Matr.Nr.: 9402298 – Email:
Inhaltsverzeichnis
- ARBEITSFASSUNG
1.
Körperkonzepte 2
1.1.
Leib versus Körper 6
1.2.
Leib-Seele-Problem 8
1.3.
„Der Körper“ als Teil des Ganzen: der Mensch 13
1.4.
Die Dramatisierung des Körpers 15
1.5.
Verkörperung 16
1.5.1.
Turner, Schechner, Brecht 22
1.5.2.
Schlemmer, Meyerhold 22
1.5.3.
Stanislawski, Strasberg, Moreno 22
1.5.4.
Artaud, Grotowski 22
1.5.5.
Das soziale Drama des Victor Turner 22
1.5.6.
Der Ursprung des Theaters liegt im Ritual – Richard Schechner 24
1.6.
Verfremdungseffekte am Körper 26
1.6.1.
Das Theater im Bauhaus und der biomechanische Körper auf der
Bühne 26
1.6.2.
Biomechanik 28
1.6.3.
Die psychologisierte Darstellung – Stanislawskis virtueller Körper
auf der Bühne 30
1.6.4.
Körperliche Erfahrungen 31
1.6.5.
Der entstellte Körper 32
1.7.
Der mediatisierte Körper versus der Körper als Medium 33
Der Körper ist
der Übersetzer der Seele ins Sichtbare.
(Christian
Morgenstern)
1.
Körperkonzepte
Körper
(lat. „corpus“): allgemein sinnlich-wahrnehmbarer Gegenstand
(meist auch ausgedehnt und räumlich lokalisierbar). […] Platon
unterscheidet zwischen der Welt der nicht-körperlichen Ideen und der
Welt der Einzeldinge, die einen körperlichen Charakter haben. Die
Einzeldinge sind im Unterschied zu den Ideen materiell, ausgedehnt
und vergänglich. Nach Aristoteles ist ein Körper materieller
Gegenstand, dem eine Form inhärent ist. […] Bei Descartes ist die
Ausdehnung das Hauptmerkmal des Körpers. Er unterscheidet zwischen
der ausgedehnten Substanz (res extensa), dem Körper, und der
denkenden Substanz, dem Geist bzw. reinen Denken (res cogitans). […]
Im Laufe der Philosophiegeschichte wurde Körper als (menschlicher)
Leib aufgefaßt, der dem Geist bzw. der Seele entgegengesetzt ist. In
diesem Zusammenhang entsteht (besonders seit Descartes) das so
genannte Leib-Seele-Problem.1
Im Alltag ist die
Einheit zwischen Körper und Geist durch Sinneswahrnehmungen,
Körperempfindungen, Gefühlen und Bedürfnissen eine
Selbstverständlichkeit. Obwohl oftmals die Wahrnehmungen des Körpers
erst durch gezielte Sensibilisierung2
neben dem Schmerz erfahrbar gemacht werden müssen, ist unser Erleben
ohne unseren Körper nicht möglich.
Erst das Echo des
Körpers auf (starke) Gefühle ermöglicht eine „Kategorisierung“.
Die körperlichen Symptome unserer Emotionen spiegeln sich in einer
Vielzahl sprachlicher Ausdrücke wider.
Bei Angst schnürt
es uns den Hals zu, bei Freude geht das Herz auf, Ärger schlägt uns
auf den Magen und wenn wir verliebt sind, flattern Schmetterlinge im
Bauch.
Bis ins 19.
Jahrhundert hinein war „der“ Körper für sich allein kaum ein
philosophischer Untersuchungsgegenstand. In der christlichen
Tradition gilt er als marginal, wird abgewertet und als
physikalisch-mechanisches Präparat den Naturwissenschaften
überlassen.
Aber das
grundsätzliche Interesse am Körper im Detail ist nicht so neu.
Seit jeher sind
Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, Schönheit und
Hässlichkeit wichtige Themen.
Auch die
Verbindungen und mögliche Wechselwirkungen zwischen Körper/Leib und
Seele beschäftigen die Menschen bereits in frühen Kulturen.
Archäologische Funde von Begräbnisritualen geben davon Zeugnis.
Und so wurde schon
früh über den manipulierten Körper theologisiert, philosophiert,
experimentiert und gedichtet.
Das
Problem der Transzendenz lösten „Menschenfressende“ Kulturen in
der Praxis anders als das Christentum (Eucharistie), doch gemeinsam
war ihnen der Glaube, durch die orale Aufnahme des Leibes des
Verstorbenen die Kraft oder Qualitäten eines Toten in sich
aufzunehmen. Wiedergeburt im eigenen oder fremden Körper ist in den
meisten Religionen ein zentrales Anliegen. Körperallegorien finden
sich in Religion, Wirtschaft, Politik und Kunst gleichermaßen und
können Auskunft über Gesellschaftsmodelle geben.3
Beginnend mit der
Aufklärung gewinnt der Körper an Bedeutung, die durch die Moderne
im 19. und 20. Jahrhundert weiter verstärkt wurde.
Das bürgerliche
Postulat der „AufklärerInnen“, den Körper durch Bildung zur
bürgerlichen Repräsentanz von Gleichheit, Unabhängigkeit,
Nützlichkeit und damit zur Demokratie zu machen, ist überholt.
Heute gilt der
Körper als Kennzeichen für soziale, psychische und physische
Unterschiede und damit als Statussymbol.
Mit wachsender
Bedeutung entstand ein Kult rund um den Körper, der immer enger an
den Begriff der Identität geknüpft wird.
Gleichzeitig steigt
auch Zahl der Theorien und wissenschaftlichen Zugänge zum Körper.
Und fast alle dieser
Theorien scheinen dazu angetan, den Körper aufzulösen.
Beginnend mit
Descartes trennt der Dualismus den Leib vom Geist, der nunmehr als
alleiniger Sitz des Selbstbewusstseins gilt. Von Kant haben wir
gelernt, dass die Wahrnehmung des Körpers von der transzendentalen
Synthesis4
abhängt.
[…]
mit Foucault den Körper zu einer Relaisstation der Disziplinen; mit
Lacan die Identität als Fiktion und als abhängig vom Imaginären
erwiesen; wir haben gelernt, Gender und Sex zu trennen, und dann mit
Butler auch den Sex als eine Gender-Variante erkannt. Und die
radikalen Konstruktivisten haben uns gesagt, daß die „Kognition“
unabhängig von der Außenwelt ausschließlich nach ihren eigenen
Regeln verfährt.5
Und Ernst Bloch
schreibt zu Beginn seiner „Tübinger Einleitung in die
Philosophie“:
„Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir erst.“6
Helmut Plessner
formulierte Jahrzehnte früher die conditio humana: Leibsein und
Körperhaben.7
Beide, Plessner und Bloch wenden sich mit einer einfachen Sprache
einer komplexen Diskussion um den zur Selbstverständlichkeit hin
verbrauchten Unterschied zwischen Körper und Geist zu, der zwar
immer schon diskutiert wurde, aber seit Descartes bis hinein ins 20.
Jahrhundert auf der Anthropologie lastete.
„Der Körper“
gilt nicht als natürlich oder ursprünglich, sondern muss als
lebendiges Produkt der Evolution und der Geschichte gesehen werden.
Dem folgend stehen
die historischen Human- und Sozialwissenschaften, vor allem die
historische Anthropologie, vor den Naturwissenschaften und auch vor
einer naturwissenschaftlichen Variante der Anthropologie.
Während einer
verhältnismäßig kurzen Zeitspanne hat(te) die Zivilisation einen
verheerenden Einfluss auf den Körper und macht ihn zum
Prothesenkörper, der im Namen der Emanzipation zugerichtet und
unterdrückt werden muss. Denn zivilisatorisch ist der Körper eine
Fehlkonstruktion, ein nicht integrierbarer Rest(müll), der der
theologischen und technologischen Vergeistigung im Wege steht.
Als die
fundamentalsten Schwächen des Körpers gelten die beiden Tabuthemen
Sexualität und Tod. Die Transformation des Körpers in das Bild und
damit von der Vergänglichkeit in die Ewigkeit war die
zivilisatorischen Methode, mittels Verdrängen und Vergessen den
Umgang mit dem Körper zu „pflegen“.
Doch der
Jahrhunderte lang eingeschränkte Zugang zum „Abbild“ ist nun
prinzipiell jeder/jedem offen und die Differenz von körperlicher
Realität und Körperbild entfällt.
Nun gibt es nur noch
Bilder für die Ewigkeit.
„Bilder sind
Denkmäler gewesenen Lebens. Mit einem Wort: Sie sind tot.“8
In der Folge basiert
die Auseinandersetzung der historischen Anthropologie auf dem
zerstückelten Körper, und die Kategorie des Schmerzes ist
unabdingbar.
Der Versuch der
WissenschafterInnen „ihrem“ Körper zu Leibe zu rücken,
entfremdete den Körper bis zum Äußersten. So wurde der Körper mit
dem Skalpell zerlegt, unter das Mikroskop gelegt, das Gesehene
beschrieben, taxonomiert und abgebildet. Der künstlerische Ausdruck
dafür waren der Realismus der bildenden und darstellenden Künste.
Es entstand und
entsteht eine Fülle an Wissen über den Körper in seiner
materialen, medizinischen, biologischen und genetischen Dimension. In
Korrespondenz dazu ist die Menge an Einschränkungen, Deformationen
und Abwertungen von körperlichen Erfahrungen. Auch über das
Bewusstsein, die Kognition, das Mentale, den Geist und die Seele
gibt es eine vergleichbare Fülle an Erkenntnissen.
Vielleicht herrscht
gerade deshalb immer noch Unklarheit über das Beziehungsgeflecht
zwischen Körper, Geist und (Sozial)ökologie.
Und der
Körperbegriff entzieht sich weiterhin klar begrenzbaren
Definitionen.
Aber um das Was des
Körpers geht es seit dem mechanistischen Paradigma Descartes´ und
seiner Trennung zwischen Materie und Geist schon lange nicht mehr:
Wesentlicher ist viel mehr Wie der Körper funktioniert. Die
Orientierung am Körper als Physis folgt eine sehr strikte Trennung
zwischen exoterischem Wissen, das den Körper als komplexe, nicht
triviale, perfektionierte oder substituierte historische Maschine
sieht und dem esoterischem Wissen um den Körper, das zum Beispiel in
der fernöstlichen Tradition davon ausgeht, dass der Mensch zumindest
aus sieben Körpern besteht.9
All diesen
Wissenstraditionen und Vokabularien gemeinsam ist die Unmöglichkeit
einer validen Körperbegriffsfassung.
