Lars Gustafssons Roman „En biodlares död“
- Einleitung
Lars Gustafssons Roman „En biodlares död“
erzählt die Geschichte des krebskranken Volksschullehrers Lars Lennart Westin.
Dieser verbringt seine letzten Tage in einer einsamen Hütte im schwedischen
Västmanland, der Heimat des Autors.
Gepeinigt
und gequält von zeitweise starken Schmerzen, beginnt Westin auf sein bisheriges
Leben zurückzuschauen und es zu analysieren. Immer weiter entfernt er sich
dabei von seiner eigentlichen Vergangenheit, denn Schmerz und Hoffnung sind von
nun an seine ständigen Wegbegleiter. Schmerzempfinden und die Beschreibung
seiner körperlichen Schmerzen sind das zentrale Thema des Romans, an dessen
Ende unweigerlich der Tod wartet. Westin beschreibt die Veränderungen, die in
seinem Körper vorgehen so eindringlich, dass die Verbindung, die zwischen
Körper und Geist besteht, deutlich hervortritt.
Gustafsson
widmet sich somit in diesem Werk einem Thema, dass in der Literatur bis zu
diesem Zeitpunkt eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Zwar sind
Liebesschmerzen, Sehnsuchtsqualen und der körperliche Schmerz als Mittel der
Bestrafung häufig verwendete Motive, doch ist der körperliche Schmerz an sich
ein in der Literatur selten dargestelltes Thema. Und obwohl Gustafsson als
Literat sowohl in Skandinavien, Deutschland und den USA vielbesprochen ist, so
behandelten dennoch nur wenige Rezensionen die Schmerzdarstellung in seinem
Roman „En biodlares död“ umfassend.
Auch
wenn dieser Roman sicher zu einer Vielzahl verschiedener Analysen einlädt und
der Leser geradezu gestoßen wird, seinen eigenen Weg zu gehen, oder wie Lars
Grahn meint: „Det är precis som om man i hans böcker inbjuds till att precis
här och nu uppfinna både tänkandet och talandet på nytt.“ – so liegt der
Schwerpunkt dieser Arbeit dennoch auf der Bedeutung und der Darstellung der
Schmerzen im vorliegenden Roman. Analysiert werden in einem ersten Schritt die
formale Darstellung sowie die Probleme und Grenzen der Schmerzdarstellung. Im
weiteren geht es um die Bedeutung der Schmerzen im physiologischen Sinn und um
die Auswirkungen dieser auf Westins Psyche. Es wird auf die Frage eingegangen,
was die Schmerzen für Lars selbst bedeuten und wie er im Verlauf der Erzählung
damit umgeht.
Vorrangig
ist es somit das Schmerzmotiv, welches näher beleuchtet werden soll. Dennoch sollen
auch andere formale Besonderheiten und kritische Ansätze des Romans ebenso mit
einfließen.
- En biodlares
död – Einordnung in das Gesamtwerk Gustafsson
Der
Roman „En biodlares död“ bildet das abschließende Werk in Gustafsson Pentalogie
„Sprickorna i muren“. 1978 erscheint das Buch und wird genau wie auch die vier
vorhergehenden Romane von dem Leitsatz „Vi börjar om igen. Vi ger oss inte.“
geprägt. Dennoch stellt der Roman laut Ulrike Christine
Sander eher eine Ausnahme innerhalb dieses Romanzyklus dar, denn anders als in
den vorausgegangenen Werken, seien hier die biographischen Parallelen nicht so
stark ausgeprägt. Dies werde auch darin deutlich, dass sich das primäre
Verfasser-Ich bereits auf den ersten Seiten des Buches von seinem Leser
verabschiedet und sich auf diese Weise deutlich von seiner fiktiven Romanfigur
abgrenzt, um so die größtmögliche Distanz zwischen sich selbst und der
Hauptfigur Lars Lennart Westin zu schaffen.
Trotz
dieses Bruches innerhalb dieser Romanfolge sind auch in diesem Werk Gustafssons
eine Reihe biographischer Züge wiederzuentdecken. So heißt auch hier die
Hauptfigur Lars und ist ebenso wie ihr Schöpfer am 17. Mai 1936 in Västmanland,
Schweden geboren.
