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Matr.Nr.: 9402298 – Email:

Inhaltsverzeichnis - ARBEITSFASSUNG



1. Körperkonzepte 2

1.1. Leib versus Körper 6

1.2. Leib-Seele-Problem 8

1.3. „Der Körper“ als Teil des Ganzen: der Mensch 13

1.4. Die Dramatisierung des Körpers 15

1.5. Verkörperung 16

1.5.1. Turner, Schechner, Brecht 22

1.5.2. Schlemmer, Meyerhold 22

1.5.3. Stanislawski, Strasberg, Moreno 22

1.5.4. Artaud, Grotowski 22

1.5.5. Das soziale Drama des Victor Turner 22

1.5.6. Der Ursprung des Theaters liegt im Ritual – Richard Schechner 24

1.6. Verfremdungseffekte am Körper 26

1.6.1. Das Theater im Bauhaus und der biomechanische Körper auf der Bühne 26

1.6.2. Biomechanik 28

1.6.3. Die psychologisierte Darstellung – Stanislawskis virtueller Körper auf der Bühne 30

1.6.4. Körperliche Erfahrungen 31

1.6.5. Der entstellte Körper 32

1.7. Der mediatisierte Körper versus der Körper als Medium 33







Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare.

(Christian Morgenstern)


1. Körperkonzepte

Körper (lat. „corpus“): allgemein sinnlich-wahrnehmbarer Gegenstand (meist auch ausgedehnt und räumlich lokalisierbar). […] Platon unterscheidet zwischen der Welt der nicht-körperlichen Ideen und der Welt der Einzeldinge, die einen körperlichen Charakter haben. Die Einzeldinge sind im Unterschied zu den Ideen materiell, ausgedehnt und vergänglich. Nach Aristoteles ist ein Körper materieller Gegenstand, dem eine Form inhärent ist. […] Bei Descartes ist die Ausdehnung das Hauptmerkmal des Körpers. Er unterscheidet zwischen der ausgedehnten Substanz (res extensa), dem Körper, und der denkenden Substanz, dem Geist bzw. reinen Denken (res cogitans). […] Im Laufe der Philosophiegeschichte wurde Körper als (menschlicher) Leib aufgefaßt, der dem Geist bzw. der Seele entgegengesetzt ist. In diesem Zusammenhang entsteht (besonders seit Descartes) das so genannte Leib-Seele-Problem.1


Im Alltag ist die Einheit zwischen Körper und Geist durch Sinneswahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühlen und Bedürfnissen eine Selbstverständlichkeit. Obwohl oftmals die Wahrnehmungen des Körpers erst durch gezielte Sensibilisierung2 neben dem Schmerz erfahrbar gemacht werden müssen, ist unser Erleben ohne unseren Körper nicht möglich.

Erst das Echo des Körpers auf (starke) Gefühle ermöglicht eine „Kategorisierung“. Die körperlichen Symptome unserer Emotionen spiegeln sich in einer Vielzahl sprachlicher Ausdrücke wider.

Bei Angst schnürt es uns den Hals zu, bei Freude geht das Herz auf, Ärger schlägt uns auf den Magen und wenn wir verliebt sind, flattern Schmetterlinge im Bauch.


Bis ins 19. Jahrhundert hinein war „der“ Körper für sich allein kaum ein philosophischer Untersuchungsgegenstand. In der christlichen Tradition gilt er als marginal, wird abgewertet und als physikalisch-mechanisches Präparat den Naturwissenschaften überlassen.

Aber das grundsätzliche Interesse am Körper im Detail ist nicht so neu.

Seit jeher sind Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, Schönheit und Hässlichkeit wichtige Themen.

Auch die Verbindungen und mögliche Wechselwirkungen zwischen Körper/Leib und Seele beschäftigen die Menschen bereits in frühen Kulturen. Archäologische Funde von Begräbnisritualen geben davon Zeugnis.

Und so wurde schon früh über den manipulierten Körper theologisiert, philosophiert, experimentiert und gedichtet.

Das Problem der Transzendenz lösten „Menschenfressende“ Kulturen in der Praxis anders als das Christentum (Eucharistie), doch gemeinsam war ihnen der Glaube, durch die orale Aufnahme des Leibes des Verstorbenen die Kraft oder Qualitäten eines Toten in sich aufzunehmen. Wiedergeburt im eigenen oder fremden Körper ist in den meisten Religionen ein zentrales Anliegen. Körperallegorien finden sich in Religion, Wirtschaft, Politik und Kunst gleichermaßen und können Auskunft über Gesellschaftsmodelle geben.3


Beginnend mit der Aufklärung gewinnt der Körper an Bedeutung, die durch die Moderne im 19. und 20. Jahrhundert weiter verstärkt wurde.

Das bürgerliche Postulat der „AufklärerInnen“, den Körper durch Bildung zur bürgerlichen Repräsentanz von Gleichheit, Unabhängigkeit, Nützlichkeit und damit zur Demokratie zu machen, ist überholt.

Heute gilt der Körper als Kennzeichen für soziale, psychische und physische Unterschiede und damit als Statussymbol.

Mit wachsender Bedeutung entstand ein Kult rund um den Körper, der immer enger an den Begriff der Identität geknüpft wird.

Gleichzeitig steigt auch Zahl der Theorien und wissenschaftlichen Zugänge zum Körper.

Und fast alle dieser Theorien scheinen dazu angetan, den Körper aufzulösen.

Beginnend mit Descartes trennt der Dualismus den Leib vom Geist, der nunmehr als alleiniger Sitz des Selbstbewusstseins gilt. Von Kant haben wir gelernt, dass die Wahrnehmung des Körpers von der transzendentalen Synthesis4 abhängt.

[…] mit Foucault den Körper zu einer Relaisstation der Disziplinen; mit Lacan die Identität als Fiktion und als abhängig vom Imaginären erwiesen; wir haben gelernt, Gender und Sex zu trennen, und dann mit Butler auch den Sex als eine Gender-Variante erkannt. Und die radikalen Konstruktivisten haben uns gesagt, daß die „Kognition“ unabhängig von der Außenwelt ausschließlich nach ihren eigenen Regeln verfährt.5


Und Ernst Bloch schreibt zu Beginn seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“:

Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“6

Helmut Plessner formulierte Jahrzehnte früher die conditio humana: Leibsein und Körperhaben.7 Beide, Plessner und Bloch wenden sich mit einer einfachen Sprache einer komplexen Diskussion um den zur Selbstverständlichkeit hin verbrauchten Unterschied zwischen Körper und Geist zu, der zwar immer schon diskutiert wurde, aber seit Descartes bis hinein ins 20. Jahrhundert auf der Anthropologie lastete.

Der Körper“ gilt nicht als natürlich oder ursprünglich, sondern muss als lebendiges Produkt der Evolution und der Geschichte gesehen werden.

Dem folgend stehen die historischen Human- und Sozialwissenschaften, vor allem die historische Anthropologie, vor den Naturwissenschaften und auch vor einer naturwissenschaftlichen Variante der Anthropologie.

Während einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne hat(te) die Zivilisation einen verheerenden Einfluss auf den Körper und macht ihn zum Prothesenkörper, der im Namen der Emanzipation zugerichtet und unterdrückt werden muss. Denn zivilisatorisch ist der Körper eine Fehlkonstruktion, ein nicht integrierbarer Rest(müll), der der theologischen und technologischen Vergeistigung im Wege steht.

Als die fundamentalsten Schwächen des Körpers gelten die beiden Tabuthemen Sexualität und Tod. Die Transformation des Körpers in das Bild und damit von der Vergänglichkeit in die Ewigkeit war die zivilisatorischen Methode, mittels Verdrängen und Vergessen den Umgang mit dem Körper zu „pflegen“.

Doch der Jahrhunderte lang eingeschränkte Zugang zum „Abbild“ ist nun prinzipiell jeder/jedem offen und die Differenz von körperlicher Realität und Körperbild entfällt.

Nun gibt es nur noch Bilder für die Ewigkeit.

Bilder sind Denkmäler gewesenen Lebens. Mit einem Wort: Sie sind tot.“8

In der Folge basiert die Auseinandersetzung der historischen Anthropologie auf dem zerstückelten Körper, und die Kategorie des Schmerzes ist unabdingbar.

Der Versuch der WissenschafterInnen „ihrem“ Körper zu Leibe zu rücken, entfremdete den Körper bis zum Äußersten. So wurde der Körper mit dem Skalpell zerlegt, unter das Mikroskop gelegt, das Gesehene beschrieben, taxonomiert und abgebildet. Der künstlerische Ausdruck dafür waren der Realismus der bildenden und darstellenden Künste.