Um sich dennoch
einer Begrifflichkeit des Körpers annähern zu können, werden in
der Regel in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Begriffe
einander gegenübergestellt.
Wie zum Beispiel
Leib vs. Körper, Wissen vs. Körper, Leben vs. Körper und Geist vs.
Körper.10
Körpergeschichte
kann daher niemals Erfahrungsgeschichte sein, sondern ist immer (nur)
Diskursgeschichte. Denn die Richtlinien der jeweiligen Denkrichtung
bestimmen die Fragestellung und damit den Erkenntnisgewinn.11
1.1. Leib versus
Körper
Der
reine leidensfreie Geist befaßt/
Sich mit dem Stoffe nicht, ist
aber auch/
Sich keines Dings und seiner nicht bewußt/
Für
ihn ist keine Welt denn außer ihm/
Ist nichts. – Doch, was ich
sag’, ist nur Gedanke./
Nun
fühlen wir die Schranken unseres Wesens/
Und
die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig/
Sich
gegen ihre Fesseln, und es sehnt der
Geist/
Zum
ungetrübten Aether sich zurück.12
Leib ist semantisch
gefasst Raum, unmittelbare phänomenologische Erfahrung.
Der Körper ist
objektivierter Gegenstand zivilisatorischer und epistemischer
Zurichtung.13
Die Sinnhaftigkeit einer solchen Begrifflichkeit ist laut Lorenz
nicht für alle Sprachen gleich gegeben.
Etymologisch hat
eine Bedeutungsverschiebung zwischen den Begriffen Leib und Körper
stattgefunden, die sich zueinander konträr verhalten.
Während der Leib
bis in die mittelhochdeutsche Zeit gleichbedeutend mit Leben war,
später dann auf das Persönliche (siehe zum Beispiel „Leibarzt“,
„Leibgericht“) reduziert wurde und sich adjektivisch anderen
Begriffen unterordnete, wurde aus „dem Körper“ als Synonym für
Leiche immer mehr ein Begriff für Einheiten die ohne Leib, körperlos
sind.14
Die Bedeutung der
Gesamtheit vor allem im Sinne eines abstrakten sozialen Inhaltes
etablierte sich im 16. Jahrhundert als naturwissenschaftliches
Vokabel.15
So wurde der Leib
körperlicher und der Körper mehr und mehr zum „nam“, der Endung
von Leichnam, zur Hülle.
Durch den
christlichen Reliquienkult, die Ärztekunst einerseits und die
zunehmende gesellschaftliche Notwendigkeit der Repräsentation
anderseits wurde diese Verschiebung begünstigt.
Wenn
man will, kann man in der 1529 in Marburg stattfindenden Debatte
zwischen Luther und Zwingli über die Frage, ob der Leib Christi im
Altarsakrament körperlich oder symbolisch präsent oder
repräsentiert anwesend ist, den Beginn eines bis heute ungeklärten
Verhältnisses zwischen Körperlichkeit/Präsentation und
Zeichenhaftigkeit/Repräsentation sehen.16
Das
Gegeneinander-Ausspielen von Körper und Leib hat eine philosophische
Tradition, die mit Edmund Husserl begann17
und unter anderem durch die kritische Theorie von Horkheimer/Adorno18
bekräftigt wurde.
Ein
polares Verständnis, das die Fiktivität der
Essentialismus-Konstruktivismus-Dichotomie auf den Punkt bringt. Dem
kulturell über-/verformten Körper wohnt so oder so ein
verschütteter „natürlicher“ Leib inne, den es freizulegen
gilt.19
1.2.
Leib-Seele-Problem20
Das
Leib-Seele-Problem gilt als klassisches Problem der abendländischen
Philosophie und bezeichnet die Wechselbeziehung zwischen Körper und
Seele.
Es ist im Kern ein
Kausalitätenproblem.
Wirkt die Seele auf
den Leib? Oder der Leib auf die Seele?
Die grundsätzliche
Auseinandersetzung mit dem Körper als Ursache oder als Wirkung setzt
sich auch im zeitgenössischen Diskurs fort: Ist der Körper
soziales, mediales Produkt21
oder ursprünglicher und authentischer naturwissenschaftlicher
Untersuchungsgegenstand?
Seit der
griechischen Antike werden die philosophischen Auseinandersetzungen
um belebter versus unbelebter Materie, einer möglichen Hierarchie
zwischen Körper/Leib und Seele und der Unsterblichkeit der Seele,
von dem Standpunkt dominiert, dass der Mensch einen Körper und eine
Seele hat.
Bei Platon ist der
Körper das „Gefängnis der Seele“. Er denkt die unsterbliche
Seele als vom Körper getrennt. Aristoteles definiert die Seele als
Formprinzip, das aus Materie ein Ganzes formt und erhält. An sich
gilt aber das Leib-Seele-Problem als neuzeitlicher Diskurs. Der
Dualismus Descartes’ vertritt den Standpunkt, dass es zwei
Substanzen mit Wechselwirkung zueinander gibt.22
Die Seele ist organisch in der Zirbeldrüse lokalisiert, die
gleichzeitig als Schaltzentrale, als Schnittstelle zwischen Materie
und Geist den „menschlichen Automaten“ steuert. Die gegenseitige
Beeinflussung zwischen Leib und Seele findet aber nicht direkt statt,
sondern wird über ein feines, stoffartiges Fluidum23
vermittelt.
Die Okkasionalisten
Arnold Geulincx und Nicolas Malebranche waren
philosophiegeschichtlich die ersten, die diese Verbindung zwischen
Leib und Seele kritisierten.
Aus ihrer Sicht
waren der Leib und die Seele heterogene Substanzen24
und eine Wechselwirkung, wenn überhaupt, nur durch übernatürliche
Einflussnahme möglich.
Baruch Spinoza
(1632–1677) entwickelte zur Leib-Seele-Thematik seine Theorie vom
psychophysischen Parallelismus. Auf Basis einer einheitlichen
Deduktion von materiellen und geistigen Erscheinungen und rund um
seinen zentralen Begriff der Substanz leitet er dieses philosophische
Lehrgebäude ab. Nach Spinoza laufen seelische und körperliche
Vorgänge voneinander isoliert parallel ab.
Bei dem deutschen
Philosophen Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz (1646–1716)
bestehen Materie und Bewusstsein/Seele aus so genannten Monaden, aus
Elementarteilchen analog zur Geometrie. In seiner prästabilierten
Harmonie ist die Materie und jeder Gegenstand einzigartig und besteht
aus unendlich vielen Monaden, während die Seele nur aus einer
einzigen Monade besteht. Allerdings interagieren Monaden nicht
miteinander. Das wirft für Leibniz neben der Frage um die Beziehung
zwischen Leib und Seele auch die Frage nach der
Ursache-Wirkungsbeziehung im Allgemeinen auf.
Aus seiner Sicht hat
Gott alle Monaden so geschaffen, dass ihr Verhalten
Kausalitätsbeziehungen und Interaktionen zwischen Leib und Seele
ergeben. Leibniz gilt daher als Determinist.
Immanuel Kant
(1724–1804)
bestritt die Determiniertheit des Willens und vertrat die
Willensfreiheit. Zwar gilt bei ihm die Substanzentrennung, aber die
metaphysische Erforschung, zum Beispiel der Unsterblichkeit der
Seele, ist für ihn nicht möglich.
Ludwig Feuerbach
(1804–1872) sieht das Leib-Seele-Problem als Produkt einer
künstlichen Isolierung von Körper und Seele. Er sieht in diesem
Dualismus einen gewaltsamen Bruch und eine damit verbundene
Geringschätzung der Natur. (Descartes sieht in Materie lediglich das
„Ausgedehnte“.) Gemäß Feuerbach hat sie aber eine eigene
„Qualität“, auf die das Denken zu reagieren hat.
Friedrich Nietzsche
von Feuerbach beeinflusst, wiederum stellte den Körper an erste
Stelle.
Leib
bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein
Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine
Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und
ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein
Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug
deiner großen Vernunft. 'Ich' sagst du und bist stolz auf dies Wort.
Aber das Größere ist–
woran
du nicht glauben willst–dein Leib und seine große Vernunft: die
sagt nicht Ich, aber tut Ich.25
Henri
Bergson (1859–1941) formuliert in seiner philosophischen Abhandlung
über die Beziehung zwischen Körper und Geist „Materie und
Gedächtnis“26
das Gedächtnis als Schnittstelle zwischen Geist und Materie. Anders
als Kant geht er davon aus, dass Raum und Zeit wesensverschieden sind
und die Zeit eine intuitiv wahrnehmbare Größe.
Die Realität ist
weder kausal noch lokal. Denn Raum und Zeit sind reine Illusion.
Davon
beeindruckt brachte der französische Jesuit und Wissenschaftler
Pierre
Teilhard de Chardin
(1881–1955) die Religion als Gegenstand der Auseinandersetzung in
den Diskurs ein. Für ihn ist das Bewusstsein in der Materie angelegt
und wird durch die Evolution der Lebensformen entfalten.
Hans
Jonas
(1903–1993)27
versucht in seiner philosophischen Biologie den Dualismus zu
überwinden. Zwar trennt er Geist und Materie, aber verortet die
Seele nicht wie Descartes.
Der philosophischen
Biologie zu Folge sind die Grundlagen des Geistigen und damit wohl
auch der Seele bereits entwicklungsgeschichtlich im Organischen
angelegt und sich ontogenetisch bzw. psychogenetisch entfalten muss.
Der Geist bleibt aber zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung Teil des
Organischen. Als Beispiel führt er die dem Geist zugeordnete
Freiheit an, die im Kern schon im organischen Prinzip des
Stoffwechsels angelegt ist und die in Korrespondenz mit den
materiellen Grundlagen sich stets weiterentwickelt.
Als Grundlage des
neuzeitlichen Körperverständnisses hat sich der cartesische
Substanzendualismus durchgesetzt. Descartes trennt Leib und Seele mit
einer Radikalität, die die Wechselwirkung zwischen beiden zum
theoretischen Störfaktor macht.
Die
Seele wird aus naturwissenschaftlicher Sicht als Forschungsfeld
bestellt und trägt empirische und experimentelle Früchte. Denn eine
beseelte Natur, die einem göttlichen Zweck dient, ist
undurchschaubar und vor allem kaum mess- und kategorisierbar.
Die anthropologische
Konsequenz dieser Sicht manifestiert sich in der Medizin des
19.
Jahrhunderts, die sich wie andere Naturwissenschaften gerade von der
Philosophie löst.
Nun unterliegt
Körper wie Geist physikalischen Kausalgesetzen, die es wie die
mechanische Natur zu erforschen gilt.
