Kommentar zum pädagogischen Selbstverständnis der
Offenen Arbeit
1. Einleitung
Wie
in den vorangegangenen Texten bereits beschrieben, ist Offene Arbeit ein heterogenes Phänomen der
kirchlichen Bildungsarbeit in der DDR. Das besondere an der OA war, dass sie
sich jeglicher zentralen Autorität- sowohl seitens des Staates als auch der
Kirche- weitestgehend entzog. So waren jeweils die einzelnen ,,Leiter“ der Jugendgruppen
verantwortlich für deren konkrete pädagogische Ausgestaltung; wobei aber nicht
übersehen werden darf, dass sich die Gruppen durch Selbstorganisation
auszeichneten und die Vielfältigkeit ihrer Erscheinung daher auch auf die
unterschiedlichen Orte und Interessen der Jugendlichen zurückzuführen ist. Auch der geringe Bestand an
wissenschaftlicher Forschungsliteratur zum pädagogischen Tätigkeitsbereich der
OA verdeutlicht, dass es schwer ist ein einfaches und geschlossenes Bild hierzu
zu entwerfen.
Der Umstand, dass sich die OA ,,in ständiger Bewegung auf der Grenze zwischen
einem unterdrückten Staat und einer reglementierenden Kirche sowie zwischen
diakonischen Engagement und Opposition befand“,
zeigt auf, dass sie sich in einer Grauzone bewegte und erklärt die schwere
Fassbarkeit ihrer Erscheinung.
Diese
vorangegangenen Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist das pädagogische
Forschungsfeld zur OA zu beleuchten und voranzutreiben. Daher soll nachfolgend,
mittels Bezugnahme auf einen Vertreter der Offenen Arbeit, eine Annäherung an
die Beantwortung der Frage, was die Tätigkeit dieser Form von kirchlicher
Jugendarbeit ausmachte, versucht werden.
2. Hauptteil
Auf
der 2. Tagung der 2. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR,
wurde festgehalten, dass (Selbst-)Orientierung durch persönliches Lernen der
Lehren Jesus', integraler Bestandteil des Christseins ist und erst dies Glauben
bilden lässt. Weiterhin wird u.a. auch auf den Lernanspruch Jugendlicher und
den damit verbundenen Verantwortungsbereich der Kirche eingegangen. So wird
postuliert, dass die Bildung Jugendlicher- ebenso wie die jeder anderen ,,Altersgruppe“-
besondere Anforderungen stellt. Beim Jugendlichen ginge es grundlegend um die
Ausformung und Entwicklung der Persönlichkeit.
Daher solle der Jugendliche ,,nicht so sehr mit Kenntnissen gefüttert oder in
die feste Ordnung einer vorgegebenen Welt eingeübt werden[, denn er] muß
lernen, personale Verantwortung übernehmen und tragen zu können.“ Die Formulierung eines
Vertreters der OA dazu, was OA sei und weshalb es sie geben müsse, greift ein
ähnlich geartetes Argument auf. So schreibt Wolfgang Thalmann:
„Für eine Neuorientierung braucht jeder Mensch ein
Gegenüber, der Anstösse gibt. Diese Anstösse müssen, um eine neue Orientierung
zu erlangen in einem Freiraum geschehen. Dieser Freiraum ist notwendig zur
Selbstfindung. Erst wenn ich weiß, wo ich stehe, kann ich meinen Weg
weitergehen, korrigieren, verändern. Insofern ist Selbstfindung die
Voraussetzung für alles folgende.“
Wolfgang Thalmann wurde 1951 in Weimar geboren. 1977
begann er in Gera als Jugendwart zu arbeiten und war dort für die Geraer JGs
verantwortlich. In Gera fing er an erste Grundzüge der OA zu fördern und zu
etablieren. So stellte auch dort ,,der Schritt, kirchliche Räume Jugendlichen
zu öffnen, die zunächst keinen Bezug zu Kirche hatten“ den Beginn der OA
dar.
Thalmann gehört als späterer ,,Leiter“ der OA zu
derjenigen Generation, welche selbst kirchliche Jugendarbeit miterlebte.
