Kriminologie
Konstitutionelle Schuldunfähigkeit
1.
Definitionen
Ausgangspunkt:
Strafe setzt Schuld voraus! Wer ohne Schuld handelt, kann deshalb nicht
bestraft werden („nulla poena sine culpa“)
-
Definition
Schuld:
Schuld bedeutet die Vorwerfbarkeit eines
strafrechtlich relevanten Verhaltens. Vorwerfbarkeit bedeutet, dass der Täter
rechtswidrig gehandelt hat, obwohl er nach seinen Fähigkeiten und unter den
konkreten Umständen der Tat in der Lage war, sich von der im Tatbestand
normierten Pflicht zu rechtmäßigem Verhalten leiten zu lassen.
-
Definition
Schuldfähigkeit: Schuldfähigkeit ist die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen
(Einsichtsfähigkeit) und nach dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit).
2.
Schuldunfähigkeit
bzw. verminderte Schuldfähigkeit
-
Grundsätzlich
wird bei erwachsenen Tätern die Schuldfähigkeit vermutet. Anhaltspunkte für die
Schuldunfähigkeit lassen sich oft nur mit medizinischen bzw.
psychiatrischen Gutachten bestimmen.
2.1
Altersabhängige Schuldunfähigkeit
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Nach § 19
StGB sind Kinder, d.h. Personen, die bei der Begehung der Tat noch nicht 14
Jahre alt sind, schuldunfähig. Ausschlaggebend ist allein das Alter.
-
Konsequenz:
Keine Strafe für Kind, jedoch können die Eltern nach § 832 BGB (Haftung des Aufsichtspflichtigen)
haftbar gemacht werden, wenn die Aufsichtspflicht verletzt wurde.
-
Es
besteht aber die Möglichkeit der Billigkeitshaftung: Nach § 829 BGB (gelegentlich
Millionärsparagraph genannt) besteht aus Gerechtigkeitsgründen eine Haftung für
entstandene Schäden, wenn die Verhältnisse des Schädigers dies zulassen.
-
Jugendliche,
die zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind bedingt schuldfähig
(§ 3 JGG) Bei ihnen muss die Schuldfähigkeit nach dem Grad ihrer sittlichen und
geistigen Entwicklungsreife jeweils geprüft und im Urteil besonders
festgestellt werden. Bestrafung nach Jugendstrafrecht.
-
Für
Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren kann sowohl das Jugendstrafgesetz als
auch das normale Strafgesetz angewendet werden. Die Vorschriften für
Jugendliche gelten dann, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters
bei Berücksichtigung der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach
seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand
oder es sich um eine Jugendverfehlung handelt (§§ 105, 106 JGG).
2.2
Biologisch und psychologisch bedingte
Schuldunfähigkeit
-
§ 20 StGB:
Ohne Schuld handelt derjenige, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankh6aften
seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen
Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist,
das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
-
Schuldunfähige
bleiben straflos. Möglich ist aber die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus oder einer Erziehungsanstalt (§§ 63, 64 StGB, § 7 JGG).
-
§ 21
StGB: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach
dieser Einsicht zu handeln aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei
Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1
gemildert werden.
-
Bei der
Bestimmung der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) spielen biologische und
psychologische Gesichtspunkte eine Rolle, wobei die psychologische Komponente
auf der biologischen beruhen muss.
2.2.1
Biologische Komponente:
a)
Krankhafte
seelische Störungen:
-
Geisteskrankheiten,
deren somatische Ursachen nachgewiesen sind oder postuliert. Diese können
sowohl exogen (z.B. Epilepsie) als auch endogen (z.B. Schizophrenie) sein. Hierher
gehören hirnorganisch bedingte Zustände, Psychosen und Schizophrenie.
Schuldfähigkeit wird im Einzelfall geprüft, jedoch häufig § 20 StGB, da
Erfassen der tatsächlichen Verhältnisse für den Täter nicht möglich ist.
-
Die
wichtigste Störung stellt der alkohol- und drogenbedingte Vollrausch dar, der
vielfach auch zur Fallgruppe der tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen gerechnet
wird. Da mit ihm eine toxische Beeinträchtigung der Hirntätigkeit verbunden ist
und damit eine körperliche Ursache vorliegt gehört er aber richtigerweise hier
her. Für den Schuldspruch ist immer der jeweilige Einzelfall maßgeblich.
Allgemeiner Richtwert des Blutalkoholgehalts zum Tatzeitpunkt:
< 2.0 ‰ – volle
Schuldfähigkeit
2.0 – 3.0 ‰ – verminderte
Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) (bei Tötungsdelikten ab 2.2 ‰)
> 3.0 ‰ –
Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) (bei Tötungsdelikten ab 3.3 ‰)
b)
Tiefgreifende
Bewusstseinsstörungen:
-
Schwere
nichtkrankhafte Bewusstseinseintrübungen, die zu einem Verlust der
raum-zeitlichen Orientierung führen. Z.B. Schlaftrunkenheit, Erschöpfung,
Übermüdung, Hypnose und hochgradige Affekte.