Doch
in diesem Buch herrscht, wie Lothar Baier es ausdrückt, „strengste
Erzähldisziplin“, denn bereits im Prolog „...zieht Gustafsson zwischen sich und
der Figur Lars Lennart Westin einen dicken Trennungsstrich. Er will nur als
Herausgeber der Aufzeichnungen auftreten, die Westin hinterlassen hat.“
Gerade
diese „Herausgeberfiktion“,
wie Sander es nennt, ist der große Unterschied gegenüber den vorhergehenden
Romanen. Gustafsson versucht hier anhand fiktiver Notizbuchaufzeichnungen, die
genau benannt, datiert und teilweise auch charakterisiert sind, sich als Autor
vollkommen zurücktreten zu lassen, um von nun an die Regie in die Hand seiner
Romanfigur Lars Lennart Westin zu legen: „Den röst ni kommer att få höra från
och med nu är hans, inte min, och därför tar jag avsked av er här.“
Der
Autor verabschiedet sich also bereits an dieser Stelle von seinem Leser, will
sich von dem weiteren Verlauf der Erzählung abgrenzen und den Leser sich selbst
überlassen. Und dies gelingt Gustafsson insofern, als dass er in der Rolle des
Autors und Verfassers während der gesamten Handlung tatsächlich nicht wieder
auftaucht und den Leser somit immer mehr in diese Herausgeberfiktion
hineingleiten lässt, so dass er zeitweise vergisst, dass der eigentliche Autor
trotz allem noch Gustafsson selbst ist.
- Darstellung
der Schmerzen
3.1. formale Darstellung der Schmerzen
Am häufigsten bedient sich Gustafsson bei der Darstellung
der Schmerzen ganz einfach dem Mittel der Beschreibung. Zum ersten mal konkret
taucht der Schmerz auf, als Lars Lennart Westin mit seinen Kindern, die ihn in
den Sommerferien besuchen, Badminton spielt. Zunächst glaubt er, dass es sich
um einen Hexenschuss handelt, doch die Schmerzen sind so intensiv, dass er im
sich im gleichen Augenblick fragt: „Men finns det ryggskott som gör så djävla
ont att man får blodsmak i munnen?“
An dieser Stelle charakterisiert er die Schmerzen bereits
in einer sehr heftigen Art und Weise und mit einem durchaus sehr starken Wort
wie „djävla“, dass in der Umgangssprache häufig im Zusammenhang mit Flüchen und
Schimpfwörtern gebraucht wird.
Etwas später beschreibt er seinen Schmerz als taub und an
einigen Tagen auch brennend oder pulsierend. Detailgenau geht er darauf ein, an
welcher Stelle des Körpers er einsetzt und wie er sich fortsetzt.
Besonders kennzeichnend ist auch die gleich zu Beginn
beschriebene Episode, als Westin beschreibt, wie sein eigener Hund ihn nicht
erkennt. Der Leser ahnt bereits an dieser Stelle, dass das Verhalten des Hundes
in einem Zusammenhang mit der Krankheit Westins stehen könnte, doch der
Bienenzüchter selbst spekuliert in eine ganz andere Richtung. Er glaubt, der
Hund sei ganz einfach zu alt geworden und könne ihn aufgrund des schlechter
werdenden Geruchssinns nicht mehr erkennen. Dennoch hat man als Leser das
Gefühl, dass Westin sich an dieser Stelle selbst gegenüber nicht ganz ehrlich
ist und ganz tief in seinem Innersten auch hier schon davon überzeugt ist, dass
das Verhalten des Tieres doch etwas mit seiner Erkrankung zu tun hat. Denn
schließlich gibt er zuletzt eine Erklärung, die ihm zwar vollkommen
wiedersinnig vorkommt, die er aber trotz dessen erwähnt: „Det finns
naturligtvis en förklaring till men den är så stollig att jag inte kann tro på
den. Att jag helt plötsligt börjar lukta annorlunda, på något jädrans subtilt
sätt som bara hunden kan känna.“
Er scheint also dennoch zu glauben, dass der Hund auf irgendeine Art und Weise
spürt, dass es mit der Gesundheit seines Herrn nicht zum besten steht. Auch
hier verwendet er wieder ein Wort wie „jädrans“, dass sich sprachlich auf einer
anderen Ebene befindet, als die Worte, die er sonst verwendet und ganz sicher
in eine Kategorie fällt, die sonst nicht zu seinem Umgangston gehört.
Fast ebenso oft wie die Beschreibung taucht in Zusammenhang
mit dem Schmerz der Vergleich auf. Seine tiefe Verbundenheit mit der Natur und
die Verwurzelung in seiner Heimat lassen Westin die Schmerzen mit einer
Landschaft vergleichen: „Smärtan är som ett landskap.“ Man könnte nahezu von
einer Synästhesie sprechen als er beschreibt, wie er auf seinen Spaziergängen
bemerkt, wie die Landschaft um ihn herum eine seltsame Farbe durch diesen
Schmerz bekommen hat und wie bestimmte Bäume, die er passiert, besonders
wehtun.