Der
deutsche Wissenschaftler Hermann Helmholtz und seine Kollegen wandeln
ab den 1840er-Jahren die philosophischen Grundlagen der romantischen
Medizin in chemisch-physikalische Grundlagen der Physiologie um,
gleichrangig mit der Leitwissenschaft Physik.
Auch
wenn sich die wissenschaftliche Theorie dieser Zeit von der Idee der
Maschine von Descartes unterscheidet, im Wesentlich bleibt die
Grundannahme, dass die Natur (der Seele) erforschbar, kategorisierbar
und kausalgesetzlich formulierbar im Experiment nachgebildet werden
kann.
Ein wichtiger
Vertreter dieser Denkrichtung ist der Helmholtzschüler
Wilhelm Wundt
(1832–1920), der Begründer der experimentellen Psychologie.28
Catherine Newmark
sieht in ihm und in Sigmund Freud, der übrigens ebenfalls sechs
Jahre bei einem Kollegen von Helmholtz assistierte, neben dem
deutschen Idealismus den großen Einfluss auf den postmodernen
Diskurs.29
Wundt orientiert
sich an naturwissenschaftlichen Methoden und überträgt kausale
Erklärungsmodelle der Physiologie auf die Psychologie. Allerdings
beharrte er auch auf einem unabhängigen Bewusstsein und Träume
ordnet er der Überschrift „Anomalien“ unter.
Trotz aller
theoretischen Unterscheidung steht im Mittelpunkt der Untersuchungen
immer das Physische und jede darüber hinaus gehende Bedeutung des
Psychischen verlässt das Forschungsfeld von Wundt. Weniger auf
Erklärungen als eben Bedeutungen konzentriert sich im Gegensatz dazu
Sigmund Freud. Mit seiner „Traumdeutung“30
löst sich die Psychoanalyse von der physiologischen Psychologie.
Freud geht von der Interpretierbarkeit eines Traumes aus, die eben
gerade über den Rand des physiologischen Forschungsfeldes
hinausgeht.
Mit seiner Kritik an
der Ursachenforschung, die keinen Platz für Sinndeutung lässt,
entfernt er sich weit vom dominierenden wissenschaftlichen Denken
seiner Zeit. Die naturwissenschaftliche
Psychologie dieser Zeit sieht seine Theorien als Rückfall in ein
metaphysisches bzw. idealistisches „vorwissenschaftliches“
Denken.31
Wohl aus diesem Grund war Freud sehr darum bemüht, seine Ansichten
zu legitimieren. Rhetorisch geschickt formulierte von der
physiologischen Position aus, dass sich letztlich alles Psychische
vom Physischen ableiten ließe – wenn man soweit forschen wollen
würde. Aber Freud wollte nicht.
Freuds Neufassung
des Seelenbegriffs hat auch Auswirkungen auf den Körper, der nun
auch Resultat seelischer Vorgänge sein kann. Er verschiebt die
Kausalitätenverhältnisse, die bis dahin von der Wirkung des
Physischen auf das Psychische aber nicht umgekehrt ausgegangen
waren.32
Freud überschreitet
damit die disziplinären Grenzen. Er verallgemeinert die Kausalität.
Nun wirkt der Körper auf die Seele und die Seele auf den Körper.
Die Einführung des Unterbewussten „[…] erlaubt nicht nur die
lückenlose kausale Anordnung des Psychischen, sondern untergräbt
auch das Bewusstseinsprimat der Seele;“33
Freud überwand mit die Substanzentrennung, indem er ihre Prinzipien
nutzte, aber ihre Intention veränderte.34
Mit Freud ist der
psychoanalytische Körper nun Symptom geworden und gibt Auskunft über
seelische Abläufe. Aber auch die beginnende Sicht auf den Körper
als gesellschaftlichen Bedeutungsträger fällt in diese Zeit. Nun
interessierte sich auch die Soziologie für die Einschreibungen
herrschender Machtverhältnisse in den Körper als Repräsentant eben
jener Ordnung. Diese Ansätze bilden die Grundlage über den bis
heute andauernden Diskurs über „Verkörperung“, „soziales vs.
biologisches Geschlecht“ und nicht zuletzt die entsprechenden
Zurichtungen „des“ Körpers.35
Im Computerzeitalter
verschiebt sich der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung um die
Leib-Seele-Beziehung hin zur Unterscheidung zwischen dem Menschen und
intelligenten Maschinen.
Bisherige
Unterscheidungskriterien sind unter anderem die Einzigartigkeit der
Lebensgeschichten menschlicher Individuen, der menschliche
Sozialisationsprozess und die bisher nicht konstruierbare Fähigkeit,
Erfahrungen zu sammeln und in einen Bedeutungskontext zu stellen.
1.3. „Der
Körper“ als Teil des Ganzen: der Mensch
Die
anthropologische Einheit „Mensch“ ist in ihrer Begrifflichkeit
von fließenden Grenzen eingefasst. Denn der Begriff ist ein soziales
Konstrukt abhängig von Alter, Geschlecht und/oder der Hautfarbe, das
kulturellen und historischen Veränderungen unterworfen ist.
„’Der
Mensch’, statisch als Mann, bestenfalls als Neutrum, historisch
meist als anonyme Masse gedacht, hat außer als fiktives Stereotyp so
nie existiert.“36
Unterschiedliche
Körperbilder werden nicht nur mythologisch, religiös oder
wissenschaftlich bestimmt, sondern unterliegen auch realen
historischen Veränderungen.
Die
jeweiligen kulturellen Bedingungen beeinflussten und beeinflussen
unter anderem die körperliche Beschaffenheit und die psychische
Allgemeinverfassung des Individuums.
Technische
Entwicklungen im Bereich der Bio- und Informationswissenschaften
stellen in den letzten Jahren zusätzlich die Grenzen zwischen
künstlicher und menschlicher Intelligenz oder zwischen geborenem und
konstruiertem Leben in Frage.
Der
wissenschaftliche Diskurs rund um die „neuen Medien“ propagiert
den vollständig virtuellen Körper. Auch wenn diese Extensions
derzeit im Großen und Ganzen theoretische Modelle sind: „[…] the
end of one kind of body and the beginning of another kind of body.“37
Der
Körper droht am Ende des 20. Jahrhunderts endgültig von seinem
Verschwinden erfaßt zu werden. Die neuen Medien des cyberspace
entmaterialisieren ihn zu Formen, digitalen Codes, die technologisch
fortgeschrittene Medizin ist im Begriff, ihn durch die
Selbstgenerierung abzulösen oder ihn durch Kunstorganimplantationen
mit der Welt des Künstlichen zu überschneiden.38
Was alle Diskurse um
eine Phänomenologie des Körpers verbindet, ist ihre Abhängigkeit
von medialer Vermittlung.
Jeder
private oder öffentliche Körper ist von Kultur umgeben, die ihn
prägt. Die Repräsentation in den Medien erfolgt unter bestimmten
Bedingungen, die wiederum Auswirkungen auf den alltäglichen Körper
haben.
Körperliche
Grunderfahrungen wie Schmerz müssen über sprachliche oder bildliche
Symbole kommuniziert werden. Der Körper wird umschrieben.
Dem gegenüber steht
die Tatsache, dass nur durch den Körper die Welt erfahrbar und
interpretierbar ist. Anthropologische Erkenntnisse bewegen sich daher
stets zwischen einem individuell körpergebundenem Weltzugang und
dessen sprachlicher Umschreibung.
Laut
Maren Lorenz lässt sich ein demnach so allumfassendes Thema wie
Körperlichkeit nur durch Interdisziplinarität „begreifen“.39
Dazu ist es notwendig, sich mit den Methoden und Ergebnissen anderer
Disziplinen auseinander zu setzen und beides auf die Anwendbarkeit im
Rahmen der eigenen Fragestellung zu überprüfen. Eine veränderte
Sicht auf die eigenen Fragen sollte dabei möglich sein.
Damit verfolge die
Körpergeschichte ein grundlegendes anthropologisches Anliegen.
Zur
besseren Orientierung in der Fülle der kulturwissenschaftlichen
Menschenbilder definiert Lorenz als gegensätzliche Pole den
„Essentialismus“40
und den „sozialen Konstruktivismus“.41
Ein
grundlegendes Problem der Körpergeschichtsschreibung ist die
Beschreibung vormoderner Körpererfahrungen aus der Sicht einer
Anthropologie, deren Denkrichtung im 18. Jahrhundert festgelegt
wurde.42
Konsequenterweise können wissenschaftliche Aussagen daher nicht
verifiziert oder falsifiziert werden, weil das Scheitern der
„Einfühlung“ vorprogrammiert ist. Körpergeschichtliche Arbeiten
müssen daher politisch und nicht wissenschaftlich begründet werden.
1.4. Die
Dramatisierung des Körpers
Erika
Fischer-Lichte schreibt in ihrer Geschichte des Dramas über die
Entstehung der christlichen Spiele im Mittelalter als der „Magie
des Körpers“.43
Wie
schon in der Antike entwickelt sich das Drama des Mittelalters aus
einem religiösen Kontext. Nach einem halben Jahrtausend ohne
Theater44
entwickelte sich ab dem
10.
Jahrhundert in den Teilen West- und Mitteleuropas, in denen das
Christentum vorherrschte, ein religiöses Kirchenraumspiel.45
Laut
Peter Simhandl46
war der Hintergrund der anfangs lateinischen Spiele die Ideologie des
Gradualismus´.
Gradualismus47
steht für die Einordnung des Menschen in einen gottgewollten
Stufenbau der Welt, der auf die Ewigkeit ausgerichtet ist und der
statischen Auffassung des Diesseits. Innerhalb dieser hierarchischen
Pyramide hat jeder Mensch seinen fixen unveränderbaren Platz. Diese
Ordnung auch nur zu hinterfragen, kam einer Auflehnung gleich. Die
Kirche war daher aus Gründen des Machterhaltes bestrebt, jeden
Zweifel zu beseitigen. Das Mittel der Wahl war die Geringschätzung
des Irdischen und damit des menschlichen Lebens. Ein Ausdruck dafür
ist die Kunst der Romantik: Statt menschlicher Abbilder werden
göttliche Sinnbilder dargestellt. Der Körper war somit lediglich
Symbolträger der göttlichen Ordnung.
Im
gradualisiertes Theater spielt sich der Wechselgesang nicht mehr
zwischen neutralen Chören ab, sondern zwischen Handelnden. Eine
Kostümierung findet zwar statt, aber nur mit liturgischen
Symbolkostümen, Symbolverkleidung, einer Symbolverwandlung, die der
gradualistischen Entwicklungsstufe entspricht. Symbolhaft ist
natürlich auch der Ort, das Grab Christi und die Requisiten wie
Palmzweige und Rauchfässer. Die Osterliturgie bildete den
Ausgangspunkt. Wesentlichester Teil der Feiern ist der Ostertropus.
