dieses offene Ende greift die Frage
nach dem Sinn von Literatur erneut auf und entlässt mich ohne eine eindeutige
Antwort.
Für mich bleibt Kunerts vielschichtige Darstellung des
Menschen, der in seinen Handlungen durch verschiedene Umstände gesteuert wird.
Einerseits durch Beeinflussung seiner biologischer Eigenkontrolle (Alkohol),
dann durch die erworbenen Fähigkeiten, in bestimmten Situationen maschinenartig
gesteuert zu funktionieren, ohne die konkrete Situation abzuschätzen.
Andererseits das passive Ausgesetztsein höheren Gewalten (Drift trug an den
Strand), aber auch das sich zum Objekt anderer ergebende Verhalten, um den
Genuss derer Gunst und Zuwendung zu erheischen und letztendlich die bewusste
Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben , das durch den
konkreten Inhalt der Erzählung eine dramatische Sonderform erhält.