Etwas später vergleicht er seine Schmerzen mit Metall, wie
zum Beispiel Gold: „Sedan fortsätter den upp mot naveln ut mot höften, mot benets
baksida, det ligger en solfjäder av dova ekon av det där lysande guldet upp mot
mellangärdet.“
Er empfindet den Schmerz als etwas Fremdes in seinem Körper, etwas, was genau
wie Metall in einem funktionierenden Köper nichts zu suchen hat.
Worte wie „ton“, „frekvenser“, „svängningstal“, „ackord“ lassen den Schmerz als
etwas technisches, unnatürliches erscheinen, so dass dem Leser bewusst wird,
wie automatisiert das Schmerzempfinden an dieser Stelle der Krankheit bereits
ist und wie sehr er sich bemühen muss, dem Leser verständlich zu machen, wie
heftig er doch diesen Schmerz empfindet.
An anderer Stelle verwendet er dazu das Bild des
Wasserfalls. Nach einer sehr intensiven Schmerzattacke „strömt“ der Schmerz
jetzt nur noch dahin: „Det är som om den hade passerat något slags förfärligt
vattenfall och nu är vi i bakvattnet, i de svarta långsamma virvlarna på andra
sidan igen.“
Hier gelingt es Gustafsson förmlich dem Leser ein Aufatmen, fast eine
Erleichterung zu entlocken, denn mit Hilfe dieses Vergleichs veranschaulicht
er, wie stark doch der Schmerz gewesen sein muss, wenn er jetzt, nur noch
dahindümpelnd, Westin eine solche Befreiung beschafft.
Am kraftvollsten, beeindruckendsten – vielleicht aber auch
am hoffnungslosesten wirkt die Liste, in der Lars die Kunstarten nach deren
Schwierigkeitsgraden sortiert. Angefangen von Erotik über Musik, Lyrik,
Dramatik und vieles mehr, ordnet er insgesamt 28 verschiedene Künste in diese
Aufzählung ein. Eine Art der Kunst jedoch kann er nicht einordnen: „Konsten att
utstå smärta.“
Auf der einen Seite ist er sich absolut sicher, dass es eine Kunst ist, Schmerz
zu ertragen, andererseits ist diese Kunst so unendlich schwierig, dass ganz
einfach niemand in der Lage ist, das Ertragen von Schmerzen in eine Kunst zu
verwandeln bzw. eine Kunst mit einem so hohen Schwierigkeitsgrad überhaupt
ausüben zu können.
Es gelingt Gustafsson mit einer Vielzahl von Bildern,
Vergleichen und Beschreibungen den Schmerz für den Leser in einer Form
darzustellen, dass es eindringlicher fast nicht mehr geht. Er vermeidet dabei
jedoch, dass auf irgendeine Art und Weise Mitleid entsteht. Ebenso wenig
handelt es sich um das Jammern und Winseln eines alten Mannes, der am Ende
seines Lebens mit Schmerzen kämpft – es ist schlichtweg eine einfache, nüchterne
und ganz besonders anschauliche Art, dem Leser den Schmerz deutlich zu machen:
„Die Beschreibung der zunehmenden und nachlassenden Schmerzen ist überzeugend
und zeigt noch, wo sie sich bis ins Unerträgliche steigern, einen Willen zu
Proportion und Analyse.“
3.2. Probleme der Schmerzdarstellung
Gustafsson versucht, wie im
vorhergehenden Kapitel verdeutlich, den Schmerz mit Hilfe von Beschreibungen,
Metaphern und Vergleichen darzustellen. Dennoch stoßen sowohl Autor als auch
Leser unweigerlich auf das Sprachproblem, denn Sprache kann trotz allem den
Schmerz nicht darstellen. Schließlich fühlen wir keinen körperlichen Schmerz
beim Lesen des Buches.