Das
oben angeführte Zitat stammt aus einem Brief Thalmann an den Superintendenten
Otto Heinrich Müller. Dieser stand er OA ablehnend gegenüber, sodass sich mit
seinem Amtsantritt 1980 ,,das Klima in der Geraer Kirche [ ] erheblich
[veränderte]“
und es schließlich 1981 zur Kündigung Thalmanns kam.
Vor
diesem Hintergrund scheint es plausibel anzunehmen, dass in dem Brief von 1981
gezielt Stellung und Rechtfertigung seitens Thalmanns zur OA genommen wird. Aus
dieser Situation und dem gegebenen Kontext heraus, zeichnet sich zwar ein stark
emotional gefährdetes Bild, zum Sinn und Charakter der OA, nach. Doch lassen
sich darin auch gezielte Aussagen und Argumente für ihr Bestehen finden.
Natürlich muss aufgrund des Adressaten, zu welchem eine gespannte- wenn nicht
gar feindselige- Beziehung herrschte, davon ausgegangen werden, dass keine
uneingeschränkt offene Mitteilungsbereitschaft seitens Thalmanns vorlag und
bestimmte Tatsachen keine direkte Erwähnung fanden.
Das
betreffende Zitat ist in der Fachliteratur häufig anzutreffen. Als Beispiele
lassen sich ,,Mythos Offene Arbeit“ von Anne Stiebritz oder ,,Artikulationsraum Kirche?
Die Geraer Offene Arbeit 1978-1981“ von Reiner Merker nennen.
In
dem Zitat plädiert der Verfasser dafür, im Umgang mit Jugendlichen einen
Selbstfindungsprozess zu fördern. Zunächst ist auffällig, dass mit Wörtern wie
,,Neuorientierung“, ,,Freiraum“ und ,,Selbstfindung“ vorgeprägte Termini
verwendet wird, welche an die westlichen Emanzipationsbestrebungen der
damaligen Zeit erinnert. Damit wird auch die Nähe zu neuen Konzepten, welche
sich bereits in der BRD zu verwirklichen begannen, deutlich. Und in der Tat ist
in der OA ein ,,emanzipatorisches Selbstverständnis“ verankert. So schreibt Thalmann zwar von
einem ,,Gegenüber“ welches verantwortlich ist ,,Anstöße“ zu geben, aber selbst diese
,,Anstöße“ müssen in einem ,,Freiraum“ stattfinden ,,um eine neue Orientierung
zu erlangen“. Damit wird sogar das ,,Anstoß geben“ als aktive Handlung des
Pädagogen auf eine Ebene reduziert, die es fraglich macht, wann und wie
überhaupt Impulse bzw. Anstöße zu geben sind, wenn sich der Adressant jeglicher
Verbindlichkeit entziehen kann und das Verhältnis von Lerner zum Lehrer
zunehmend aufweicht.
Das Zitat macht außerdem deutlich, dass das pädagogische Hauptanliegen der OA
unter Thalmann die Selbstfindung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen war.
Denn, dem Argumentationsmuster Thalmanns folgend, ist ,,Selbstfindung die
Vorraussetzung für alles folgende“. Unter diesem Aspekt betrachtet, strebte OA
eine Öffnung des traditionellen Bildungsauftrages der evangelischen Kirche an,
wonach missionarische Ziele vernachlässigt werden sollten, zugunsten einer
,,Kirche für andere“.
Auch
wenn Thalmann in dem Brief an Superintendenten Müller seine persönliche Meinung
wiedergab, so lassen sich dennoch zahlreiche Äußerungen von Vertretern der OA
finden, welche diese Sichtweise bekräftigen und damit ein relativ allgemeinen
Eindruck des pädagogischen Selbstverständnisses der OA zulassen. So spricht Uwe
Koch von der anfänglichen Intension den Jugendlichen ,,Frei-Raum“ und
,,Gesprächsmöglichkeit“ zur Verfügung zu stellen. Auch Thomas Auerbach erwähnt,
dass sich die OA an den Jugendlichen orientierte und das thematisch behandelt
wurde, was die Adressaten interessierte.