Es entstand und entsteht eine Fülle an Wissen über den Körper in seiner materialen, medizinischen, biologischen und genetischen Dimension. In Korrespondenz dazu ist die Menge an Einschränkungen, Deformationen und Abwertungen von körperlichen Erfahrungen. Auch über das Bewusstsein, die Kognition, das Mentale, den Geist und die Seele gibt es eine vergleichbare Fülle an Erkenntnissen.

Vielleicht herrscht gerade deshalb immer noch Unklarheit über das Beziehungsgeflecht zwischen Körper, Geist und (Sozial)ökologie.

Und der Körperbegriff entzieht sich weiterhin klar begrenzbaren Definitionen.

Aber um das Was des Körpers geht es seit dem mechanistischen Paradigma Descartes´ und seiner Trennung zwischen Materie und Geist schon lange nicht mehr: Wesentlicher ist viel mehr Wie der Körper funktioniert. Die Orientierung am Körper als Physis folgt eine sehr strikte Trennung zwischen exoterischem Wissen, das den Körper als komplexe, nicht triviale, perfektionierte oder substituierte historische Maschine sieht und dem esoterischem Wissen um den Körper, das zum Beispiel in der fernöstlichen Tradition davon ausgeht, dass der Mensch zumindest aus sieben Körpern besteht.9

All diesen Wissenstraditionen und Vokabularien gemeinsam ist die Unmöglichkeit einer validen Körperbegriffsfassung.

Um sich dennoch einer Begrifflichkeit des Körpers annähern zu können, werden in der Regel in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Begriffe einander gegenübergestellt.

Wie zum Beispiel Leib vs. Körper, Wissen vs. Körper, Leben vs. Körper und Geist vs.

Körper.10

Körpergeschichte kann daher niemals Erfahrungsgeschichte sein, sondern ist immer (nur) Diskursgeschichte. Denn die Richtlinien der jeweiligen Denkrichtung bestimmen die Fragestellung und damit den Erkenntnisgewinn.11


1.1. Leib versus Körper

Der reine leidensfreie Geist befaßt/
Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch/
Sich keines Dings und seiner nicht bewußt/

Für ihn ist keine Welt denn außer ihm/
Ist nichts. – Doch, was ich sag’, ist nur Gedanke./

Nun fühlen wir die Schranken unseres Wesens/

Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig/

Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist/

Zum ungetrübten Aether sich zurück.12


Leib ist semantisch gefasst Raum, unmittelbare phänomenologische Erfahrung.

Der Körper ist objektivierter Gegenstand zivilisatorischer und epistemischer Zurichtung.13 Die Sinnhaftigkeit einer solchen Begrifflichkeit ist laut Lorenz nicht für alle Sprachen gleich gegeben.


Etymologisch hat eine Bedeutungsverschiebung zwischen den Begriffen Leib und Körper stattgefunden, die sich zueinander konträr verhalten.

Während der Leib bis in die mittelhochdeutsche Zeit gleichbedeutend mit Leben war, später dann auf das Persönliche (siehe zum Beispiel „Leibarzt“, „Leibgericht“) reduziert wurde und sich adjektivisch anderen Begriffen unterordnete, wurde aus „dem Körper“ als Synonym für Leiche immer mehr ein Begriff für Einheiten die ohne Leib, körperlos sind.14

Die Bedeutung der Gesamtheit vor allem im Sinne eines abstrakten sozialen Inhaltes etablierte sich im 16. Jahrhundert als naturwissenschaftliches Vokabel.15

So wurde der Leib körperlicher und der Körper mehr und mehr zum „nam“, der Endung von Leichnam, zur Hülle.

Durch den christlichen Reliquienkult, die Ärztekunst einerseits und die zunehmende gesellschaftliche Notwendigkeit der Repräsentation anderseits wurde diese Verschiebung begünstigt.

Wenn man will, kann man in der 1529 in Marburg stattfindenden Debatte zwischen Luther und Zwingli über die Frage, ob der Leib Christi im Altarsakrament körperlich oder symbolisch präsent oder repräsentiert anwesend ist, den Beginn eines bis heute ungeklärten Verhältnisses zwischen Körperlichkeit/Präsentation und Zeichenhaftigkeit/Repräsentation sehen.16


Das Gegeneinander-Ausspielen von Körper und Leib hat eine philosophische Tradition, die mit Edmund Husserl begann17 und unter anderem durch die kritische Theorie von Horkheimer/Adorno18 bekräftigt wurde.

Ein polares Verständnis, das die Fiktivität der Essentialismus-Konstruktivismus-Dichotomie auf den Punkt bringt. Dem kulturell über-/verformten Körper wohnt so oder so ein verschütteter „natürlicher“ Leib inne, den es freizulegen gilt.19

1.2. Leib-Seele-Problem20

Das Leib-Seele-Problem gilt als klassisches Problem der abendländischen Philosophie und bezeichnet die Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele.

Es ist im Kern ein Kausalitätenproblem.

Wirkt die Seele auf den Leib? Oder der Leib auf die Seele?


Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Körper als Ursache oder als Wirkung setzt sich auch im zeitgenössischen Diskurs fort: Ist der Körper soziales, mediales Produkt21 oder ursprünglicher und authentischer naturwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand?


Seit der griechischen Antike werden die philosophischen Auseinandersetzungen um belebter versus unbelebter Materie, einer möglichen Hierarchie zwischen Körper/Leib und Seele und der Unsterblichkeit der Seele, von dem Standpunkt dominiert, dass der Mensch einen Körper und eine Seele hat.

Bei Platon ist der Körper das „Gefängnis der Seele“. Er denkt die unsterbliche Seele als vom Körper getrennt. Aristoteles definiert die Seele als Formprinzip, das aus Materie ein Ganzes formt und erhält. An sich gilt aber das Leib-Seele-Problem als neuzeitlicher Diskurs. Der Dualismus Descartes’ vertritt den Standpunkt, dass es zwei Substanzen mit Wechselwirkung zueinander gibt.22 Die Seele ist organisch in der Zirbeldrüse lokalisiert, die gleichzeitig als Schaltzentrale, als Schnittstelle zwischen Materie und Geist den „menschlichen Automaten“ steuert. Die gegenseitige Beeinflussung zwischen Leib und Seele findet aber nicht direkt statt, sondern wird über ein feines, stoffartiges Fluidum23 vermittelt.

Die Okkasionalisten Arnold Geulincx und Nicolas Malebranche waren philosophiegeschichtlich die ersten, die diese Verbindung zwischen Leib und Seele kritisierten.

Aus ihrer Sicht waren der Leib und die Seele heterogene Substanzen24 und eine Wechselwirkung, wenn überhaupt, nur durch übernatürliche Einflussnahme möglich.

Baruch Spinoza (1632–1677) entwickelte zur Leib-Seele-Thematik seine Theorie vom psychophysischen Parallelismus. Auf Basis einer einheitlichen Deduktion von materiellen und geistigen Erscheinungen und rund um seinen zentralen Begriff der Substanz leitet er dieses philosophische Lehrgebäude ab. Nach Spinoza laufen seelische und körperliche Vorgänge voneinander isoliert parallel ab.


Bei dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz (16461716) bestehen Materie und Bewusstsein/Seele aus so genannten Monaden, aus Elementarteilchen analog zur Geometrie. In seiner prästabilierten Harmonie ist die Materie und jeder Gegenstand einzigartig und besteht aus unendlich vielen Monaden, während die Seele nur aus einer einzigen Monade besteht. Allerdings interagieren Monaden nicht miteinander. Das wirft für Leibniz neben der Frage um die Beziehung zwischen Leib und Seele auch die Frage nach der Ursache-Wirkungsbeziehung im Allgemeinen auf.

Aus seiner Sicht hat Gott alle Monaden so geschaffen, dass ihr Verhalten Kausalitätsbeziehungen und Interaktionen zwischen Leib und Seele ergeben. Leibniz gilt daher als Determinist.


Immanuel Kant (1724–1804) bestritt die Determiniertheit des Willens und vertrat die Willensfreiheit. Zwar gilt bei ihm die Substanzentrennung, aber die metaphysische Erforschung, zum Beispiel der Unsterblichkeit der Seele, ist für ihn nicht möglich.


Ludwig Feuerbach (1804–1872) sieht das Leib-Seele-Problem als Produkt einer künstlichen Isolierung von Körper und Seele. Er sieht in diesem Dualismus einen gewaltsamen Bruch und eine damit verbundene Geringschätzung der Natur. (Descartes sieht in Materie lediglich das „Ausgedehnte“.) Gemäß Feuerbach hat sie aber eine eigene „Qualität“, auf die das Denken zu reagieren hat.