Da Worte nicht in der Lage sind, angemessen zu
verdeutlichen, was ein Mensch empfindet, wenn er Schmerzen hat, ist unmöglich
sie umfassend zu beschreiben, einordnen zu können oder gar mit denen eines
anderen Menschen vergleichen zu können: „och där detta ´ha ont´ kan betyda vad
som helst på en skala mellan milt obehag och brännande smärtor.“
Zwar gibt es Worte, um den Schmerz zu beschreiben, dennoch
kann man sich nie vollkommen sicher sein, dass die mit Worten gesendete
Botschaft beim Empfänger 1:1 ankommt. Weiterhin fragt sich Lars Lennart Westin
sogar: „Kanske är det för att två människor kan se samma färg, men två
människor omöjligt kan känna samma smärta?“
Besonders deutlich tritt das Sprachproblem in der kleinen, in der Erzählung
integrierten Geschichte „En värld där sanning härskar“ hervor. Gustafsson
beschreibt hier eine Zivilisation, weit weg auf einem Planeten im Universum,
die sich direkt mit der Wirklichkeit befasst ohne symbolische
Zwischenschaltungen. D.h. es gibt dort keine Sprache in unserem Verständnis und
die Kommunikation läuft eine vollkommen andere Art und Weise ab: „På denna
planet har uttrycket ´en kraftfull retorik´ verkligen en innebörd. Vill man t.
ex. säga ´en solvarm sten´ finns det bara ett sätt. Det är att lägga en solvarm
sten i handen, eller rättare sagt, i klon på den person man talar med.“
Die Vorstellung, dass man das, was man seinen Mitmenschen
mitteilen möchte, ausführen muss, um es ihnen zu verdeutlichen, ist
beeindruckend. Auch Gustafsson führt die Idee weiter aus und stellt fest, dass
Lügen somit in dieser Welt eine vollkommene Unmöglichkeit sind. Auch der
Begriff Planet ist dann natürlich undenkbar und ein lyrisches Gedicht zu
verfassen wird nahezu eine Unmöglichkeit. Kurz charakterisiert Gustafsson
diese Idee als: „...en värld där symbolen hela tiden sammanfaller med
tinget...“
In einer solchen Welt wie der Autor sie hier beschreibt,
gäbe es wohl keine Probleme bei der Darstellung der Schmerzen, es gäbe keine
Missverständnisse und jedem wäre vollkommen klar, wie dieser Schmerz, dem
Westin ausgesetzt ist sich anfühlt. Ganz deutlich ist an diesem Beispiel
spürbar, dass der Mensch sich mit Hilfe seiner Sprache nicht so intensiv
mitteilen kann und immer etwas im verborgenen bleibt. Die Grenzen der Sprache
werden hier ganz besonders deutlich.
Ganz im Gegensatz dazu scheint Gustafssons früheres Werk
„Die Maschinen“ zu stehen, denn hier kommt er zu der Auffassung, „[...]daß
die Sprache etwas vollkommen Durchsichtiges ist, das unsere Gedanken ohne Rest
ausschöpft.“
Und obwohl dies in absolutem Widerspruch mit der zuvor beschriebenen Geschichte
„En värld där sanning härskar“ steht, kommt Gustafsson laut Lothar Baier am
Ende dennoch zu der Einsicht, dass die Sprache als Apparat zwar durchsichtig
und erklärbar sein mag, ihre Bedeutung aber ein Geheimnis bleibt.
Es ist das gleiche Problem, dass Lars Gustafsson auch in
„En biodlares död“ beschäftigt. Sprache kann nur in begrenztem Maße
wiedergeben, was der Autor eigentlich ausdrücken möchte und auch wenn man
vielleicht der Meinung ist, etwas unmissverständlich ausgedrückt zu haben, so
kann man dennoch nicht sicher sein, dass Signifikant und Signifikat
übereinstimmen, denn die Zuordnung von Signifikant und Signifikat ist lediglich
eine psychische Operation des jeweiligen Empfängers der Botschaft. Und diese
Zuordnung funktioniert nur über Regeln, über die in der Gesellschaft eine
Übereinkunft herrscht.
- Bedeutung der
Schmerzen
4.1. physiologische Bedeutung von Schmerz
Schmerz ist eine Empfindung des
Körpers, die mehr oder weniger heftig und quälend erlebt wird. Sie soll den
eigenen Körper bei Schädigungen des Organismus warnen. Dennoch scheint diese
Alarmfunktion unvollkommen zu sein, da gerade lebensbedrohliche
Organveränderungen wie zum Beispiel Krebs erst in fortgeschrittenem Zustand
Schmerz verursachen.
In früheren Zeiten wurde „ ... der
Körper lange Zeit als natürlich, biologisch konstant und mithin geschichtslos
[...]“
betrachtet, doch allein die Tatsache, dass man mit einer Reihe typischer
Adjektive versucht, Schmerzen zu charakterisieren und zu beschreiben, beweist,
dass der im Gegenteil ein sehr instabiles System sein kann. Im allgemeinen
unterscheidet man dann zum Beispiel brennende, stechende, krampfende, ziehende
oder drückende Schmerzen.