Auch wenn, ,,der bewusste Verzicht auf Missionsziele [ ] eine Thematisierung
christlicher Fragen nicht ausschloss“,
so ging es dennoch vordergründig darum eine freie Entfaltung der Persönlichkeit
der Jugendlichen zu unterstützen- egal ob diese sich für die Kirche und den
christlichen Glauben interessierten oder nicht. Thomas Auerbach sieht auch
antiautoritäre Strukturen in der OA als wesentlich und verweist auf das
gleichberechtigte Verhältnis zwischen kirchlichem Mitarbeiter und Jugendlichem. Ebenso ist Uwe Kochs
Verständnis von OA weit entfernt von einer klassischen Lehrer-Lerner Beziehung,
denn er versteht Bildungsarbeit unter der Prämisse eines ,,dialektischen
Menschenbildes“.
Für
Thalmann, wie einige andere Mitarbeiter in der OA, bestand kein großer
Altersunterschied zu den Jugendlichen, was eine Identifizierung mit den
Adressaten begünstigte und wiederum zur Auflösung des klassischen
Rollenverständnisses von Lehrer und Schüler beitrug. Diese Tatsache ist nicht
zu unterschätzen, denn als ,,Szeneanghöriger“ war es schwer eine gewisse
Distanz zu den Jugendlichen aufzubauen.
Abschließend sei noch erwähnt, dass sich auch in dem Positionspapier von 1974
ähnliche Auffassungen widerspiegeln. So werden unter dem dritten Punkt Ziele
der OA, wie ,,Erprobung des Modells einer offenen Gemeinde“ und ,,Hilfe zum
Menschsein und Christsein“,
formuliert.
Auch der weitere Inhalt des Positionspapieres, wie z.B. der zweite Punkt
,,Gesellschaftliche Hintergründe für die Arbeit“, weißen auf ein
,,emanzipatorisches Selbstverständnis“ der OA, und darüber hinaus auf die
starke Identifikation der Verantwortlichen mit ihren Adressaten, hin.
Fazit
Die
Sichtweise, dass es beim Lernen im Jugendalter auf die Bildung der
Persönlichkeit ankommt und nicht auf die Eingliederung in eine ,,vorgegebene Welt“-
wie auf der 2. Synode des Bundes der evangelischen Kirchen festgehalten wurde-
erinnert stark an die Selbstwahrnehmung des Bildungsauftrages der OA und
scheint damit ein Argument für deren Daseinsberechtigung geliefert zu haben.
Die
Offene Arbeit entwickelte sich teilweise vor dem Hintergrund eines
Generationswechsels, sodass zwischen jugendlichen Adressaten und ,,Leitern“
oftmals kein großer Altersunterschied bestand. Dies begünstige eine gesteigerte
Motivation (im internistischen Sinne) der kirchlichen Mitarbeiter, da sie sich
mit den Jugendlichen und deren Interessen besser identifizieren konnten.
Dadurch verschwand zunehmend eine starre Distanz zwischen Lehrer und Lerner. So
kam es vermehrt zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften, Organisationsteams oder
auch alternativen Wohngemeinschaften welche sich selbst organisierten. Die OA
kann daher beschrieben werden als, an die Pädagogischen Prinzipien der sogenannten
86er anlehnende und beeinflusste, Jugendbewegung, welche ihren Ausgang im
kirchlichen Bereich nahm. Trotzdem scheint eine gesonderte und detaillierte
Betrachtung einzelner Jugendgruppen der Offenen Arbeit notwendig, um ein
differenzierteres Bild dieser schwer fassbaren und mystifizierten Bewegung zu
entwerfen.
Quellen:
Pietzsch, H.:
Opposition und Widerstand. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit „Offene
Arbeit“ Jena 1970-1989. Berlin, 2004
Stiebritz,
Anne: Mythos „Offene Arbeit“. Studien zur kirchlichen Jugendarbeit in der
DDR. Jena: IKS Garamond, 2010.
Kirche
als Lerngemeinschaft, Vgl. Referat auf der 2.Tagung der 2. Synode des Bundes
der Evangelischen Krichen in der DDR, Potsdam 28.9.1974.
Internetqullen:
Merker, R.: Artikulationsraum
Kirche? Die Geraer Offene Arbeit 1978–1981 (Abrufbar unter: Zugriff am 15.6.2011)
ThürAZ: Bestand Wolfgang Thalmann P-T-K-1.02