Friedrich Nietzsche von Feuerbach beeinflusst, wiederum stellte den Körper an erste Stelle.

Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. 'Ich' sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist–

woran du nicht glauben willst–dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.25


Henri Bergson (1859–1941) formuliert in seiner philosophischen Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist „Materie und Gedächtnis“26 das Gedächtnis als Schnittstelle zwischen Geist und Materie. Anders als Kant geht er davon aus, dass Raum und Zeit wesensverschieden sind und die Zeit eine intuitiv wahrnehmbare Größe.

Die Realität ist weder kausal noch lokal. Denn Raum und Zeit sind reine Illusion.

Davon beeindruckt brachte der französische Jesuit und Wissenschaftler Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) die Religion als Gegenstand der Auseinandersetzung in den Diskurs ein. Für ihn ist das Bewusstsein in der Materie angelegt und wird durch die Evolution der Lebensformen entfalten.


Hans Jonas (1903–1993)27 versucht in seiner philosophischen Biologie den Dualismus zu überwinden. Zwar trennt er Geist und Materie, aber verortet die Seele nicht wie Descartes.

Der philosophischen Biologie zu Folge sind die Grundlagen des Geistigen und damit wohl auch der Seele bereits entwicklungsgeschichtlich im Organischen angelegt und sich ontogenetisch bzw. psychogenetisch entfalten muss. Der Geist bleibt aber zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung Teil des Organischen. Als Beispiel führt er die dem Geist zugeordnete Freiheit an, die im Kern schon im organischen Prinzip des Stoffwechsels angelegt ist und die in Korrespondenz mit den materiellen Grundlagen sich stets weiterentwickelt.


Als Grundlage des neuzeitlichen Körperverständnisses hat sich der cartesische Substanzendualismus durchgesetzt. Descartes trennt Leib und Seele mit einer Radikalität, die die Wechselwirkung zwischen beiden zum theoretischen Störfaktor macht.

Die Seele wird aus naturwissenschaftlicher Sicht als Forschungsfeld bestellt und trägt empirische und experimentelle Früchte. Denn eine beseelte Natur, die einem göttlichen Zweck dient, ist undurchschaubar und vor allem kaum mess- und kategorisierbar.

Die anthropologische Konsequenz dieser Sicht manifestiert sich in der Medizin des

19. Jahrhunderts, die sich wie andere Naturwissenschaften gerade von der Philosophie löst.

Nun unterliegt Körper wie Geist physikalischen Kausalgesetzen, die es wie die mechanische Natur zu erforschen gilt.

Der deutsche Wissenschaftler Hermann Helmholtz und seine Kollegen wandeln ab den 1840er-Jahren die philosophischen Grundlagen der romantischen Medizin in chemisch-physikalische Grundlagen der Physiologie um, gleichrangig mit der Leitwissenschaft Physik.

Auch wenn sich die wissenschaftliche Theorie dieser Zeit von der Idee der Maschine von Descartes unterscheidet, im Wesentlich bleibt die Grundannahme, dass die Natur (der Seele) erforschbar, kategorisierbar und kausalgesetzlich formulierbar im Experiment nachgebildet werden kann.

Ein wichtiger Vertreter dieser Denkrichtung ist der Helmholtzschüler

Wilhelm Wundt (1832–1920), der Begründer der experimentellen Psychologie.28

Catherine Newmark sieht in ihm und in Sigmund Freud, der übrigens ebenfalls sechs Jahre bei einem Kollegen von Helmholtz assistierte, neben dem deutschen Idealismus den großen Einfluss auf den postmodernen Diskurs.29

Wundt orientiert sich an naturwissenschaftlichen Methoden und überträgt kausale Erklärungsmodelle der Physiologie auf die Psychologie. Allerdings beharrte er auch auf einem unabhängigen Bewusstsein und Träume ordnet er der Überschrift „Anomalien“ unter.

Trotz aller theoretischen Unterscheidung steht im Mittelpunkt der Untersuchungen immer das Physische und jede darüber hinaus gehende Bedeutung des Psychischen verlässt das Forschungsfeld von Wundt. Weniger auf Erklärungen als eben Bedeutungen konzentriert sich im Gegensatz dazu Sigmund Freud. Mit seiner „Traumdeutung“30 löst sich die Psychoanalyse von der physiologischen Psychologie. Freud geht von der Interpretierbarkeit eines Traumes aus, die eben gerade über den Rand des physiologischen Forschungsfeldes hinausgeht.

Mit seiner Kritik an der Ursachenforschung, die keinen Platz für Sinndeutung lässt, entfernt er sich weit vom dominierenden wissenschaftlichen Denken seiner Zeit. Die naturwissenschaftliche Psychologie dieser Zeit sieht seine Theorien als Rückfall in ein metaphysisches bzw. idealistisches „vorwissenschaftliches“ Denken.31 Wohl aus diesem Grund war Freud sehr darum bemüht, seine Ansichten zu legitimieren. Rhetorisch geschickt formulierte von der physiologischen Position aus, dass sich letztlich alles Psychische vom Physischen ableiten ließe – wenn man soweit forschen wollen würde. Aber Freud wollte nicht.

Freuds Neufassung des Seelenbegriffs hat auch Auswirkungen auf den Körper, der nun auch Resultat seelischer Vorgänge sein kann. Er verschiebt die Kausalitätenverhältnisse, die bis dahin von der Wirkung des Physischen auf das Psychische aber nicht umgekehrt ausgegangen waren.32

Freud überschreitet damit die disziplinären Grenzen. Er verallgemeinert die Kausalität. Nun wirkt der Körper auf die Seele und die Seele auf den Körper. Die Einführung des Unterbewussten „[…] erlaubt nicht nur die lückenlose kausale Anordnung des Psychischen, sondern untergräbt auch das Bewusstseinsprimat der Seele;“33 Freud überwand mit die Substanzentrennung, indem er ihre Prinzipien nutzte, aber ihre Intention veränderte.34


Mit Freud ist der psychoanalytische Körper nun Symptom geworden und gibt Auskunft über seelische Abläufe. Aber auch die beginnende Sicht auf den Körper als gesellschaftlichen Bedeutungsträger fällt in diese Zeit. Nun interessierte sich auch die Soziologie für die Einschreibungen herrschender Machtverhältnisse in den Körper als Repräsentant eben jener Ordnung. Diese Ansätze bilden die Grundlage über den bis heute andauernden Diskurs über „Verkörperung“, „soziales vs. biologisches Geschlecht“ und nicht zuletzt die entsprechenden Zurichtungen „des“ Körpers.35

Im Computerzeitalter verschiebt sich der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung um die Leib-Seele-Beziehung hin zur Unterscheidung zwischen dem Menschen und intelligenten Maschinen.

Bisherige Unterscheidungskriterien sind unter anderem die Einzigartigkeit der Lebensgeschichten menschlicher Individuen, der menschliche Sozialisationsprozess und die bisher nicht konstruierbare Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und in einen Bedeutungskontext zu stellen.

1.3. „Der Körper“ als Teil des Ganzen: der Mensch

Die anthropologische Einheit „Mensch“ ist in ihrer Begrifflichkeit von fließenden Grenzen eingefasst. Denn der Begriff ist ein soziales Konstrukt abhängig von Alter, Geschlecht und/oder der Hautfarbe, das kulturellen und historischen Veränderungen unterworfen ist.

„’Der Mensch’, statisch als Mann, bestenfalls als Neutrum, historisch meist als anonyme Masse gedacht, hat außer als fiktives Stereotyp so nie existiert.“36

Unterschiedliche Körperbilder werden nicht nur mythologisch, religiös oder wissenschaftlich bestimmt, sondern unterliegen auch realen historischen Veränderungen.

Die jeweiligen kulturellen Bedingungen beeinflussten und beeinflussen unter anderem die körperliche Beschaffenheit und die psychische Allgemeinverfassung des Individuums.

Technische Entwicklungen im Bereich der Bio- und Informationswissenschaften stellen in den letzten Jahren zusätzlich die Grenzen zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz oder zwischen geborenem und konstruiertem Leben in Frage.