Die
Spiele wuchsen mit der Zeit. Nach den Osterfeiern kam die theatrale
Ausschmückung der Weihnachtsliturgie und später die Märtyrerspiele,
die sich besonders anboten, mit Grausamkeiten das Publikum zu
erschüttern.48
Im
13. Jahrhundert kam es nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen
Veränderungen49
auch bei den Osterspielen zu einem entscheidenden Wandelung: Christus
wurde als handelnde Person gezeigt und das Spiel verlagerte sich aus
dem Kirchenraum ins Freie.50
Waren die Spiele
anfangs symbolistisch, schlicht, kontemplativ, so wurden sie in
weiterer Folge naturalistisch, grob und grell.
Nicht zuletzt auf
Grund des Ortswechsels liegt der Schwerpunkt im Optischen. Der
Darsteller muss unter Verzicht auf naturalistische Verfeinerung zu
großer, breiter Aktion hinarbeiten. Gesichtsmimik und stimmliche
Schattierungen sind nicht zu erwarten. Die Gesten sind offenbar
liturgisch gebunden und auf bestimmte einfachste Ausdrucksformen
stilisiert und zeremoniell. Wenn der Körper Aktion haben kann, so
wird am besten die visuelle Rücksicht erfüllt: Umarmung,
Niederfallen sind wirksamer als sprachliche Feinheiten.
1.5. Verkörperung
Das
Material des Schauspielers und/oder der Schauspielerin ist der
gezielt und bewusste eingebrachte Körper. Das „Gewicht“ dieses
Körpers ist abhängig von der Theatersparte und nicht zuletzt von
der jeweiligen Inszenierung. So verlangt das Musiktheater, wie z.B.
die Oper, andere körperliche Leistungen als zum Bespiel das
Tanztheater.
Der
Einsatz von Körpersprache auf der Bühne geht von einer Vereinbarung
zwischen KünstlerInnen und Publikum aus: Denn das „gemeinsame“
Wissen um den jeweiligen Bedeutungskontext ist kulturabhängig.51
In
der darstellenden Kunst ist das Werk nicht vom Körper der
Künstlerin/des Künstler abtrennbar.
Dadurch
entsteht zwischen der Darstellung und dem phänomenalen Leib
Spannung,
eine
Art Symbol der „Conditio humana“ im Körper des Schauspielers/der
Schauspielerin.52
In
seinem Werk „Zur Anthropologie des Schauspielers“ sieht Plessner
in dieser Spannung eine anthropologische Bedeutung und Dignität.
Denn einerseits hat der Mensch einen manipulier- und
instrumentalisierbaren Körper, andererseits ist er/sie auch dieser
Körper, ist Leib-Subjekt.
Für
die Darstellung schafft der Schauspieler/die Schauspielerin eine
Figur aus dem „Material der eigenen Existenz“ heraus und verweist
so auf die Doppelung und „[...] die
in ihr gegründete Abständigkeit hin.“ 53
Erika
Fischer-Lichte sieht in ihrem Buch „Ästhetik des Performativen“
in der Spannung zwischen dem Körper der/des Darstellerin/Darstellers
und dem Körper des Dargestellten die Bedingung für die Möglichkeit
einerseits Körperlichkeit in der Aufführung performativ
hervorzubringen und andererseits für die Wahrnehmung von
Körperlichkeit durch das Publikum.
Der Begriff der
Verkörperung einer Rolle entwickelte sich ab der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts.
Bis dahin wurden
Rollen von SchauspielerInnen gespielt, gegeben oder vorgestellt.
Auch
die Formulierung, ein/eine SchauspielerIn „sei“ die Rolle wurde
gewählt.54
Dann
kam es ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Wandel. Im deutschen
Theater entwickelte sich ein Literaturtheater, das eng mit einer
ebenfalls neuen realistisch-psychologischen Schauspielkunst verbunden
war.
Nun sprach man von
der schauspielerischen Darstellung als einer Verkörperung durch
den/die SchauspielerIn.
Ziel
war dabei aber nicht, durch die Schauspielkunst eigenständige
Interpretationen zu generieren, sondern lediglich der vom Autor/von
der Autorin im Text festgeschriebene Bedeutung Ausdruck zu verleihen.
Es galt das Geschehen auf der Bühne über das geschriebene Wort zu
kontrollieren.
Theoretischer Rahmen
für diesen Wandel war ein Dualismus zwischen einem absoluten Geist
und einem unzulänglichen Körper.
Mentale,
geistige Entitäten55,
als die Bedeutungen, die im Text ausgedrückt werden, können nur
durch das ideale Zeichensystem der Sprache entsprechend vollständig
vermittelt werden.
Der
Körper hingegen gilt als unzuverlässliches Medium für ein
brauchbares und vor allem gültiges Zeichensystem.
Aus
Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit der künstlerischen Qualität
von der körperlichen und der geistigen Befindlichkeit entwickelten
sich Theorien über den „künstlichen Menschen“. Ziel wurde es,
diese Menschmaschinen genauso kontrolliert einzusetzen, wie den
restlichen Bühnenapparat.56
Voraussetzung für
ein entsprechendes Körpermedium war eine gewisse Zurichtung.
Der
Körper musste entleiblicht57
werden.
Alles,
was auf den organischen Körper verweist, auf das leiblich
In-der-Welt-Sein des Schauspielers, muß seinem Leib ausgetrieben
werden, bis ein „rein“ semiotischer Körper zurückbleibt. Denn
nur ein „rein“ semiotischer Körper wird imstande sein, die im
Text niedergelegten Bedeutungen unverfälscht sinnlich wahrnehmbar
zur Erscheinung zu bringen und dem Zuschauer zu vermitteln.
Verkörperung setzt also Entkörperlichung bzw. Entleiblichung
voraus. Sie leistet zugleich Widerstand gegen die Flüchtigkeit der
Aufführung. Denn wohl mögen die Gesten und Bewegungen des
Schauspielers, die Laute die er hervorbringt, transitorisch sein; die
Bedeutung jedoch, die mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden,
existieren auch jenseits dieser flüchtigen Zeichen.58
Das
Puppentheater erscheint dafür als die ideale Form. Menschliche
Abbilder, die außer dem Puppenspieler/der Puppenspielerin nur noch
der Schwerkraft folgen und frei von eigenständigen Attitüden sind.
Heinrich
von Kleist beschäftigte sich in seinem Essay über das
Marionettentheater mit der zugrunde liegenden Problematik, ob nun
eher die Vernunft oder das Gefühl den Menschen in seinem Handeln
steuert. Als Beispiel bemüht er in seinem 1810 in den „Berliner
Abendblättern“ erschienenen Text die Geschichte des
Dornausziehers. Darin zieht ein Knabe mit höchster Grazie einen Dorn
aus seinem Fuß. Angesprochen auf dieses „Bild“ versucht er unter
der Kontrolle seines Verstandes diese vollkommene Bewegung zu
wiederholen und scheitert. Auch im Puppentheater fand Kleist eine
natürliche Anmut der darstellenden Körper. Kleist schließt daraus,
dass entweder die völlige Abwesenheit von Bewusstsein bzw. völlige
Unbefangenheit oder aber die absolute Kontrolle des Geistes über den
Körper jene vollkommene Anmut gewährleistet.
[…]
so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein
Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu
gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten
erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein
hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.59
Einer
der wichtigsten Schauspieltheoretiker der Neuzeit, Konstantin
Sergejewitsch Stanislawski60,
entscheidet sich, das Gefühl dermaßen zu kontrollieren, dass es in
der theatralen Praxis jederzeit in gleich bleibender Qualität für
die Rollengestaltung zur Verfügung steht.
Sie
sehen, unsere Hauptaufgabe ist nicht nur, das Leben der Rolle in
ihrer äußeren Erscheinung wiederzugeben, sondern vor allem auch das
innere Leben des dargestellten Menschen und des ganzen Stückes auf
der Bühne erstehen zu lassen, wobei die eigenen menschlichen Gefühle
der Rollengestalt angepaßt und diesem fremden Leben alle organischen
Elemente der eigenen Seele gegeben werden müssen.61
Sein
Naturalismus geht von einer Wechselwirkung zwischen Körper und Seele
aus. Das heißt, dass alles, was ein Mensch fühlt, an seiner Mimik,
Gestik, Haltung und Bewegung ablesbar ist.
Im
Innern des Menschen sind Wille, Verstand, Gefühl, Vorstellungskraft
und Unbewußtes tätig, während der Körper wie ein ungewöhnlich
empfindliches Barometer deren schöpferische Arbeit widerspiegelt. Zu
diesem Zweck müssen alle, selbst die kleinsten Muskeln, gut
entwickelt und durchtrainiert sein. Wir müssen unseren Körper,
seine Bewegungen und alles, womit wir unser Erleben offenbaren
können, so weit ausbilden, daß jede Emotion instinktiv, schnell und
anschaulich wird. 62
Ziel
dieser Schauspieltheorie ist es, die der jeweiligen Darstellung
zugrunde liegende Emotion zuerst zu erleben und dann in weiterer
Folge diese „organischen Elemente der eigenen Seele“ in der
Vorstellung abrufen zu können. Neben diesem „affektiven
Gedächtnis“ kann der/die SchauspielerIn auch dadurch Gefühle
generieren, indem er/sie die entsprechende Körperhaltung einnimmt.
Dadurch kann der/die
SchauspielerIn nach der These des psychophysischen Wechselspiels sich
in die betreffende Situation zurück versetzen und so ebenfalls
„wahrhaftig“ darstellen.
Mit dem beginnenden
20. Jahrhundert greift diese Konzept der Verkörperung nicht mehr.
So schreibt Georg
Simmel:
So
wenig die materielle Leinwand mit dem Farbenauftrag das malerische
Kunstwerk ist, so wenig ist der Schauspieler als lebende Realität
das schauspielerische Kunstwerk.