Schmerz ist jedoch nicht nur als
Schutzmechanismus des Körpers anzusehen, sondern durch ihn wird auch die
Verbindung zur Umwelt aufrechterhalten. Im übertragenden Sinne gilt dies auch
für Lars Lennart Westin. Er selbst verachtet zu Beginn die älteren Menschen und
Patienten im Wartesaal des Krankenhauses, weil sie erst durch ihre Krankheit
eine Identität erhalten: „Deras sjukdom ger dem en identitet.“ Er versteht nicht,
warum diese Menschen nicht protestieren und sich widersetzen, gegen ihre
Schmerzen und gegen das System, gegen die „Abfertigung“ im Krankenhaus.
Aufgrund seiner Schmerzen beschäftigt
sich Westin mit gerade diesem gesellschaftlichen Problem und hält auf diese Art
und Weise die Verbindung zur Gesellschaft aufrecht. Obwohl er sich dies selbst
nicht eingesteht und abgeschieden und zurückgezogen in seinem Haus in der
Provinz lebt, zwingt ihn dieser ständige Schmerz das ganze Buch hinweg, sich
mit seinem Leben, seiner Zukunft – sei sie auch noch so kurz, und mit sich
selbst und seiner Rolle in der Gesellschaft auseinander zusetzen. Er beginnt,
sein Leben von Kindheit an zu analysieren und wird immer tiefer in diesen Sog
hineingezogen. Sein eigener Schmerz überlistet ihn sozusagen und zwingt ihn,
sich auch mit der Umwelt in welcher er lebt zu beschäftigen.
4.2. psychische Auswirkungen des Schmerzes auf Lars Lennart Westin
Wie auch die Hauptfigur des Buches so
gelangt ebenso der Kritiker Per Qvale zu der Einsicht, dass das Schmerzerlebnis
selbst die Voraussetzung dafür ist, dass wir das Nichtvorhandensein oder das
Frei sein von Schmerz als das Paradies empfinden.
Lars Westin selbst stellt sich nach
seinem intensiven Schmerzempfinden das Paradies als eine „schmerzfreie“ Zone
vor, wobei bei ihm nicht bloß das Nichtvorhandensein von Schmerz dieses
Paradies charakterisiert, sondern vielmehr das Erlebnis des nachlassenden
Schmerzes für ihn zum absoluten Glückserlebnis wird. Aufgrund seiner Krankheit
erkennt Westin, dass diese intensiven Schmerzen für ihn zur Voraussetzung
wurden, sein „ursprüngliches“ Paradies wiederherzustellen. Deshalb ist der
Schmerz für ihn eine Form der Wahrheit.
Er löste in gewissem Sinn eine Entwicklung bei Westin aus, der er sich nicht
entziehen kann. Er beginnt nachzudenken, zu grübeln, versetzt sich immer weiter
in seine eigene Vergangenheit und gelangt schliesslich über seine Ehe bis zur
Kindheit, die er besonders intensiv erinnert.
Es scheint somit zuerst, als habe der
Schmerz eine Reihe sehr positiver Auswirkungen auf die Hauptfigur, doch indem
Westin erkennt, dass das Frei sein von Schmerzen ein so befreiendes Gefühl ist,
lebt er in der ständigen Angst, sie könnten wiederkehren. Er fürchtet, bangt
und ahnt. Er hofft darauf, dass die Schmerzen verschwunden bleiben und
beobachtet seinen eigenen Körper genau. Diese ständige Furcht jedoch vor der
Wiederkehr der Schmerzen wird zur Belastung, so dass tagtäglich für ihn nur
noch die Frage zählt, wann der Schmerz wieder einsetzen wird.
Dennoch bleiben die aus den Schmerzen
resultierenden positiven Auswirkungen vordergründig, da Westin sich ausführlich
mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, sie analysiert, um die
eigenen Handlungen zu verstehen und nachvollziehen zu können. „An seiner
Krankheit [Westins] reflektiert Gustafsson mit Gleichmut die Wiedergewinnung
einer verlorengegangenen Ursprünglichkeit der Empfindung und Wahrnehmung.“ schreibt Klaus Reitz.