Der wissenschaftliche Diskurs rund um die „neuen Medien“ propagiert den vollständig virtuellen Körper. Auch wenn diese Extensions derzeit im Großen und Ganzen theoretische Modelle sind: „[…] the end of one kind of body and the beginning of another kind of body.“37

Der Körper droht am Ende des 20. Jahrhunderts endgültig von seinem Verschwinden erfaßt zu werden. Die neuen Medien des cyberspace entmaterialisieren ihn zu Formen, digitalen Codes, die technologisch fortgeschrittene Medizin ist im Begriff, ihn durch die Selbstgenerierung abzulösen oder ihn durch Kunstorganimplantationen mit der Welt des Künstlichen zu überschneiden.38


Was alle Diskurse um eine Phänomenologie des Körpers verbindet, ist ihre Abhängigkeit von medialer Vermittlung.

Jeder private oder öffentliche Körper ist von Kultur umgeben, die ihn prägt. Die Repräsentation in den Medien erfolgt unter bestimmten Bedingungen, die wiederum Auswirkungen auf den alltäglichen Körper haben.

Körperliche Grunderfahrungen wie Schmerz müssen über sprachliche oder bildliche Symbole kommuniziert werden. Der Körper wird umschrieben.

Dem gegenüber steht die Tatsache, dass nur durch den Körper die Welt erfahrbar und interpretierbar ist. Anthropologische Erkenntnisse bewegen sich daher stets zwischen einem individuell körpergebundenem Weltzugang und dessen sprachlicher Umschreibung.

Laut Maren Lorenz lässt sich ein demnach so allumfassendes Thema wie Körperlichkeit nur durch Interdisziplinarität „begreifen“.39 Dazu ist es notwendig, sich mit den Methoden und Ergebnissen anderer Disziplinen auseinander zu setzen und beides auf die Anwendbarkeit im Rahmen der eigenen Fragestellung zu überprüfen. Eine veränderte Sicht auf die eigenen Fragen sollte dabei möglich sein.

Damit verfolge die Körpergeschichte ein grundlegendes anthropologisches Anliegen.

Zur besseren Orientierung in der Fülle der kulturwissenschaftlichen Menschenbilder definiert Lorenz als gegensätzliche Pole den „Essentialismus“40 und den „sozialen Konstruktivismus“.41

Ein grundlegendes Problem der Körpergeschichtsschreibung ist die Beschreibung vormoderner Körpererfahrungen aus der Sicht einer Anthropologie, deren Denkrichtung im 18. Jahrhundert festgelegt wurde.42 Konsequenterweise können wissenschaftliche Aussagen daher nicht verifiziert oder falsifiziert werden, weil das Scheitern der „Einfühlung“ vorprogrammiert ist. Körpergeschichtliche Arbeiten müssen daher politisch und nicht wissenschaftlich begründet werden.

1.4. Die Dramatisierung des Körpers

Erika Fischer-Lichte schreibt in ihrer Geschichte des Dramas über die Entstehung der christlichen Spiele im Mittelalter als der „Magie des Körpers“.43

Wie schon in der Antike entwickelt sich das Drama des Mittelalters aus einem religiösen Kontext. Nach einem halben Jahrtausend ohne Theater44 entwickelte sich ab dem

10. Jahrhundert in den Teilen West- und Mitteleuropas, in denen das Christentum vorherrschte, ein religiöses Kirchenraumspiel.45


Laut Peter Simhandl46 war der Hintergrund der anfangs lateinischen Spiele die Ideologie des Gradualismus´.

Gradualismus47 steht für die Einordnung des Menschen in einen gottgewollten Stufenbau der Welt, der auf die Ewigkeit ausgerichtet ist und der statischen Auffassung des Diesseits. Innerhalb dieser hierarchischen Pyramide hat jeder Mensch seinen fixen unveränderbaren Platz. Diese Ordnung auch nur zu hinterfragen, kam einer Auflehnung gleich. Die Kirche war daher aus Gründen des Machterhaltes bestrebt, jeden Zweifel zu beseitigen. Das Mittel der Wahl war die Geringschätzung des Irdischen und damit des menschlichen Lebens. Ein Ausdruck dafür ist die Kunst der Romantik: Statt menschlicher Abbilder werden göttliche Sinnbilder dargestellt. Der Körper war somit lediglich Symbolträger der göttlichen Ordnung.


Im gradualisiertes Theater spielt sich der Wechselgesang nicht mehr zwischen neutralen Chören ab, sondern zwischen Handelnden. Eine Kostümierung findet zwar statt, aber nur mit liturgischen Symbolkostümen, Symbolverkleidung, einer Symbolverwandlung, die der gradualistischen Entwicklungsstufe entspricht. Symbolhaft ist natürlich auch der Ort, das Grab Christi und die Requisiten wie Palmzweige und Rauchfässer. Die Osterliturgie bildete den Ausgangspunkt. Wesentlichester Teil der Feiern ist der Ostertropus.

Die Spiele wuchsen mit der Zeit. Nach den Osterfeiern kam die theatrale Ausschmückung der Weihnachtsliturgie und später die Märtyrerspiele, die sich besonders anboten, mit Grausamkeiten das Publikum zu erschüttern.48

Im 13. Jahrhundert kam es nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Veränderungen49 auch bei den Osterspielen zu einem entscheidenden Wandelung: Christus wurde als handelnde Person gezeigt und das Spiel verlagerte sich aus dem Kirchenraum ins Freie.50

Der Körper wurde dabei zunehmend vom Symbolträger zum „Ort“ der Manipulation. So trug zum Beispiel der Christusdarsteller unter der Perücke eine mit Blut gefüllte Schweinsblase, aus der bei der Dornenkrönung Blut über sein Gesicht lief.

Waren die Spiele anfangs symbolistisch, schlicht, kontemplativ, so wurden sie in weiterer Folge naturalistisch, grob und grell.

Nicht zuletzt auf Grund des Ortswechsels liegt der Schwerpunkt im Optischen. Der Darsteller muss unter Verzicht auf naturalistische Verfeinerung zu großer, breiter Aktion hinarbeiten. Gesichtsmimik und stimmliche Schattierungen sind nicht zu erwarten. Die Gesten sind offenbar liturgisch gebunden und auf bestimmte einfachste Ausdrucksformen stilisiert und zeremoniell. Wenn der Körper Aktion haben kann, so wird am besten die visuelle Rücksicht erfüllt: Umarmung, Niederfallen sind wirksamer als sprachliche Feinheiten.


1.5. Verkörperung

Das Material des Schauspielers und/oder der Schauspielerin ist der gezielt und bewusste eingebrachte Körper. Das „Gewicht“ dieses Körpers ist abhängig von der Theatersparte und nicht zuletzt von der jeweiligen Inszenierung. So verlangt das Musiktheater, wie z.B. die Oper, andere körperliche Leistungen als zum Bespiel das Tanztheater.

Der Einsatz von Körpersprache auf der Bühne geht von einer Vereinbarung zwischen KünstlerInnen und Publikum aus: Denn das „gemeinsame“ Wissen um den jeweiligen Bedeutungskontext ist kulturabhängig.51

In der darstellenden Kunst ist das Werk nicht vom Körper der Künstlerin/des Künstler abtrennbar.

Dadurch entsteht zwischen der Darstellung und dem phänomenalen Leib Spannung,

eine Art Symbol der „Conditio humana“ im Körper des Schauspielers/der Schauspielerin.52

In seinem Werk „Zur Anthropologie des Schauspielers“ sieht Plessner in dieser Spannung eine anthropologische Bedeutung und Dignität. Denn einerseits hat der Mensch einen manipulier- und instrumentalisierbaren Körper, andererseits ist er/sie auch dieser Körper, ist Leib-Subjekt.

Für die Darstellung schafft der Schauspieler/die Schauspielerin eine Figur aus dem „Material der eigenen Existenz“ heraus und verweist so auf die Doppelung und „[...] die in ihr gegründete Abständigkeit hin.“ 53


Erika Fischer-Lichte sieht in ihrem Buch „Ästhetik des Performativen“ in der Spannung zwischen dem Körper der/des Darstellerin/Darstellers und dem Körper des Dargestellten die Bedingung für die Möglichkeit einerseits Körperlichkeit in der Aufführung performativ hervorzubringen und andererseits für die Wahrnehmung von Körperlichkeit durch das Publikum.


Der Begriff der Verkörperung einer Rolle entwickelte sich ab der zweiten Hälfte des

18. Jahrhunderts.

Bis dahin wurden Rollen von SchauspielerInnen gespielt, gegeben oder vorgestellt.

Auch die Formulierung, ein/eine SchauspielerIn „sei“ die Rolle wurde gewählt.54

Dann kam es ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Wandel. Im deutschen Theater entwickelte sich ein Literaturtheater, das eng mit einer ebenfalls neuen realistisch-psychologischen Schauspielkunst verbunden war.