In
die besondere Bildart der Bühne soll der Inhalt übergeführt
werden, nicht in die Wirklichkeit. Der Schauspieler als Wirklichkeit
ist so wenig die künstlerische Bühnenfigur wie die Farbe das Bild
ist. […] Wenn heute manche sensible Menschen ihre Abneigung gegen
das Theater damit begründen, daß ihnen dort zu viel vorgelogen
werde, so liegt das nicht an dem Mangel, sondern an dem Zuviel von
Realität, das von der Bühne her auf uns wirkt. […] Indem wir die
ganze Irrigkeit der Idee einsehen, dass der Schauspieler die
dichterische Schöpfung „verwirkliche“, da er doch dieser
Schöpfung gegenüber eine besondere und einheitliche Kunst übt, die
der Wirklichkeit genau so fern steht wie das Dichtwerk
selbst–begreifen wir sogleich, warum der gute Imitator noch kein
guter Schauspieler ist, daß das Talent, Menschen nachzuahmen, nichts
mit der künstlerisch-schöpferischen Begabung des Schauspielers zu
tun hat. Denn der Gegenstand des Nachahmers ist die Wirklichkeit,
sein Ziel ist, als Wirklichkeit genommen zu werden. Der künstlerische
Schauspieler aber ist so wenig wie der Porträtmaler der Nachahmer
der wirklichen Welt, sondern der Schöpfer einer neuen, die freilich
dem Phänomen der Wirklichkeit verwandt ist, da beide aus dem Vorrat
der (ideellen) Inhalte alles Seins überhaupt gespeist werden. Darum
ist es ein ganz irriger Ausdruck, dem freilich als Ausdruck auch
unsere Klassiker verfallen sind, dass die Kunst überhaupt, und
insbesondere die Schauspielkunst, ihre Substanz im Schein habe. Denn
aller Schein setzt eine Wirklichkeit voraus, entweder als seine
tiefere Schicht, deren Oberfläche er ist, oder als sein Gegenteil,
das er heuchlerisch vertreten will.63
Doch
die heftigsten Kritiker wie Edward Gordon Craig und Wsewolod
Meyerhold entwickelten mit ihren Antithesen zum Verkörperungskonzept
lediglich eine dem Zeitgeist angepasste Adaption der
Zwei-Welten-Theorie.
Der
darstellende Körper wird zwar nicht mehr vom literarischen Text und
damit vom Autor/von der Autorin kontrolliert, sondern die/der
SchauspielerIn beherrscht ihr/sein Material vollständig, um so
sämtliche Störfaktoren auszuschließen.
Bei
Craig steht nicht mehr der/die virtuose SchauspielerIn im Mittelpunkt
des Interesses, sondern künstliche willenlose und vor allem formbare
Körper für einen optimalen künstlerischen Ausdruck. In diesem Sinn
verfasste Craig 64
seine Theorie „Der Schauspieler und die Übermarionette“.
Nach
Craig ist die Darstellung durch eine Marionette intensiver, weil ihr
im Gegensatz zum/zur SchauspielerIn Emotion und Egoismus fehlen. Denn
diese Eigenschaft ermöglicht eine hundertprozentige Unterwerfung der
darstellerischen Mittel unter die Intention des/der KünstlerIn.
Denn
nur dieses ästhetische Prinzip ermöglicht das Entstehen von Kunst.
Konsequenterweise
lehnte Craig demnach den Realismus als bloße Nachahmung ab.
Die
schauspielerische Darstellung muss ohne genuinen künstlerischen
Ausdruck sein, weil der Schauspieler/die Schauspielerin nicht frei
über seine/ihre gestalterischen Mittel verfügt und nicht in der
Lage ist, sein/ihr Werk unabhängig von Vorbildern zu erarbeiten.65
Ziel
der Craigschen Theorie war, den/die SchauspielerIn auf der Bühne
durch eine Übermarionette zu ersetzen.
Je
nach Abständigkeit zwischen DarstellerIn und Kunstwerk lassen sich
grob vier Richtungen einteilen:66
1.5.1.
Turner, Schechner, Brecht
Ritualen bzw.
asiatischem, antikem und epischem Theater ist gemeinsam der Umstand,
dass der/die DarstellerIn keine Kunstfigur, aber auch keine
Privatperson ist. Irgendwo zwischen diesen beiden Rollen ist er/sie
SymbolträgerIn im wahrsten Sinne des Wortes.
1.5.2.
Schlemmer, Meyerhold
Der Körper wird
präsentiert und mit dem Raum in Beziehung gesetzt (Bauhausbühne).
Der Körper ist Gestaltungsmaterial. Dem entsprechend wichtig ist
seine Beherrschung bzw. die Beherrschung entsprechender Techniken
(Biomechanik, bedingtes Theater). Unter anderem sind Artistik,
Vaudeville und Comedia dell´Arte wichtige Einflüsse.
1.5.3.
Stanislawski, Strasberg, Moreno
Über
Psychotechniken fühlen sich die DarstellerInnen in die Rollen ein
und identifizieren sich mit den Charakteren. Dabei wird unter anderem
auf eigene Erfahrungen und deren körperlichen Ausdruck
zurückgegriffen. Konsequenteste Identifikation ist die Darstellung
eines therapeutischen Themas im Rahmen des Psychodrama.
1.5.4.
Artaud, Grotowski
„Mein
Körper ist meine Software.“ 67
Im
„Theater der Grausamkeit“ und im „Armen Theater“ gibt es
keine Grenze zwischen der privaten Person und der darstellenden. Das
Private wird dargestellt und die Darstellung findet privat statt.
1.5.5.
Das soziale Drama des Victor Turner68
Der
schottische Ethnologe Victor Witter Turner (1920–1983) beschäftigte
sich in seiner Arbeit mit Ritualen, die die Bindung zwischen
Mitgliedern einer sozialen Gruppe regeln.
Im
Rahmen seiner Untersuchungen von Spannungs- und Veränderungsprozessen
im religiösen Bereich erforschte Turner die Symbole und Rituale von
Veränderungsprozessen; zum Beispiel der Minenarbeiter im südlichen
Afrika während der britischen Kolonialzeit. Diese Menschen waren von
tribalen Bauern zu Pendlern geworden und ständigen Veränderungen
unterworfen.
Turner
schließt mit seiner Arbeit an die Ritualtheorie von Arnold Gennep69
an und fand heraus, dass Rituale zwischen Individuen einer sozialen
Gruppe entstehen, die gerade gemeinsam von einem sozialen Zustand in
einen anderen wechseln, also eine Veränderung durchleben.70
Symbole
und ein tänzerischer und musikalischer Ablauf ermöglichen die
Gestaltung einer neuen gemeinsamen Identität. Rituale heben sich als
Ereignis vom Alltag ab, erzeugen somit eine Gegenwelt und festigen
die neu gewonnene Identität.
Für
die Dauer des Rituals werden auch alle üblichen sozialen
hierarchischen Strukturen ausgesetzt und die ProtagonistInnen haben
die Möglichkeit, Handlungen, die außer dem Kompetenzbereich ihrer
sozialen Rolle liegen, zu setzen.
Turner gliederte den
Ablauf in drei Phasen: Die Trennungsphase, die Schwellenphase oder
Liminalität und schließlich die erfolgreiche Wiedereingliederung.
Für Turner sind
Rituale dynamische Prozesse, die soziale Widersprüche kanalisieren
und dadurch kathartisch und therapeutisch wirken.
Die kleinste Einheit
des Rituals ist dabei das Symbol. Rituale wiederum sind Teile eines
Netzwerkes an Symbolik, die soziales Handeln initiiert.
Mit dem Begriff des
„sozialen Dramas“ bezeichnete Turner den ritualisierten Übergang
zwischen sozialen Dynamisierungsprozessen. Soziale Dramen laufen
dabei nach einem vierstufigen Schema ab: Ausgehend vom Erkennen von
Differenzen und Brüchen im Sozialen wird eine Verschärfung der
Krise bewusst. Das führt zum Versuch, rituelle Bewältigungsmuster
umzusetzen, um eine erfolgreiche Reintegration zu ermöglichen. Die
Anerkennung des unüberwindlichen sozialen Bruchs ist dann in
weiterer Folge der Ausgangspunkt für das nächste „soziale Drama“.
Das Ritual macht für
die Individuen symmetrische Beziehungen durch die Umkehrung
bestehender sozialer Ordnungen erlebbar.
Rituale
sind im Blickwinkel Turners performative soziale Wunschmaschinen,
indem sie das Obligatorische ins Desiderate konvertieren, um dadurch
das Desiderate zum Obligatorischen werden zu lassen.71
1.5.6.
Der Ursprung des Theaters liegt im Ritual – Richard Schechner
Ritual
|
Tradition
|
Theater
|
Wirkung
|
|
Unterhaltung
|
soziale
Repräsentation
|
|
fiktionale
Repräsentation
|
Glaube
|
|
Kritik
|
gemeinschaftlich
|
|
Trennung in
Akteure und Zuschauer
|
.72
Auf
dem Weg vom Ritual zum Theater bewegt sich auch der Theaterregisseur
und Professor für Performance Studies Richard Schechner (geb. 1934).
In
den sechziger Jahren gehört er zu jener Theateropposition, die das
Primat der Sprache über den Körper bestreitet. Parallel dazu
beschäftigte er sich intensiv mit dem antiken Theater. Denn das
griechische Theater war ein wichtiger Teil des sozialen Lebens der
GriechInnen und Schechner war fasziniert von der Inszenierung von
Ritualen und deren Bedeutungen.
Rituale entfalten
sich durch den Vollzug einer Handlung. Diese Handlungen unterliegen
Regeln und sind oftmals auf mehrere HandlungsträgerInnen aufgeteilt.
Sowohl das westliche Theater als auch performative Abläufe aus dem
asiatischen und afrikanischen Raum lassen sich von (zumeist
religiösen) Ritualen ableiten.
Auch
wenn Theater Ritual ist und Ritual Theater, so gibt es doch klare
Unterschiede zwischen einer Vorstellung im Burgtheater und der
räumlich nicht allzu weit davon entfernten Angelobung einer neuen
Regierung. Denn das Drama wird nach ästhetischen Gesichtspunkten
beurteilt während das Ritual zumindest eine soziale Funktion
erfüllt.73
Schechner ordnet vergleichbar mit einer Skala das Drama unter
„entertainment“ ein und das Ritual unter „efficacy“. Zwischen
diesen beiden Polen gibt es eine Vielzahl an Mischformen.
Und
so ist eine Theaterproduktion zwar zum überwiegenden Teil von der
fiktionalen Repräsentation bestimmt, aber durch Phänomene wie den
„Starkult“ lässt sich auch soziale Repräsentation nachweisen.74
Doch auch die Rituale werden theatraler.
Seit
den 1960er-Jahren lässt sich eine immer stärker werdende
Theatralisierung des öffentlichen und vor allem des politischen
Lebens beobachten. Wenn sich die „Clownarmee“75
am G8-Gipfel engagiert, ist die Trennung zwischen Performance und
Aktion schwierig. Um den medialen Anforderungen zu entsprechen, muss
jedes Ritual zum Event werden, um die entsprechende Veröffentlichung
zu erreichen.