Dem ist zuzustimmen, denn tatsächlich
handelt ein beträchtlicher Teil des Buches von Westins Wiederentdeckung der
eigenen Kindheit und Jugend. Er scheint sich teilweise regelrecht in seinen
Erinnerungen zu verlieren, um dann schlagartig zur Wirklichkeit zurückzukehren
und sich mit seiner Krankheit auseinanderzusetzen und ihr zu begegnen. Er
beschäftigt sich mit dem, was in seinem Körper vorgeht und obwohl er den Brief
des Krankenhauses, der die Diagnose enthielt, verbrannt hat und somit nicht
sicher weiß, woran er leidet, geht er zunehmend davon aus, dass es sich um Krebs
handelt. Er zitiert einen Lexikonartikel über Tumore ohne jeglichen, weiteren
Kommentar. Eine medizinische Abhandlung über Zellen, Zellgruppen und die
Entstehung von Tumoren.
Dennoch stellt die Tatsache, dass er
den Brief nicht geöffnet hat eine Art Widerstand, ein sich Widersetzen gegen
die Krankheit dar. Mit dieser Handlung hält er anfangs die Hoffnung aufrecht,
es könne sich um eine harmlose Sache wie Nierensteine o.ä. handeln. Doch im
Verlauf der Handlung und mit dem Zunehmen der Schmerzen schwindet diese
Überzeugung.
Schließlich leidet er unter der Angst
vor der Wiederkehr der Schmerzen fast genauso, wie von den eigentlichen,
tatsächlichen Schmerzen: „Nu lider jag precis lika mycket av rädslan för
smärtan.“
Er beobachtet sich selbst, seinen Körper. Täglich wartet er darauf, das die
Schmerzen abermals einsetzen könnten und diesmal noch schlimmer sein könnten.
Er beginnt zu philosophieren, so dass der Leser sich teilweise dazu verleitet
fühlen könnte zu glauben, dass Westin im Wahn der Schmerzen redet. Rikard
Schönström sieht den Grund für diese Fantasiereisen der Hauptfigur
folgendermaßen: „Gustafsson tycks alltså i sista hand [...] vilja visa på det
faktum att verkligheten trotsar varje beskrivning eller gestaltning.
Snarare än att förmedla en viss bild av verkligheten vill Gustafsson tydligen
göra läsaren medveten om att verkligheten alltid är en annan än man tror.“ Dies beweist auch die
Passage in der Gustafsson Westin einen Ausflug nach Stockholm beschreiben
lässt. Auf einem Spaziergang durch die Straßen der Hauptstadt reflektiert
Westin seine Kindheit in Stockholm. Bereits hier beginnt der Leser
nachzudenken, denn an diesem Punkt hat er bereits erfahren, dass Westin
eigentlich in Västmanland aufgewachsen ist. Die Beschreibung der Erlebnisse und
Ereignisse lässt einen jedoch keinen Augenblick daran zweifeln, dass es sich
hier um die Beschreibung der Realität handelt. Bis zu dem Punkt an dem Westin
schlagartig der Erkenntnis trifft: „MEN HERREGUD JAG HAR ALDRIG HAFT NÅGON
BARNDOM I STOCKHOLM.“
Damit hat Gustafsson seinen Lesern
deutlich vor Augen geführt, dass die Wirklichkeit tatsächlich immer eine andere
ist, als man glaubt.
Ebenso beginnt Westin, dass Wort „Ich“
zu hinterfragen. Er ist auf der Suche nach seiner eigenen Identität und begibt
sich auf diesem Selbstfindungsprozess immer wieder in die eigene Vergangenheit.
Todesahnung und Hoffnung konkurrieren in seinem Inneren miteinander und der
Schmerz lässt ihn sich selbst als Körper erfahren – er wird sich dessen
bewusst, einen Körper zu besitzen.
Sander ist jedoch der Auffassung, dass
Gustafsson in diesem Roman die Suche nach der Identität aufgibt, um sich ganz
dem Mysterium auszuliefern. Immer wieder beschreibt der Autor das menschliche
Bewusstsein mit Hilfe eines Bienenschwarms: „Das alles sind bestenfalls
Umschreibungen des Problems, Versuche, `sich das Unbekannte mit Hilfe des
Bekannten` zurechtzulegen, Erklärungen von `Rätseln mit Rätseln`, ohne jede
Aussicht, zum Kern des Mysteriums der Persönlichkeit vorzustoßen: [...] `Nur
als Rätsel wird der Mensch groß und deutlich`.“
Dennoch kann man es vielleicht nicht
ganz als Aufgabe der Suche betrachten, denn trotz der zahlreichen Metaphern und
der Symbolik des Bienenschwarms, ist Westin dennoch auf der Suche. Wonach er
sucht, bleibt zwar eher offen, doch kann man davon ausgehen, dass ein Mensch,
der sich so intensiv mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt, doch auch in
gewisser Weise einen Selbstfindungsprozess durchläuft.