Nun sprach man von der schauspielerischen Darstellung als einer Verkörperung durch den/die SchauspielerIn.

Ziel war dabei aber nicht, durch die Schauspielkunst eigenständige Interpretationen zu generieren, sondern lediglich der vom Autor/von der Autorin im Text festgeschriebene Bedeutung Ausdruck zu verleihen. Es galt das Geschehen auf der Bühne über das geschriebene Wort zu kontrollieren.


Theoretischer Rahmen für diesen Wandel war ein Dualismus zwischen einem absoluten Geist und einem unzulänglichen Körper.

Mentale, geistige Entitäten55, als die Bedeutungen, die im Text ausgedrückt werden, können nur durch das ideale Zeichensystem der Sprache entsprechend vollständig vermittelt werden.

Der Körper hingegen gilt als unzuverlässliches Medium für ein brauchbares und vor allem gültiges Zeichensystem.


Aus Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit der künstlerischen Qualität von der körperlichen und der geistigen Befindlichkeit entwickelten sich Theorien über den „künstlichen Menschen“. Ziel wurde es, diese Menschmaschinen genauso kontrolliert einzusetzen, wie den restlichen Bühnenapparat.56


Voraussetzung für ein entsprechendes Körpermedium war eine gewisse Zurichtung.

Der Körper musste entleiblicht57 werden.

Alles, was auf den organischen Körper verweist, auf das leiblich In-der-Welt-Sein des Schauspielers, muß seinem Leib ausgetrieben werden, bis ein „rein“ semiotischer Körper zurückbleibt. Denn nur ein „rein“ semiotischer Körper wird imstande sein, die im Text niedergelegten Bedeutungen unverfälscht sinnlich wahrnehmbar zur Erscheinung zu bringen und dem Zuschauer zu vermitteln. Verkörperung setzt also Entkörperlichung bzw. Entleiblichung voraus. Sie leistet zugleich Widerstand gegen die Flüchtigkeit der Aufführung. Denn wohl mögen die Gesten und Bewegungen des Schauspielers, die Laute die er hervorbringt, transitorisch sein; die Bedeutung jedoch, die mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden, existieren auch jenseits dieser flüchtigen Zeichen.58


Das Puppentheater erscheint dafür als die ideale Form. Menschliche Abbilder, die außer dem Puppenspieler/der Puppenspielerin nur noch der Schwerkraft folgen und frei von eigenständigen Attitüden sind.

Heinrich von Kleist beschäftigte sich in seinem Essay über das Marionettentheater mit der zugrunde liegenden Problematik, ob nun eher die Vernunft oder das Gefühl den Menschen in seinem Handeln steuert. Als Beispiel bemüht er in seinem 1810 in den „Berliner Abendblättern“ erschienenen Text die Geschichte des Dornausziehers. Darin zieht ein Knabe mit höchster Grazie einen Dorn aus seinem Fuß. Angesprochen auf dieses „Bild“ versucht er unter der Kontrolle seines Verstandes diese vollkommene Bewegung zu wiederholen und scheitert. Auch im Puppentheater fand Kleist eine natürliche Anmut der darstellenden Körper. Kleist schließt daraus, dass entweder die völlige Abwesenheit von Bewusstsein bzw. völlige Unbefangenheit oder aber die absolute Kontrolle des Geistes über den Körper jene vollkommene Anmut gewährleistet.

[…] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.59


Einer der wichtigsten Schauspieltheoretiker der Neuzeit, Konstantin Sergejewitsch Stanislawski60, entscheidet sich, das Gefühl dermaßen zu kontrollieren, dass es in der theatralen Praxis jederzeit in gleich bleibender Qualität für die Rollengestaltung zur Verfügung steht.

Sie sehen, unsere Hauptaufgabe ist nicht nur, das Leben der Rolle in ihrer äußeren Erscheinung wiederzugeben, sondern vor allem auch das innere Leben des dargestellten Menschen und des ganzen Stückes auf der Bühne erstehen zu lassen, wobei die eigenen menschlichen Gefühle der Rollengestalt angepaßt und diesem fremden Leben alle organischen Elemente der eigenen Seele gegeben werden müssen.61


Sein Naturalismus geht von einer Wechselwirkung zwischen Körper und Seele aus. Das heißt, dass alles, was ein Mensch fühlt, an seiner Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung ablesbar ist.

Im Innern des Menschen sind Wille, Verstand, Gefühl, Vorstellungskraft und Unbewußtes tätig, während der Körper wie ein ungewöhnlich empfindliches Barometer deren schöpferische Arbeit widerspiegelt. Zu diesem Zweck müssen alle, selbst die kleinsten Muskeln, gut entwickelt und durchtrainiert sein. Wir müssen unseren Körper, seine Bewegungen und alles, womit wir unser Erleben offenbaren können, so weit ausbilden, daß jede Emotion instinktiv, schnell und anschaulich wird. 62


Ziel dieser Schauspieltheorie ist es, die der jeweiligen Darstellung zugrunde liegende Emotion zuerst zu erleben und dann in weiterer Folge diese „organischen Elemente der eigenen Seele“ in der Vorstellung abrufen zu können. Neben diesem „affektiven Gedächtnis“ kann der/die SchauspielerIn auch dadurch Gefühle generieren, indem er/sie die entsprechende Körperhaltung einnimmt.

Dadurch kann der/die SchauspielerIn nach der These des psychophysischen Wechselspiels sich in die betreffende Situation zurück versetzen und so ebenfalls „wahrhaftig“ darstellen.


Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert greift diese Konzept der Verkörperung nicht mehr.

So schreibt Georg Simmel:

So wenig die materielle Leinwand mit dem Farbenauftrag das malerische Kunstwerk ist, so wenig ist der Schauspieler als lebende Realität das schauspielerische Kunstwerk.

In die besondere Bildart der Bühne soll der Inhalt übergeführt werden, nicht in die Wirklichkeit. Der Schauspieler als Wirklichkeit ist so wenig die künstlerische Bühnenfigur wie die Farbe das Bild ist. […] Wenn heute manche sensible Menschen ihre Abneigung gegen das Theater damit begründen, daß ihnen dort zu viel vorgelogen werde, so liegt das nicht an dem Mangel, sondern an dem Zuviel von Realität, das von der Bühne her auf uns wirkt. […] Indem wir die ganze Irrigkeit der Idee einsehen, dass der Schauspieler die dichterische Schöpfung „verwirkliche“, da er doch dieser Schöpfung gegenüber eine besondere und einheitliche Kunst übt, die der Wirklichkeit genau so fern steht wie das Dichtwerk selbst–begreifen wir sogleich, warum der gute Imitator noch kein guter Schauspieler ist, daß das Talent, Menschen nachzuahmen, nichts mit der künstlerisch-schöpferischen Begabung des Schauspielers zu tun hat. Denn der Gegenstand des Nachahmers ist die Wirklichkeit, sein Ziel ist, als Wirklichkeit genommen zu werden. Der künstlerische Schauspieler aber ist so wenig wie der Porträtmaler der Nachahmer der wirklichen Welt, sondern der Schöpfer einer neuen, die freilich dem Phänomen der Wirklichkeit verwandt ist, da beide aus dem Vorrat der (ideellen) Inhalte alles Seins überhaupt gespeist werden. Darum ist es ein ganz irriger Ausdruck, dem freilich als Ausdruck auch unsere Klassiker verfallen sind, dass die Kunst überhaupt, und insbesondere die Schauspielkunst, ihre Substanz im Schein habe. Denn aller Schein setzt eine Wirklichkeit voraus, entweder als seine tiefere Schicht, deren Oberfläche er ist, oder als sein Gegenteil, das er heuchlerisch vertreten will.63


Doch die heftigsten Kritiker wie Edward Gordon Craig und Wsewolod Meyerhold entwickelten mit ihren Antithesen zum Verkörperungskonzept lediglich eine dem Zeitgeist angepasste Adaption der Zwei-Welten-Theorie.

Der darstellende Körper wird zwar nicht mehr vom literarischen Text und damit vom Autor/von der Autorin kontrolliert, sondern die/der SchauspielerIn beherrscht ihr/sein Material vollständig, um so sämtliche Störfaktoren auszuschließen.


Bei Craig steht nicht mehr der/die virtuose SchauspielerIn im Mittelpunkt des Interesses, sondern künstliche willenlose und vor allem formbare Körper für einen optimalen künstlerischen Ausdruck. In diesem Sinn verfasste Craig 64 seine Theorie „Der Schauspieler und die Übermarionette“.