Doch
kein Theater kann gegen eine Greenpeaceaktion ankommen, wenn es
mimetisch und psychologisierend bleibt. Für Schechner bedarf es
einer Re-Ritualisierung des Theaters, um es „zurück ins Leben zu
werfen.“76
Als deutliches Beispiel dafür führt Hehn die vollständige
Integration in eine gesellschaftliche Bewegung von nicht-mimetischen
Gruppen
an, wie dem Bread-and-Puppet Theatre, und nicht zuletzt der
Performance Art, die durch „[…] die Brechung ihrer Figuren auf
ein soziales, oder deutlicher politisches Bewußtsein verweisen.“77
1.6.
Verfremdungseffekte am Körper
Der
Zweck dieser Technik des Verfremdungseffekts war es, dem Zuschauer
eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden
Vorgang zu verleihen. Die Mittel waren künstlerische.78
Bei
Brecht fühlte sich der/die SchauspielerIn nicht in die Rolle, die
Figur ein, sondern war bestrebt, keine Illusion der Wirklichkeit
herzustellen. Vielmehr war er/sie dazu angehalten, dem Publikum zu
zeigen, dass er/sie eine Text zitiere. Dadurch soll der/die
ZuschauerIn aus dem Geschehen herausgehoben werden, um die
Möglichkeit zu haben, über das Dargestellte zu reflektieren.
Brecht forderte ein
analytisches Theater, das zum Nachdenken und Hinterfragen anregen
sollte.
Der/die
SchauspielerIn verkörpert somit auf der Bühne nicht, war aber auf
der Bühne auch nicht Privatperson, die eine soziale Rolle in einem
gruppendynamischen Prozess übernahm.
Brecht
sah im nicht-aristotelischen Theater eine Möglichkeit dem Publikum
mehr zu zeigen, als das illusionistische Theater.
Die
Voraussetzung für die Hervorbringung des V-Effekts ist, daß der
Schauspieler das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des
Zeigens versieht. Die Vorstellung von einer vierten Wand, die fiktiv
die Bühne gegen das Publikum abschließt, wodurch die Illusion
entsteht, der Bühnenvorgang finde in der Wirklichkeit, ohne Publikum
statt, muß natürlich fallen gelassen werden. Prinzipiell ist es für
die Schauspieler unter diesen Umständen möglich, sich direkt an das
Publikum zu wenden.79
Publikum und
SchauspielerInnen sind gleich, aber doch verschieden.
Brecht hat die
Technik des Verfremdungseffekts aus diversen Theatertraditionen
(Mittelalter, Barock, China u.a.) mit neuen Inhalten kombiniert und
dadurch verändert.
„Die
Form einer Aufführung kann nur gut sein, wenn sie die Form des
Inhalts ist, nur schlecht, wenn sie es nicht ist. Sonst kann
überhaupt nichts bewiesen werden.“80
1.6.1.
Das Theater im Bauhaus und der biomechanische Körper auf der Bühne
Anders
als Craig wollte der Bildhauer Oskar Schlemmer81
den/die SchauspielerIn zwar nicht durch Automaten ersetzen, aber er
sah in der Kunstfigur eine Erweiterung des künstlerischen Spektrums.
Die
Kunstfigur ermöglicht jede beliebige Bewegung, jegliche Lage in
beliebiger Zeitdauer, sie erlaubt […] die verschiedenartigen
Größenverhältnisse der Figuren: […] Ein ähnliches sehr
gewichtiges Phänomen bedeutet das In-Beziehung-Setzen des
natürlichen „nackten“ Menschen zur abstrakten Figur, die beide
aus dieser Gegenüberstellung eine Steigerung der Besonderheit ihres
Wesens erfahren. Dem Übersinnlichen wie dem Unsinn, dem Pathetischen
wie dem Komischen eröffnen sich ungekannte Perspektiven. […] In
dieser Perspektive kann es sogar sein, daß das Verhältnis sich
umkehrt: dann ist vom Bildgestalter das optische Phänomen gegeben,
und gesucht ist der Dichter der Wort- und Tonideen, der ihnen die
adäquate Sprache leiht.82
Für
Schlemmer liegt die Bühne zwischen religiösem Kult und naiver
Volksbelustigung und ist „vom Natürlichen abstrahierte
Darstellung“.83
Schlemmer
unterteilt „die Bühne“ weiters in drei Bereiche:
Die
Sprech- und Tonbühne, auf der DichterInnen das Material „Wort und
Ton“ zu einem literarischen und/oder musikalischen Geschehen
verarbeiten.
Die
Spielbühne eines körperlich-mimischen Geschehens, das aus dem
Material der Schauspielerin/des Schauspielers, Stimme, Bewegung,
Gestik entsteht.
Schaubühne
eines optischen Geschehens, für das der/die BildgestalterIn mit dem
Material Form und Farbe verantwortlich ist.
Schlemmer
beschäftigte besonders die Beziehung von Körper und Raum.
Laut
seiner Theorie ist der Mensch ein dualistisches Wesen, einerseits ein
Organismus aus Fleisch und Blut und andererseits Träger von Maß und
Zahlen, der in einen toten abstrakten Raum integrierbar ist. Diese
Annahme hat zwangsläufig Folgen für die (menschliche) Bewegung im
Raum. Schlemmers theoretische Auseinandersetzungen mit den
Beziehungen zwischen Körper und Raum, Licht, Form, Farbe und
Material finden 1922 im „Triadischen Ballett“, einem
Kostümballett ohne Handlung, seine praktische Umsetzung. Der Name
leitet sich vom griechischen Wort „Dreiklang“ ab und entspricht
der dreifachen Ordnung, die den einzelnen Tanzstücken zugrunde
gelegt wurde.
Die
choreographischen Elemente Kostüm – Bewegung – Musik, die
physikalischen Elemente Raum – Form – Farbe und die drei
geometrischen Grundformen
Kreis
– Quadrat – Dreieck werden gestalterisch in zwölf Tänzen
umgesetzt.
Eine
Tänzerin und zwei Tänzer tanzen in insgesamt achtzehn verschiedenen
Kostümen das Ballett, das wiederum in drei Bereiche unterteilt ist.84
Ein Tagebucheintrag
Schlemmers aus dem September 1922:
[...]
Das Triadische Ballett, das mit dem Heiteren kokettiert, ohne der
Groteske zu verfallen, das Konventionelle streift, ohne mit dessen
Niederungen zu buhlen, zuletzt Entmaterialisierung der Körper
erstrebt, ohne sich okkultisch zu sanieren, soll die Anfänge zeigen,
daraus sich ein deutsches Ballett entwickeln könnte, das in Stil und
Eigenart so verankert wäre, um sich gegenüber vielleicht
bewundernswerten, doch wesensfremden Analogien zu behaupten
(schwedisches, russisches Ballett).85
Das „Triadische
Ballett“ ist der Versuch einer vollständigen Präsentation aller
gestalterischen Möglichkeiten, die einem bildenden Künstler/einer
bildenden Künstlerin zur Verfügung stehen. Die einfache, klare
Gestaltung entsprach der Formensprache Schlemmers, die sich in den
geometrischen Formen in seinen Bildern wieder findet. Schlemmer
abstrahierte den menschlichen Körper und akzentuiert überhöht
dessen Geometrie. Die Ausarbeitung der choreographischen Strukturen
war autodidaktisch.
„Die
Mittel jeder Kunst sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das
Erkennen und Bekennen ihrer Mittel.“86
1.6.2.
Biomechanik
Auch
Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874–1940)
setzte sich in seiner „Biomechanik“
schauspieltechnisch mit dem Körper auf der Bühne auseinander und
schuf damit eine radikale antirealistische Bühnenkunst.
Doch
im Gegensatz zu Craig, für den der SchauspielerInnenkörper als eine
unberechenbare und unzulängliche Größe galt, sah Meyerhold im
Körper auf der Bühne ein formbares und kontrollierbares Material,
mit dem der/die SchauspielerIn arbeitet.87
Um
diese Kontrolle zu erlangen, trainierte Meyerhold mittels der
Biomechanik körperliche Bewegungsstrukturen, die es dem/der
SchauspielerIn, die es ermöglichen, psychophysische Muster zu
verinnerlichen. Meyerhold ging davon aus, dass das innere psychische
Moment vom äußeren physiologischen abzuleiten ist.
Die
Biomechanik besteht aus ungefähr zweiundvierzig Übungen88,
die im ersten Schritt Bewegungsabläufe zerlegen, um sie im zweiten
Schritt bewusst wieder zusammen zu setzen. Meyerhold ging ästhetisch
vom Totalitätsprinzip aus. Dabei re-agiert der Körper als Ganzes.
Der Körper als Ausgangspunkt jeder Darstellung ist von Spannung und
Entspannung sowie von Rhythmus und Dynamik bestimmt und steht mit dem
Bühnenraum in Beziehung. Die Arbeit am Körper bzw. des Körper
erfolgt von außen nach innen.
Ziel
ist es, in der Darstellung möglichst starke Plastizität
herauszuarbeiten. Denn nach Meyerhold muss sich der Körper auf der
Bühne organischer, aber auch kontrollierter und ausdrucksvoller als
im Alltag bewegen, um einen Zustand der Erregung zu erreichen, der
sich von der Bühne auf das Publikum überträgt. Er forderte ein
hohes Maß an Expressivität von den DarstellerInnen.
Meyerhold
hat mit seiner Biomechanik die Überlegungen Stanislawskis zu
physischen Handlungen aufgegriffen. Allerdings wollte das ehemalige
Ensemblemitglied89
des Moskauer Künstlertheaters das mimetische Konzept überwinden und
eine neue Kunstrealität schaffen.
Meyerhold strebte
wie eine Reihe anderer Theatermacher seiner Zeit nicht mehr die
Reproduktion bzw. Repräsentation bürgerlicher Subjektmodelle an,
sondern stellte vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen
Veränderungen die Konstruktion eines „korrespondierenden Menschen“
ins Zentrum seiner Überlegungen. Das führte auch zu einer
veränderten Sicht auf die Körperlichkeit der DarstellerInnen, die
nicht mehr InterpretInnen eines AutorInnentextes sind, sondern
VorführerInnen realer Handlungen. Dabei stand der schöpferische
Moment im Vordergrund. Nicht jede „schöne“ Bewegung musste auch
psychologisch motiviert sein.