Schuldspruch immer im
Einzelfall. Häufig aber wird dem Täter § 21 StGB wegen dessen
Nicht-Ausschließbarkeit im Rahmen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit
zugebilligt.
c)
Schwachsinn:
-
Angeborene
oder auf seelischer Fehlentwicklung beruhende Intelligenzschwäche. Möglicher
Schuldspruch wird im Einzelfall gesprochen. Wichtige Kriterien sind Erkennen
von Geboten und Verboten und das alltägliche regelkonforme Verhalten. Außerdem
folgende Richtwerte:
IQ 50-69 = leichte
Intelligenzminderung
IQ 35-49 = mittelgradige
Intelligenzminderung
IQ 20-34 = schwere
Intelligenzminderung
IQ < 20 = schwerste
Intelligenzminderung
d)
Andere
seelische Abartigkeit
-
Psychische
Abweichungen vom Normalen, die nicht auf einer körperlichen Krankheit beruhen,
wie z.B. Psychopathien, Neurosen, und persönlichkeits-verändernden
Triebstörungen. Oftmals besitzen diese Menschen einen der folgenden
Persönlichkeitsmerkmale: paranoid, schizoid, emotional instabil, antosozial. Schuldspruch
stets im Einzelfall.
2.2.2
Psychologische Komponente:
-
Unfähigkeit
das Unrecht der Tat einzusehen (mangelnde Einsichtsfähigkeit) oder nach
dieser Einsicht zu handeln (mangelnde Steuerungsfähigkeit).
3
Ausnahmen
3.1
Actio libera in causa
-
Handlung, bei deren
Verursachung der Täter noch freiverantwortlich handelte. Der Täter stellt in
noch verantwortlichem Zustand eine vorwerfbare innere Beziehung zur späteren
Tat her.
-
Schuldbeziehung zwischen
dem Sich-Berauschen und der späteren Tatbestandsverwirklichung.
-
Voraussetzung:
Doppelvorsatz bezüglich 1. der Herbeiführung des Zustands des § 20 StGB sowie
2. der Defektbegründung hinsichtlich des später im Defektzustand zu
verwirklichen Tatbestands. Tatvorsatz und Tatablauf müssen sich in den
wesentlichen Grundzügen decken. à
Vorsätzliche a. l. i. c.
-
Der Täter denkt vor
Herbeiführung der verminderten Schuldfähigkeit pflichtwidrig nicht daran denkt,
dass er in diesem Zustand eine bestimmte vorsätzliche Straftat begehen könnte
und dies in der Folge tut. à
fahrlässige a. l. i. c.
3.2
Strafbarer Vollrausch
-
Wer sich vorsätzlich oder
fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen
Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht
und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches
schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist. (§323a, I)
-
Die Strafe darf nicht
schwerer sein als die Strafe, die für die im Rausch begangene Tat angedroht
ist. (§323a, II)
-
Unter
Strafe gestellt ist nach § 323a StGB nicht direkt das Verhalten des
Schuldunfähigen (die Rauschtat), sondern das Verhalten, welches zur
Schuldunfähigkeit geführt hat (das Sich-Berauschen).
-
Es
ist sowohl das vorsätzliche als auch das fahrlässige Sich-Berauschen unter Strafe
gestellt.
-
Im
Unterschied zur a. l. i. c. besteht zwischen dem Sich-Betrinken und der
Rauschtat kein psychischer Zusammenhang besteht.
Literatur:
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Dittman,
V: Psychotrope Substanzen und Schuldfähigkeit. In: Haller, R / Jehle, J.-M.:
Drogen – Sucht – Kriminalität. S. 79-89.
-
Gropp,
W.: Strafrecht, Allgemeiner Teil. 2. Auflage. S. 239-258.
-
Haller,
R.: Die substanzbedingte Einschränkung des freien Willens. In: Stompe, T. /
Schanda, H.: Der freie Wille und die Schuldfähigkeit in Recht, Psychiatrie und
Neurowissenschaften. S. 165-175.
-
Kröber,
H.-L. / Wendt, F.: Medizinisch-psychiatrische Befunde und Zusammenhänge. In
Bock, M.: Kriminologie. 6. Auflage. S. 85-118.
-
Staud,
L.: Basiswissen der forensischen Psychiatrie. Eine Anleitung für Juristen,
Ärzte, Psychologen, Kriminalbeamte und Sozialarbeiter. 2. Auflage. S. 17-53.
Internetquellen:
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