Nach Craig ist die Darstellung durch eine Marionette intensiver, weil ihr im Gegensatz zum/zur SchauspielerIn Emotion und Egoismus fehlen. Denn diese Eigenschaft ermöglicht eine hundertprozentige Unterwerfung der darstellerischen Mittel unter die Intention des/der KünstlerIn.

Denn nur dieses ästhetische Prinzip ermöglicht das Entstehen von Kunst.

Konsequenterweise lehnte Craig demnach den Realismus als bloße Nachahmung ab.

Die schauspielerische Darstellung muss ohne genuinen künstlerischen Ausdruck sein, weil der Schauspieler/die Schauspielerin nicht frei über seine/ihre gestalterischen Mittel verfügt und nicht in der Lage ist, sein/ihr Werk unabhängig von Vorbildern zu erarbeiten.65

Ziel der Craigschen Theorie war, den/die SchauspielerIn auf der Bühne durch eine Übermarionette zu ersetzen.


Je nach Abständigkeit zwischen DarstellerIn und Kunstwerk lassen sich grob vier Richtungen einteilen:66


1.5.1. Turner, Schechner, Brecht

Ritualen bzw. asiatischem, antikem und epischem Theater ist gemeinsam der Umstand, dass der/die DarstellerIn keine Kunstfigur, aber auch keine Privatperson ist. Irgendwo zwischen diesen beiden Rollen ist er/sie SymbolträgerIn im wahrsten Sinne des Wortes.

1.5.2. Schlemmer, Meyerhold

Der Körper wird präsentiert und mit dem Raum in Beziehung gesetzt (Bauhausbühne). Der Körper ist Gestaltungsmaterial. Dem entsprechend wichtig ist seine Beherrschung bzw. die Beherrschung entsprechender Techniken (Biomechanik, bedingtes Theater). Unter anderem sind Artistik, Vaudeville und Comedia dell´Arte wichtige Einflüsse.

1.5.3. Stanislawski, Strasberg, Moreno

Über Psychotechniken fühlen sich die DarstellerInnen in die Rollen ein und identifizieren sich mit den Charakteren. Dabei wird unter anderem auf eigene Erfahrungen und deren körperlichen Ausdruck zurückgegriffen. Konsequenteste Identifikation ist die Darstellung eines therapeutischen Themas im Rahmen des Psychodrama.

1.5.4. Artaud, Grotowski

Mein Körper ist meine Software.“ 67

Im „Theater der Grausamkeit“ und im „Armen Theater“ gibt es keine Grenze zwischen der privaten Person und der darstellenden. Das Private wird dargestellt und die Darstellung findet privat statt.

1.5.5. Das soziale Drama des Victor Turner68

Der schottische Ethnologe Victor Witter Turner (1920–1983) beschäftigte sich in seiner Arbeit mit Ritualen, die die Bindung zwischen Mitgliedern einer sozialen Gruppe regeln.

Im Rahmen seiner Untersuchungen von Spannungs- und Veränderungsprozessen im religiösen Bereich erforschte Turner die Symbole und Rituale von Veränderungsprozessen; zum Beispiel der Minenarbeiter im südlichen Afrika während der britischen Kolonialzeit. Diese Menschen waren von tribalen Bauern zu Pendlern geworden und ständigen Veränderungen unterworfen.

Turner schließt mit seiner Arbeit an die Ritualtheorie von Arnold Gennep69 an und fand heraus, dass Rituale zwischen Individuen einer sozialen Gruppe entstehen, die gerade gemeinsam von einem sozialen Zustand in einen anderen wechseln, also eine Veränderung durchleben.70

Symbole und ein tänzerischer und musikalischer Ablauf ermöglichen die Gestaltung einer neuen gemeinsamen Identität. Rituale heben sich als Ereignis vom Alltag ab, erzeugen somit eine Gegenwelt und festigen die neu gewonnene Identität.

Für die Dauer des Rituals werden auch alle üblichen sozialen hierarchischen Strukturen ausgesetzt und die ProtagonistInnen haben die Möglichkeit, Handlungen, die außer dem Kompetenzbereich ihrer sozialen Rolle liegen, zu setzen.

Turner gliederte den Ablauf in drei Phasen: Die Trennungsphase, die Schwellenphase oder Liminalität und schließlich die erfolgreiche Wiedereingliederung.


Für Turner sind Rituale dynamische Prozesse, die soziale Widersprüche kanalisieren und dadurch kathartisch und therapeutisch wirken.

Die kleinste Einheit des Rituals ist dabei das Symbol. Rituale wiederum sind Teile eines Netzwerkes an Symbolik, die soziales Handeln initiiert.

Mit dem Begriff des „sozialen Dramas“ bezeichnete Turner den ritualisierten Übergang zwischen sozialen Dynamisierungsprozessen. Soziale Dramen laufen dabei nach einem vierstufigen Schema ab: Ausgehend vom Erkennen von Differenzen und Brüchen im Sozialen wird eine Verschärfung der Krise bewusst. Das führt zum Versuch, rituelle Bewältigungsmuster umzusetzen, um eine erfolgreiche Reintegration zu ermöglichen. Die Anerkennung des unüberwindlichen sozialen Bruchs ist dann in weiterer Folge der Ausgangspunkt für das nächste „soziale Drama“.

Das Ritual macht für die Individuen symmetrische Beziehungen durch die Umkehrung bestehender sozialer Ordnungen erlebbar.

Rituale sind im Blickwinkel Turners performative soziale Wunschmaschinen, indem sie das Obligatorische ins Desiderate konvertieren, um dadurch das Desiderate zum Obligatorischen werden zu lassen.71

1.5.6. Der Ursprung des Theaters liegt im Ritual – Richard Schechner

Ritual

Tradition

Theater

Wirkung


Unterhaltung

soziale Repräsentation


fiktionale Repräsentation

Glaube


Kritik

gemeinschaftlich


Trennung in Akteure und Zuschauer

.72

Auf dem Weg vom Ritual zum Theater bewegt sich auch der Theaterregisseur und Professor für Performance Studies Richard Schechner (geb. 1934).

In den sechziger Jahren gehört er zu jener Theateropposition, die das Primat der Sprache über den Körper bestreitet. Parallel dazu beschäftigte er sich intensiv mit dem antiken Theater. Denn das griechische Theater war ein wichtiger Teil des sozialen Lebens der GriechInnen und Schechner war fasziniert von der Inszenierung von Ritualen und deren Bedeutungen.

Rituale entfalten sich durch den Vollzug einer Handlung. Diese Handlungen unterliegen Regeln und sind oftmals auf mehrere HandlungsträgerInnen aufgeteilt. Sowohl das westliche Theater als auch performative Abläufe aus dem asiatischen und afrikanischen Raum lassen sich von (zumeist religiösen) Ritualen ableiten.

Auch wenn Theater Ritual ist und Ritual Theater, so gibt es doch klare Unterschiede zwischen einer Vorstellung im Burgtheater und der räumlich nicht allzu weit davon entfernten Angelobung einer neuen Regierung. Denn das Drama wird nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt während das Ritual zumindest eine soziale Funktion erfüllt.73 Schechner ordnet vergleichbar mit einer Skala das Drama unter „entertainment“ ein und das Ritual unter „efficacy“. Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Vielzahl an Mischformen.

Und so ist eine Theaterproduktion zwar zum überwiegenden Teil von der fiktionalen Repräsentation bestimmt, aber durch Phänomene wie den „Starkult“ lässt sich auch soziale Repräsentation nachweisen.74 Doch auch die Rituale werden theatraler.

Seit den 1960er-Jahren lässt sich eine immer stärker werdende Theatralisierung des öffentlichen und vor allem des politischen Lebens beobachten. Wenn sich die „Clownarmee“75 am G8-Gipfel engagiert, ist die Trennung zwischen Performance und Aktion schwierig. Um den medialen Anforderungen zu entsprechen, muss jedes Ritual zum Event werden, um die entsprechende Veröffentlichung zu erreichen.