Auch
wenn Meyerhold ein gestalterisches Gesamtkunstwerk anstrebte, das
auch die Malerei und die Musik einschloss, musste das Bühnenbild im
wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund treten und durch
Schlichtheit und Einfachheit die Wirkung des darstellenden Körpers
im Raum unterstützen. Denn nur durch einen entsprechenden Freiraum
könne der/die SchauspielerIn die eigene schöpferische Kraft
entfalten.90
Im Gegensatz
beispielsweise zum System Stanislawskis hat die völlige
Identifikation des Schauspielers/der Schauspielerin für Meyerhold
keine Bedeutung.
„Bei
der Interpretation von Figuren ist die Schärfe der Umrisse nicht
obligatorisch für die Klarheit der Gestalt. Die Skizzen großer
Meister wirken oft mehr als ihre ausgemalten Bilder.“91
Durch seine Betonung
der Bewegung und des Rhythmus´ rückte Meyerhold in die Nähe des
Tanzes und des statuarischen Prinzips des symbolistischen Theaters.
Auch die Sprache wurde rhythmisiert und sollte durch die Musik
unterstützt werden.
Um
neben dem Schauspiel, der Regie und der Literatur auch das Publikum
in den schöpferischen Akt aktiv miteinzubeziehen, veränderte
Meyerhold auch den Theaterraum. Nachdem er zuerst den Bühnenraum
verkürzte, um das Spiel näher an die Rampe zu bringen, senkte er
später die Rampe ganz auf die Höhe des Parterres ab. Ziel war der
„Abriss“ der vierten Wand. Trotzdem darf der Zuschauer/die
Zuschauerin niemals vergessen, dass er/sie im Theater sitzt und eine
künstlerische Darbietung betrachtet. Wichtige Einflüsse für
Meyerhold waren das japanische Theater, das antike Theater, der Tanz
und die Comedia dell´Arte.
1.6.3.
Die psychologisierte Darstellung – Stanislawskis virtueller Körper
auf der Bühne
Bei
der Gründung des Moskauer Künstlertheaters im Jahr 1898 stand
Stanislawski unter der damals vorherrschenden
empirisch-wissenschaftlichen Sicht auf die Welt und war dem
Naturalismus verpflichtet. Ziel war die konsequente Reproduktion von
Lebenswirklichkeit auf und teilweise sogar hinter der Bühne.92
Darin sah er den Weg zur wirklichen künstlerischen Wahrheit.
Das
Theater, das sich im Umkreis dieser Ideologie und unter der
Trägerschaft des russischen Großbürgertums ausbildete, trat
dementsprechend mit dem Programm auf die Theaterkunst auf die Höhe
der als wissenschaftliches
Zeitalter empfundenen
Gegenwart zu
bringen. In diesem Kontext entwickelte sich das theoretische Konzept
von Stanislawaskis Theaterarbeit dieser Anfangsphase.93
Stanislawski
lernte vom Theater der Meininger im Theaterspielen den Zweck zu
sehen, ein Drama zum Gesamtkunstwerk zu machen.94
Auch die Aufgabe des Regisseurs sah Stanislawski nach dem Gastspiel
erweitert und vor allem verantwortungsvoller. Doch im Laufe seiner
eigenen Arbeit als Regisseur entdeckte er eine weitere wichtige
Aufgabe eines Regisseurs: Die Arbeit des Schauspielers/der
Schauspielerin an der Rolle zu begleiten. Stanislawski forderte auf
der Bühne echtes Empfinden, einen „seelischen Realismus“. So war
sein Ziel nicht mehr nur die Echtheit der äußerlichen dramatischen
Umsetzung, sondern auch die das authentische Empfinden des
Darstellers/der Darstellerin in der Rolle.
Im
Zuge seiner Regiearbeit am Stück „Die Möwe“95
begann Stanislawski mit seiner Auseinandersetzung mit der Psychologie
der Rolle und der psychophysiologischen Arbeit des Schauspielers/der
Schauspielerin an der Rolle.96
Das so genannte
System und seine Theorie des „emotionalen Gedächtnisses“
entstanden.
Die
Technik des emotionalen Gedächtnisses ermöglicht dem/der
SchauspielerIn die Identifikation mit unterschiedlichsten
Bühnencharakteren und Ausdrucksformen. Um dieses Gedächtnis zu
trainieren, werden Erfahrungen aus der individuellen Vergangenheit
des Darstellers/der Darstellerin in Erinnerung gerufen. Denn
Stanislawski ging davon aus, dass die Einfühlung über körperliche
„Begleiterscheinungen“ leichter zu bewerkstelligen sei. Aus den
persönlichen Erfahrungen, dem Vorstellungsvermögen bzw. aus dem
konstruierten Umfeld der literarischen Figur ergibt sich so ein
reicher Fundus an Ausdruckmöglichkeiten. Stanislawski löst damit
die Darstellungskunst von der zufälligen Inspiration. Denn das
Einübungen emotionaler Zustände über körperliche Symptome während
der Probe, erlaubte es, die Interpretation an konkrete
Handlungsanweisungen zu knüpfen und sie somit leichter zu
reproduzieren.
Stanislawski
veränderte mit den Jahren seinen Stil vom Naturalismus hin zum
Symbolismus. Besonders sichtbar wurde diese Veränderung in seiner
Inszenierung von Maurice Maeterlincks „Der blaue Vogel“ am
Moskauer Künstlertheater 1908.97
Statt
naturgetreuen Nachbildungen bis ins kleinste Detail bevorzugt
Stanislawski nun skizzierte Bühnenmalerei und neutrale Stoffe. Ganz
verzichtete er aber auch in dieser Zeit nicht auf einen Reichtum an
szenisch-dekorativen Mitteln und Bühnentechnik. Auch die
psychologische Arbeit an der Rolle als Hilfe zur Identifikation mit
dem Charakter verliert nicht an Bedeutung. Der Einsatz von Musik
vervollständigt das Gesamtkunstwerk Stanislawskis.
Wie
einfach und talentvoll stellen Kinder Wolken, Natur, Bauten und die
Gegenstände dar, die sie umgeben! […] Die Bühnenbildner müssen
naiv, einfach, leicht und überraschend sein wie die kindliche
Phantasie. Theatralisches eignet sich am allerwenigsten dafür.98
1.6.4.
Körperliche Erfahrungen
Jerzy
Grotowski (1933–1999)99
setzte mit seiner Forschung zur physischen Handlung die Arbeit
Stanislawskis fort. Er unterscheidet zwischen „sinnlosen“
Tätigkeiten, Bewegungen und Gesten und „sinnhaften“ Handlungen.
Eine Handlung ist motiviert.
Tätigkeiten sind es
nur dann, wenn sie einem Zweck dienen oder einer inneren Absicht
folgen.
Im Unterschied zu
Stanislawski arbeitet Grotowski nicht mit Möglichkeiten, sondern mit
vergangenen Erfahrungen der SchauspielerInnen.
Im Gegensatz zu
Stanislawski geht es bei Grotowski nicht um das emotionale
Gedächtnis, sondern um eine Rückbesinnung auf eine frühere
Körperlichkeit.
Auf
diesen Erfahrungen baut die Struktur der darzustellenden Charaktere
auf und aus den dazu gehörigen physischen Handlungen setzt sich der
Charakter zusammen.
Die Darstellung ist
davon geprägt, die innere Notwendigkeit eben gerade dieser
Handlungen zu erleben.
Während
Stanislawski physische Handlungen aus dem jeweiligen sozialen Gefüge
verwendet, arbeitet Grotowski mit Handlungen, die elementarer sind
und einer Suche nach metaphysischen Phänomenen gleichen.100
1.6.5.
Der entstellte Körper
Der
Schauspieler, Regisseur und Lyriker Antonin Artaud (1896–1948)
lehnte radikal die bisher überlieferten Theatertraditionen und deren
Auffassungen über Raum, Zeit und Psychologie ab. Er propagierte das
Ideal eines Theaters der Grausamkeit, erschaffen aus Mangel und
Krisen. Er wertet die Inszenierung gegenüber dem Text auf, der so
gemeinsam mit dem sprachlichen und dem körperlichen Ausdruck keine
suggestive Einheit mehr bildet. Der Text folgt keinen diskursiven
sprachlichen Zusammenhängen, wird fragmentiert und so zur Rebellion
gegen die traditionelle westliche Inszenierungspraxis. Der Körper
auf dem Theater der Grausamkeit ist stark beeinflusst vom
balinesischen Theater. Theater wird für Artaud zur Religion, die
sich über die unmittelbare Körperlichkeit ausdrückt. Verbindendes
körperliches Element zwischen Bühnen und Publikum war dabei der
Atem.101
1.7. Der
mediatisierte Körper versus der Körper als Medium
Martina Leeker
unterscheidet in ihrem Aufsatz den mediatisierten Körper vom Körper
als Medium. Während der mediatisierte Körper zu einer
unhintergehbaren Ankoppelung gleich einem Interface des menschlichen
Körpers an die Technik wird, steht der Körper als Medium für eine
besondere Form der Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und
der Technik.
Diese
Differenzierung zwischen dem mediatisierten Körper und dem Körper
als Medium ist im abendländischen Denken laut Leeker nicht
etabliert.
Bereits Platon
verwendet den Begriff Medium für den Körper, dessen Verlässlichkeit
bezüglich des Zugangs zur Wirklichkeit nur durch die Reinigung
mittels Kulturpraktiken gewährleistet ist.102
Geht man aber davon
aus,
[…]
daß der Körper in seiner naturgegebenen Verfaßtheit kein Medium
ist, sondern die zunächst gegebene, unhintergehbare Grundlage
unserer Wahrnehmungstätigkeit und Erkenntnisfähigkeit. Wir können
Wirklichkeit eben nur im Rahmen unserer biologischen und medialen
Möglichkeiten wahrnehmen: oder konstruieren. Das heißt, dieser
Körper, der erst mittels der Überformungen durch Medien seine
endgültige Prägung erhält, und nicht etwa eine jenseits des
Körpers liegenden Wirklichkeit oder ein vom Körper getrennter
Geist, bildet unsere Wirklichkeit.103
Der erste Schritt,
um den Körper zum Medium zu machen, ist die Fähigkeit des Menschen,
Distanz zu sich selbst einzunehmen. Dadurch ist auch der Weg für die
Mediatisierung bereitet und der Körper wird zur Schnittstellen zu
anderen benutzten Medien. Diese Abständigkeit schafft die Grundlagen
für den Menschen, Hilfsmittel und Medien bilden zu können, die im
Umgang mit ihnen wiederum auf den Körper zurückwirken.