4.3. Bedeutung der Schmerzen für Westin
Gustafsson selbst beschreibt seine Romanfolge
„Sprickorna i muren“ als „Ein Versuch, eine individuelle Freiheit und eine
individuelle Perspektive aufrechtzuerhalten und zu formulieren ...“. Genau das ist es
auch, was Lars Lennart Westin mit seinem Schmerz tut. Er versucht, den
Schmerzen einen Sinn zu geben und sieht sie als eine Möglichkeit, sich als
„ich“ zu empfinden. Durch diesen Schmerz kann er frei sein. Er hat die Wahl
dagegen zu kämpfen und sich die Hoffnung zu bewahren oder aber einfach
aufzugeben. Westin kämpft – er kämpft jedoch nicht, um die Krankheit zu
besiegen, sondern er kämpft gegen sein eigenes Bewusstsein und für seine
Unabhängigkeit. Er widersetzt sich den Zwängen der Gesellschaft und ist lange
Zeit nicht bereit, in ein Krankenhaus zu gehen. Der Schmerz setzt bei ihm Prozesse
innerhalb seines Bewusstseins in Gang, er setzt sich mit diesem Schmerz
auseinander und versucht gleichzeitig ihn in sein Leben zu integrieren. Dennoch
versucht er, sich nicht von der Krankheit beherrschen zu lassen und die eigene
Freiheit zu bewahren. Als seine Verwandten ihn besuchen, versteckt er seinen
Schmerz und will sich nicht verraten. Denn Schmerz ist ein gesellschaftliches
Tabuthema. Er wird verdrängt und nicht gezeigt. Kranke Menschen werden in
Krankenhäusern untergebracht und verschwinden häufig aus Blick der
Gesellschaft. Westin möchte seinen eigenen Weg gehen und verachtet diese
gesamte Maschinerie.
In Anlehnung an Descartes „Ich denke,
also bin ich.“ gelangt Gustafsson selbst zu der Erkenntnis: „Im Zusammenhang
unseres Märchenkreises muss das Paradies vor allem ein Gebiet sein, in dem Wahrheit
herrscht, und die einzige Wahrheit, die man mit Gewissheit über das
menschliche Leben aussagen kann, ist natürlich der Schmerz. Ich fühle Schmerz.
Also bin ich.“
Und obwohl Westin zu Beginn all die Menschen im Wartesaal des Krankenhauses
dafür verachtet hat, dass die Krankheit praktisch das einzige ist, was ihnen
eine Identität gibt, so erlangt der Schmerz auch für ihn eine zentrale
Bedeutung und er findet durch ihn wieder zu sich selbst. Er kehrt in seine
eigene Vergangenheit zurück und analysiert, er setzt sich mit seiner eigenen
Biographie auseinander und beginnt, sich selbst Fragen zu stellen.
Außerdem kann Schmerz und Tod als
natürliche philosophische Fragen bezeichnen, ohne die wir nicht der Philosophie
bedürften.
Für Westin ist der Schmerz der
Ausgangspunkt einer langen Reise in die eigene Vergangenheit. Ohne ihn hätte er
sich vielleicht nie so intensiv mit seinem eigenen Leben auseinandergesetzt –
er hätte vielleicht nicht genügend Zeit dazu gehabt. Der extreme Schmerz ist
unzweifelhaft ein Vorbote für den Tod und so weiß auch Westin, dass sein
eigenes Ende nah ist. Doch in der Gewissheit des baldigen Ende seines Lebens
und die Tatsache, dass er sich dessen bewusst ist, ermöglich ihm die intensive
Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Leben. Ebenso reflektiert Gustafsson
an der Krankheit seiner Hauptfigur die Wiedergewinnung einer verlorenen
Ursprünglichkeit der Empfindung und Wahrnehmung. Westin selbst fühlt
sich durch seinen Schmerz an die Zeit kurz vor der eigenen Pubertät erinnert:
„Det här ständiga sysslandet med en oklar och farlig hemlighet i den egna
kroppen, den där känslan av att det pågår något slags dramatisk förändring utan
att man kann bli klar på vad det egentligen är, alltsammans påminner mig på ett
perverst sätt om förpuberteten.“
Er entdeckt seinen eigenen Körper wieder und weiß anfangs nicht damit
umzugehen. Ähnlich wie in der Pubertät versucht er herauszufinden, was mit ihm
passiert und was in seinem Körper vorgeht. Gleichzeitig versetzt er sich in
diese Zeit zurück und durchlebt Teile seiner Kindheit nochmals.