Doch kein Theater kann gegen eine Greenpeaceaktion ankommen, wenn es mimetisch und psychologisierend bleibt. Für Schechner bedarf es einer Re-Ritualisierung des Theaters, um es „zurück ins Leben zu werfen.“76 Als deutliches Beispiel dafür führt Hehn die vollständige Integration in eine gesellschaftliche Bewegung von nicht-mimetischen

Gruppen an, wie dem Bread-and-Puppet Theatre, und nicht zuletzt der Performance Art, die durch „[…] die Brechung ihrer Figuren auf ein soziales, oder deutlicher politisches Bewußtsein verweisen.“77






1.6. Verfremdungseffekte am Körper

Der Zweck dieser Technik des Verfremdungseffekts war es, dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen. Die Mittel waren künstlerische.78


Bei Brecht fühlte sich der/die SchauspielerIn nicht in die Rolle, die Figur ein, sondern war bestrebt, keine Illusion der Wirklichkeit herzustellen. Vielmehr war er/sie dazu angehalten, dem Publikum zu zeigen, dass er/sie eine Text zitiere. Dadurch soll der/die ZuschauerIn aus dem Geschehen herausgehoben werden, um die Möglichkeit zu haben, über das Dargestellte zu reflektieren.

Brecht forderte ein analytisches Theater, das zum Nachdenken und Hinterfragen anregen sollte.

Der/die SchauspielerIn verkörpert somit auf der Bühne nicht, war aber auf der Bühne auch nicht Privatperson, die eine soziale Rolle in einem gruppendynamischen Prozess übernahm.

Brecht sah im nicht-aristotelischen Theater eine Möglichkeit dem Publikum mehr zu zeigen, als das illusionistische Theater.

Die Voraussetzung für die Hervorbringung des V-Effekts ist, daß der Schauspieler das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des Zeigens versieht. Die Vorstellung von einer vierten Wand, die fiktiv die Bühne gegen das Publikum abschließt, wodurch die Illusion entsteht, der Bühnenvorgang finde in der Wirklichkeit, ohne Publikum statt, muß natürlich fallen gelassen werden. Prinzipiell ist es für die Schauspieler unter diesen Umständen möglich, sich direkt an das Publikum zu wenden.79


Publikum und SchauspielerInnen sind gleich, aber doch verschieden.

Brecht hat die Technik des Verfremdungseffekts aus diversen Theatertraditionen (Mittelalter, Barock, China u.a.) mit neuen Inhalten kombiniert und dadurch verändert.

Die Form einer Aufführung kann nur gut sein, wenn sie die Form des Inhalts ist, nur schlecht, wenn sie es nicht ist. Sonst kann überhaupt nichts bewiesen werden.“80

1.6.1. Das Theater im Bauhaus und der biomechanische Körper auf der Bühne

Anders als Craig wollte der Bildhauer Oskar Schlemmer81 den/die SchauspielerIn zwar nicht durch Automaten ersetzen, aber er sah in der Kunstfigur eine Erweiterung des künstlerischen Spektrums.

Die Kunstfigur ermöglicht jede beliebige Bewegung, jegliche Lage in beliebiger Zeitdauer, sie erlaubt […] die verschiedenartigen Größenverhältnisse der Figuren: […] Ein ähnliches sehr gewichtiges Phänomen bedeutet das In-Beziehung-Setzen des natürlichen „nackten“ Menschen zur abstrakten Figur, die beide aus dieser Gegenüberstellung eine Steigerung der Besonderheit ihres Wesens erfahren. Dem Übersinnlichen wie dem Unsinn, dem Pathetischen wie dem Komischen eröffnen sich ungekannte Perspektiven. […] In dieser Perspektive kann es sogar sein, daß das Verhältnis sich umkehrt: dann ist vom Bildgestalter das optische Phänomen gegeben, und gesucht ist der Dichter der Wort- und Tonideen, der ihnen die adäquate Sprache leiht.82


Für Schlemmer liegt die Bühne zwischen religiösem Kult und naiver Volksbelustigung und ist „vom Natürlichen abstrahierte Darstellung“.83

Schlemmer unterteilt „die Bühne“ weiters in drei Bereiche:

  1. Die Sprech- und Tonbühne, auf der DichterInnen das Material „Wort und Ton“ zu einem literarischen und/oder musikalischen Geschehen verarbeiten.

  2. Die Spielbühne eines körperlich-mimischen Geschehens, das aus dem Material der Schauspielerin/des Schauspielers, Stimme, Bewegung, Gestik entsteht.

  3. Schaubühne eines optischen Geschehens, für das der/die BildgestalterIn mit dem Material Form und Farbe verantwortlich ist.

Schlemmer beschäftigte besonders die Beziehung von Körper und Raum.

Laut seiner Theorie ist der Mensch ein dualistisches Wesen, einerseits ein Organismus aus Fleisch und Blut und andererseits Träger von Maß und Zahlen, der in einen toten abstrakten Raum integrierbar ist. Diese Annahme hat zwangsläufig Folgen für die (menschliche) Bewegung im Raum. Schlemmers theoretische Auseinandersetzungen mit den Beziehungen zwischen Körper und Raum, Licht, Form, Farbe und Material finden 1922 im „Triadischen Ballett“, einem Kostümballett ohne Handlung, seine praktische Umsetzung. Der Name leitet sich vom griechischen Wort „Dreiklang“ ab und entspricht der dreifachen Ordnung, die den einzelnen Tanzstücken zugrunde gelegt wurde.

Die choreographischen Elemente Kostüm – Bewegung – Musik, die physikalischen Elemente Raum – Form – Farbe und die drei geometrischen Grundformen

Kreis – Quadrat – Dreieck werden gestalterisch in zwölf Tänzen umgesetzt.

Eine Tänzerin und zwei Tänzer tanzen in insgesamt achtzehn verschiedenen Kostümen das Ballett, das wiederum in drei Bereiche unterteilt ist.84

Ein Tagebucheintrag Schlemmers aus dem September 1922:

[...] Das Triadische Ballett, das mit dem Heiteren kokettiert, ohne der Groteske zu verfallen, das Konventionelle streift, ohne mit dessen Niederungen zu buhlen, zuletzt Entmaterialisierung der Körper erstrebt, ohne sich okkultisch zu sanieren, soll die Anfänge zeigen, daraus sich ein deutsches Ballett entwickeln könnte, das in Stil und Eigenart so verankert wäre, um sich gegenüber vielleicht bewundernswerten, doch wesensfremden Analogien zu behaupten (schwedisches, russisches Ballett).85


Das „Triadische Ballett“ ist der Versuch einer vollständigen Präsentation aller gestalterischen Möglichkeiten, die einem bildenden Künstler/einer bildenden Künstlerin zur Verfügung stehen. Die einfache, klare Gestaltung entsprach der Formensprache Schlemmers, die sich in den geometrischen Formen in seinen Bildern wieder findet. Schlemmer abstrahierte den menschlichen Körper und akzentuiert überhöht dessen Geometrie. Die Ausarbeitung der choreographischen Strukturen war autodidaktisch.

Die Mittel jeder Kunst sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das Erkennen und Bekennen ihrer Mittel.“86

1.6.2. Biomechanik

Auch Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874–1940) setzte sich in seiner „Biomechanik“ schauspieltechnisch mit dem Körper auf der Bühne auseinander und schuf damit eine radikale antirealistische Bühnenkunst.

Doch im Gegensatz zu Craig, für den der SchauspielerInnenkörper als eine unberechenbare und unzulängliche Größe galt, sah Meyerhold im Körper auf der Bühne ein formbares und kontrollierbares Material, mit dem der/die SchauspielerIn arbeitet.87


Um diese Kontrolle zu erlangen, trainierte Meyerhold mittels der Biomechanik körperliche Bewegungsstrukturen, die es dem/der SchauspielerIn, die es ermöglichen, psychophysische Muster zu verinnerlichen. Meyerhold ging davon aus, dass das innere psychische Moment vom äußeren physiologischen abzuleiten ist.

Die Biomechanik besteht aus ungefähr zweiundvierzig Übungen88, die im ersten Schritt Bewegungsabläufe zerlegen, um sie im zweiten Schritt bewusst wieder zusammen zu setzen. Meyerhold ging ästhetisch vom Totalitätsprinzip aus. Dabei re-agiert der Körper als Ganzes. Der Körper als Ausgangspunkt jeder Darstellung ist von Spannung und Entspannung sowie von Rhythmus und Dynamik bestimmt und steht mit dem Bühnenraum in Beziehung. Die Arbeit am Körper bzw. des Körper erfolgt von außen nach innen.

Ziel ist es, in der Darstellung möglichst starke Plastizität herauszuarbeiten. Denn nach Meyerhold muss sich der Körper auf der Bühne organischer, aber auch kontrollierter und ausdrucksvoller als im Alltag bewegen, um einen Zustand der Erregung zu erreichen, der sich von der Bühne auf das Publikum überträgt. Er forderte ein hohes Maß an Expressivität von den DarstellerInnen.