Der Weg vom
mediatisierten Körper zum Körper als Medium verläuft über die
Erweiterung des lebendigen Leibes. Dabei muss ein Teil des Organismus
abgespalten werden, um dem Individuum die Möglichkeit zu geben, sich
selbst beim Mediengebrauch beobachten zu können. „Man weiß nichts
über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern
bereitstellen.“104
Der zeitgenössische
Körper ist allerdings vor allem ein mediatisierter und im Alltag
weniger auf seine Unmittelbarkeit ausgerichtet.
„Lediglich“ in
der (darstellenden) Kunst wird der Körper zum Medium. Martina Leeker
sieht drei Kriterien, die den Körper auf der Bühne zum Medium
machen:
Die Spaltung der
Darstellerin/des Darstellers in ein Subjekt und ein Objekt, in ein
Ich und ein Nicht-Ich, die Darstellung.
Daraus ergibt sich
die Unterscheidung zwischen der Materialität des Körpers, dem Leib
und dem Körper als Zeichen, also dem inszenierten Körper.
Schlussendlich
bedarf es eines beobachtenden Publikums, um den Körper als Medium
herzustellen. Die Kontrolle über die Darstellung festigt die
Trennung zwischen Subjekt und Objekt nochmals. Der Körper als Medium
auf der Bühne suggeriert die Möglichkeit, durch eine
kontrollierbare und wiederholbare Technik eine selbstbestimmte
Abständigkeit erlangen zu können. An die Macht, den Körper
(jederzeit) zum Medium machen zu können und ihn beherrschen und
kontrollieren zu können, ist auch die Fähigkeit geknüpft, die
Mediatisierung des Körpers ablegen zu können.
Der
Körper als Maschine ist beherrschbarer und immer noch
„unmittelbarer“ als ein durch andere Medien zugerichteter Körper.
In diesem Sinn wirkt das Theater als Veräußerung der Veräußerung,
d.h. als Entledigung des Anschlusses an die jenseits des Theaters
stattfindenden Veräußerungen in Medien.105
Durch die theatralen
Techniken entsteht die Skizze eines „anderen Körpers“, frei von
Zeichen oder absolutes Zeichen. Ein „Port“ zu einer anderen
Bewusstseins- und Daseinsstufe.
Doch je
vollständiger die Kontrolle über die Mediatisierung und je größer
die Unmittelbarkeit durch den Körper als Medium, umso enger ist die
Anbindung an andere Medien. Der Körper als Medium selbst ist der
höchste Grad der Mediatisierung.
So nimmt das Theater
seit jeher eine ambivalente Haltung ein. Einerseits durch seine
Anpassung an Medien, andererseits durch die Reflexion gerade dieser
Beziehung.
In der historischen
Betrachtung beginnt Leeker mit der attischen Tragödie, die die
Auswirkungen des Übergangs von einer oralen zu einer literarisierten
Kultur im wahrsten Sinne des Wortes darstellte und einübte. Die
Schrift als neue Kommunikationstechnologie verändert das
Gesellschaftsgefüge und machte bestehende Modelle erklärbar,
befragbar und nicht zuletzt dadurch kritisierbar.
Der
Einzelne ist nicht länger integraler Bestandteil der Gemeinschaft,
sondern er tritt aus ihr heraus, stellt sich zweifelnd und ängstlich
gegen die Welt. Es scheint sogar so, als sei das Tragische der
antiken Helden insofern von der Mediatisierung des Körpers durch die
Schrift bestimmt, als daß gerade der Zwang, als Einzelner aus sich
und der sozialen Gemeinschaft herauszutreten und als Individuum zu
handeln, Ursprung des Tragischen ist.106
Diese
„Individualisierung“ findet ihre passende Ausdrucksform in der
attischen Tragödie. Das Theater generiert mit der Schrift einerseits
die notwendige Distanz zum Reflektieren und andererseits eine
Kontrolle der Mediatisierung des Körpers.
„Die Reflexivität
des Theaters entspricht seinen technischen Verfahrensweisen.“107
Nun übernimmt der
tragische Held/die tragische Heldin auf der Bühne stellvertretend
den Schmerz und schafft für das Publikum so eine ästhetische
Distanz, die die Erfahrung erkennbar und dadurch reflektierbar
macht.108
Folgt man der
Theorie von Marshall McLuhan („Understanding Media“), ist die
menschliche Kulturgeschichte eine Geschichte der sich stets ändernden
Wahrnehmungen.109
Der jeweilige Stand der technischen Entwicklung bestimmt unsere
Wahrnehmung. So verändert sich durch die Digitalisierung auch der
Wahrnehmungsraum des Körpers. Ästhetische Formate wie zum Beispiel
die Videoclips auf MTV heben die bisherige handlungsorientierte
Erzählstruktur zugunsten einer Bilderflut vom mediatisierten Körper
auf. Eine Geschichte und ihre gesellschaftliche Referenz gehen daher
verloren.
Für den lebenden
Körper gibt es in dieser Technoästhetik keinen Platz. Den Platz zum
Präsentieren findet der Körper nun im Theater, das weit mehr
Wirklichkeit repräsentiert.
Das Theater wird zum
Erfüllungsgehilfen der Schrift, deren Auswirkungen sich nach Leeker
auf zwei Ebenen vollziehen: Der psychischen und der kognitiven Ebene.
Auf der psychischen
Ebene verändert die Schrift über das Theater die Haltung gegenüber
der Welt. Das Theater fungiert als „Trainingsmaschine“, die auf
Grund ihrer technischen Gegebenheiten die psychische Struktur der
Subjektwerdung durch die Trennung zwischen HandlungsträgerInnen und
RezipientInnen ermöglicht.
Ein Muster entsteht,
das das Andere und damit die Subjektwerdung festigt.
Verstärkt wird
dieses Muster durch die Struktur der Tragödie: Die Charaktere
handeln nicht. Sie beklagen ihr Schicksal in Monologen. Der/die
Einzelne wird dadurch aus der Gemeinschaft heraus gelöst und ihr als
Beispiel gegenüber gestellt.
„Das Theater
verstärkte die kognitiven, emotionalen und sensorischen Auswirkungen
der Alphabetisierung […]“110
Die Narration wird
in eine kausale Ordnung gebracht. Sinnliche Daten werden abstrahiert
und in einen Bedeutungskontext gesetzt. Der stumme innere Monolog
entsteht.
Das Publikum nimmt
nicht mehr aktiv an Handlung teil, sondern bildet sich eine Meinung
über die ihm vorgelegten Handlungsmodelle.
Dieser
Mediatisierung des Körpers widersetzt sich der antike Darsteller
durch den Einsatz seines Körpers als Gegenpol zum Text. Der Körper
erscheint vieldeutiger. So bilden die Zeichen ihre eigenen
Wirklichkeiten, die der Wirklichkeit des Körpers entgegensteht.
Lediglich über diese körperliche Wirklichkeit ist ein Zugang zum
verlorenen oralen Bezug möglich. So garantiert das Blenden Ödipus
scheinbar den Anschluss an die oralen Ordnungen. „Damit wird die
Hoffnung und Illusion des Nichtdarstellbaren und Unmittelbaren
hervorgebracht. Es wird suggeriert, der Körper sei mehr als die
Zeichen, die Medien, die er benutzt.“111
Den Körper als
Medium und seine Heilung von der Mediatisierung findet seinen Anfang
im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Gesamtkunstwerk Richard
Wagners,
der das Publikum
ähnlich einer Feedbackschleife direkt an seine Musik anschließt.
Auf einem relativ
niedrigen technischen Level beginnt das Zeitalter der technischen
Simulation.
Im
Gegensatz zu der im Duktus der Schrift entwickelten
Repräsentationsformen, die zum Generator symbolischer Ordnungen
wurden, kommt es nunmehr zu unmittelbarer Kommunikation von Gehirn zu
Gehirn, von Nerv zu Nerv, von Muskel zu Muskel;112
und nicht zuletzt
zwischen Mensch und Maschine.
Dieser Wandel hatte
massive Auswirkungen auf die Kommunikation der Menschen und nicht
zuletzt auf die verwendeten Zeichen und Medien. Der Status der
Zeichen, wie sie aus dem Schriftdenken entstanden sind, ändert sich
durch die Möglichkeit der technischen/digitalen Medien zur
unmittelbaren Kommunikation. Das Zeichen ist nun Signal und nicht
länger Bedeutungsträger. Es transportiert Befehle und dient der
Information in einer selbstreferenziellen Feedbackschleife. Am Ende
dieses Datenstranges steht ein konstruierter Körper, der mittels
passender Software reguliert werden kann.
Diese technischen
Möglichkeiten einer unmittelbaren Kommunikation verändern die Sicht
des Menschen auf die Welt.
Er
wird real-physisch sowie in seinem Selbstbild wieder ein Teil von
ihr, untrennbar mit der Welt verbunden. Der Verlust des Körpers, der
seit Mitte des 20. Jahrhunderts beklagt wird, geht auf diese
Reintegration zurück. Der Schriftkörper, der sich aus der Distanz
zur Umwelt konstituierte, geht insofern verloren, als er sich nun als
informationsver-arbeitendes Erregungsmuster in die Umwelt hinein
auflöst. Ohne klare Begrenzung existiert der Körper als Einheit
nicht mehr.113
Daraus
folgert Leeker, dass die digitalen Medien unsere Beziehung zur
Wirklichkeit verändern und uns Unmittelbarkeit bringen.
Extreme
Beispiele dieser technischen Unmittelbarkeit sind die Arbeiten der
KünstlerInnen Stelarc114
und Orlan115,
die den Übergang reproduzieren und sozialisieren.
Die
digitalen Medien schließen uns wieder an die taktile, d.h. die
neuronal-sensorische Ebene unseres Körpers an, die uns nach den
langen Zeiten der Vorherrschaft einer von der Schrift mediatisierten
Existenz diffus, unspürbar und immateriell erscheinen muss.
In dieser Sicht
entspricht unser Empfinden vom Verlust des Körpers und der
Wirklichkeit dem Verlust der Kontrolle über den Körper und die
Wirklichkeit.
Ein
Paradigmenwechsel hat stattgefunden. Im Schrifttheater wurde mittels
theatraler Distanz dem Menschen Kontrolle über seinen Körper
vorgeführt, als exemplarisches Ebenbild der distanzierten Haltung
zur Welt, einer Art Schriftexistenz. Die Heilung von dieser
Mediatisierung wurde in der Illusion eines unmittelbar an orale
Kontexte angeschlossenen Körper entworfen.
Im
Theater des 20. Jahrhunderts kehren sich die Verhältnisse von
Mediatisierung und Medialität des Körpers um: Nun gilt die Distanz
als Heilsversprechen und wird der unmittelbaren Beteiligung von
DarstellerInnen und ZuschauerInnen gegenüber gestellt.