Er macht abermals einen
Selbstfindungsprozess durch – ist auf der Suche nach der eigenen
Individualität, nach dem eigenen Ich. Durch seinen Schmerz ahnt er den nahen
Tod und hofft gleichzeitig noch immer auf das Leben. Auch der immer
wiederkehrende Bienenschwarm verdeutlicht dies, indem er das Ich verkörpert.
Lars versucht versucht, sich gegen die Verzweiflung zu rüsten und bis zuletzt
um seine Identität zu kämpfen. „Das Symbol des Schwarmbewusstseins enthält
dabei eine neue düstere Komponente, denn das Ich ist Gefahr, sich aufzulösen –
wie Maränenschwarm, über den der Schatten des Reihers fällt, ’zersplittert in
einer Explosion blitzschneller Reflexe. (...) Nichts spricht mehr dafür, dass
er je existiert hat. Wenn alle fort sind, würde niemand glauben, dass es sie
eben noch gab.’“
Somit spiegelt dieser Bienenschwarm
die Auflösung des sterbenden Ich-Erzählers wieder, worauf schließlich auch der
Titel des Buches „En biodlares död“ bereits zu Beginn verweist.
5.
Schluss
Die Frage, ob es Gustafsson gelungen
ist, Schmerz darzustellen, lässt sich nur mit ja beantworten. Eindringlich und
anschaulich vermag er es, trotz sprachlicher Grenzen den Schmerz für seine
Leser greifbar zu machen.
„Die Beschreibung der zunehmenden und
nachlassenden Schmerzen ist überzeugend und zeigt noch, wo sie sich bis ins
Unerträgliche steigern, einen Willen zu Proportion und Analyse.“ schreibt John Updike
in seinem Aufsatz über Lars Gustafssons Roman „Der Tod eines Bienenzüchters“.
Dem kann man nur zustimmen, denn der Text selbst liefert hier zahlreiche
Beweise der Differenzierung und Charakterisierung der Schmerzen Westins.
Die Bedeutung der Schmerzen scheint
allerdings auf den ersten Blick im Verborgenen zu liegen, sie ist nicht so
offensichtlich und klar wie das Schmerzempfinden selbst. Denn genau wie die
Hauptfigur, die ihren Schmerz zu Beginn als sinnlos empfindet und sich fragt,
warum gerade sie davon betroffen ist, so gelangt man bei näherer Betrachtung
doch zu einer Vielzahl von Ansätzen. Gustafsson liefert mit dem Zitieren eines
Zeitungsartikel einen möglichen, sehr offenen: „Orden var: ’Allting får den
mening vi ger det’“.
Auch Ulrike Nolte vertritt die These,
dass der Autor hier nicht länger versucht, das Mysterium des Daseins zu
durchdringen, sondern dass er vielmehr in der Rätselhaftigkeit unserer Existenz
bereits eine gewissen Schönheit sieht.
In diesem fünften und letzten Roman
der Pentalogie „Sprickorna i muren“ beschreibt Gustafsson den Kampf eines
Menschen mit seiner Krankheit. Er lässt den Leser miterleben, wie Lars Lennart
Westin beginnt, sich mit sich selbst auseinander zusetzen und Bilanz zu ziehen.
Doch scheint es fast tragisch, dass Westin erst jetzt, nach dem Ausbruch seiner
tödlichen Krankheit, beginnt zu begreifen, was das Leben für ihn heißen könnte.
„Er entdeckt, wie die anderen Figuren Gustafssons, nach einem langen
Dämmerzustand, was ihm gefehlt hat, die Berührung mit der Wirklichkeit. Aber es
ist kein Naturerlebnis, was ihn aufweckt, kein Liebeserlebnis, das ihn umwirft,
sondern der körperliche Schmerz, der sein näherrückendes, wenn auch immer
wieder verleugnetes Ende ankündigt.“
Ohne Zweifel hat Gustafsson mit diesem
Roman eine beeindruckende Schmerzbeschreibung geschaffen und bewiesen, dass
dieses Thema in der Literatur trotz seiner vermeintlichen Einfachheit
(schließlich kennt jeder Schmerz) einer äußerst differenzierten Beschreibung
bedarf, um es realistisch darstellen zu können.
Dennoch bleibt das Gesamtwerk in einigen
Teilen dem Leser auf eine nahezu mystische Weise verschlossen, denn bei dem
Versuch bestimmte Szenen einzuordnen, gerät man immer wieder an Grenzen:
„Gustafsson själv medger således att hans texter är lika gåtfulla för honom
själv som för vilken annan kritisk läsare som helst!“