Meyerhold hat mit seiner Biomechanik die Überlegungen Stanislawskis zu physischen Handlungen aufgegriffen. Allerdings wollte das ehemalige Ensemblemitglied89 des Moskauer Künstlertheaters das mimetische Konzept überwinden und eine neue Kunstrealität schaffen.

Meyerhold strebte wie eine Reihe anderer Theatermacher seiner Zeit nicht mehr die Reproduktion bzw. Repräsentation bürgerlicher Subjektmodelle an, sondern stellte vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Veränderungen die Konstruktion eines „korrespondierenden Menschen“ ins Zentrum seiner Überlegungen. Das führte auch zu einer veränderten Sicht auf die Körperlichkeit der DarstellerInnen, die nicht mehr InterpretInnen eines AutorInnentextes sind, sondern VorführerInnen realer Handlungen. Dabei stand der schöpferische Moment im Vordergrund. Nicht jede „schöne“ Bewegung musste auch psychologisch motiviert sein.

Auch wenn Meyerhold ein gestalterisches Gesamtkunstwerk anstrebte, das auch die Malerei und die Musik einschloss, musste das Bühnenbild im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund treten und durch Schlichtheit und Einfachheit die Wirkung des darstellenden Körpers im Raum unterstützen. Denn nur durch einen entsprechenden Freiraum könne der/die SchauspielerIn die eigene schöpferische Kraft entfalten.90

Im Gegensatz beispielsweise zum System Stanislawskis hat die völlige Identifikation des Schauspielers/der Schauspielerin für Meyerhold keine Bedeutung.

Bei der Interpretation von Figuren ist die Schärfe der Umrisse nicht obligatorisch für die Klarheit der Gestalt. Die Skizzen großer Meister wirken oft mehr als ihre ausgemalten Bilder.“91

Durch seine Betonung der Bewegung und des Rhythmus´ rückte Meyerhold in die Nähe des Tanzes und des statuarischen Prinzips des symbolistischen Theaters. Auch die Sprache wurde rhythmisiert und sollte durch die Musik unterstützt werden.

Um neben dem Schauspiel, der Regie und der Literatur auch das Publikum in den schöpferischen Akt aktiv miteinzubeziehen, veränderte Meyerhold auch den Theaterraum. Nachdem er zuerst den Bühnenraum verkürzte, um das Spiel näher an die Rampe zu bringen, senkte er später die Rampe ganz auf die Höhe des Parterres ab. Ziel war der „Abriss“ der vierten Wand. Trotzdem darf der Zuschauer/die Zuschauerin niemals vergessen, dass er/sie im Theater sitzt und eine künstlerische Darbietung betrachtet. Wichtige Einflüsse für Meyerhold waren das japanische Theater, das antike Theater, der Tanz und die Comedia dell´Arte.

1.6.3. Die psychologisierte Darstellung – Stanislawskis virtueller Körper auf der Bühne

Bei der Gründung des Moskauer Künstlertheaters im Jahr 1898 stand Stanislawski unter der damals vorherrschenden empirisch-wissenschaftlichen Sicht auf die Welt und war dem Naturalismus verpflichtet. Ziel war die konsequente Reproduktion von Lebenswirklichkeit auf und teilweise sogar hinter der Bühne.92 Darin sah er den Weg zur wirklichen künstlerischen Wahrheit.

Das Theater, das sich im Umkreis dieser Ideologie und unter der Trägerschaft des russischen Großbürgertums ausbildete, trat dementsprechend mit dem Programm auf die Theaterkunst auf die Höhe der als wissenschaftliches Zeitalter empfundenen Gegenwart zu bringen. In diesem Kontext entwickelte sich das theoretische Konzept von Stanislawaskis Theaterarbeit dieser Anfangsphase.93


Stanislawski lernte vom Theater der Meininger im Theaterspielen den Zweck zu sehen, ein Drama zum Gesamtkunstwerk zu machen.94 Auch die Aufgabe des Regisseurs sah Stanislawski nach dem Gastspiel erweitert und vor allem verantwortungsvoller. Doch im Laufe seiner eigenen Arbeit als Regisseur entdeckte er eine weitere wichtige Aufgabe eines Regisseurs: Die Arbeit des Schauspielers/der Schauspielerin an der Rolle zu begleiten. Stanislawski forderte auf der Bühne echtes Empfinden, einen „seelischen Realismus“. So war sein Ziel nicht mehr nur die Echtheit der äußerlichen dramatischen Umsetzung, sondern auch die das authentische Empfinden des Darstellers/der Darstellerin in der Rolle.

Im Zuge seiner Regiearbeit am Stück „Die Möwe“95 begann Stanislawski mit seiner Auseinandersetzung mit der Psychologie der Rolle und der psychophysiologischen Arbeit des Schauspielers/der Schauspielerin an der Rolle.96

Das so genannte System und seine Theorie des „emotionalen Gedächtnisses“ entstanden.

Die Technik des emotionalen Gedächtnisses ermöglicht dem/der SchauspielerIn die Identifikation mit unterschiedlichsten Bühnencharakteren und Ausdrucksformen. Um dieses Gedächtnis zu trainieren, werden Erfahrungen aus der individuellen Vergangenheit des Darstellers/der Darstellerin in Erinnerung gerufen. Denn Stanislawski ging davon aus, dass die Einfühlung über körperliche „Begleiterscheinungen“ leichter zu bewerkstelligen sei. Aus den persönlichen Erfahrungen, dem Vorstellungsvermögen bzw. aus dem konstruierten Umfeld der literarischen Figur ergibt sich so ein reicher Fundus an Ausdruckmöglichkeiten. Stanislawski löst damit die Darstellungskunst von der zufälligen Inspiration. Denn das Einübungen emotionaler Zustände über körperliche Symptome während der Probe, erlaubte es, die Interpretation an konkrete Handlungsanweisungen zu knüpfen und sie somit leichter zu reproduzieren.


Stanislawski veränderte mit den Jahren seinen Stil vom Naturalismus hin zum Symbolismus. Besonders sichtbar wurde diese Veränderung in seiner Inszenierung von Maurice Maeterlincks „Der blaue Vogel“ am Moskauer Künstlertheater 1908.97

Statt naturgetreuen Nachbildungen bis ins kleinste Detail bevorzugt Stanislawski nun skizzierte Bühnenmalerei und neutrale Stoffe. Ganz verzichtete er aber auch in dieser Zeit nicht auf einen Reichtum an szenisch-dekorativen Mitteln und Bühnentechnik. Auch die psychologische Arbeit an der Rolle als Hilfe zur Identifikation mit dem Charakter verliert nicht an Bedeutung. Der Einsatz von Musik vervollständigt das Gesamtkunstwerk Stanislawskis.

Wie einfach und talentvoll stellen Kinder Wolken, Natur, Bauten und die Gegenstände dar, die sie umgeben! […] Die Bühnenbildner müssen naiv, einfach, leicht und überraschend sein wie die kindliche Phantasie. Theatralisches eignet sich am allerwenigsten dafür.98

1.6.4. Körperliche Erfahrungen

Jerzy Grotowski (1933–1999)99 setzte mit seiner Forschung zur physischen Handlung die Arbeit Stanislawskis fort. Er unterscheidet zwischen „sinnlosen“ Tätigkeiten, Bewegungen und Gesten und „sinnhaften“ Handlungen. Eine Handlung ist motiviert.

Tätigkeiten sind es nur dann, wenn sie einem Zweck dienen oder einer inneren Absicht folgen.

Im Unterschied zu Stanislawski arbeitet Grotowski nicht mit Möglichkeiten, sondern mit vergangenen Erfahrungen der SchauspielerInnen.

Im Gegensatz zu Stanislawski geht es bei Grotowski nicht um das emotionale Gedächtnis, sondern um eine Rückbesinnung auf eine frühere Körperlichkeit.

Auf diesen Erfahrungen baut die Struktur der darzustellenden Charaktere auf und aus den dazu gehörigen physischen Handlungen setzt sich der Charakter zusammen.

Die Darstellung ist davon geprägt, die innere Notwendigkeit eben gerade dieser Handlungen zu erleben.

Während Stanislawski physische Handlungen aus dem jeweiligen sozialen Gefüge verwendet, arbeitet Grotowski mit Handlungen, die elementarer sind und einer Suche nach metaphysischen Phänomenen gleichen.100


1.6.5. Der entstellte Körper

Der Schauspieler, Regisseur und Lyriker Antonin Artaud (1896–1948) lehnte radikal die bisher überlieferten Theatertraditionen und deren Auffassungen über Raum, Zeit und Psychologie ab. Er propagierte das Ideal eines Theaters der Grausamkeit, erschaffen aus Mangel und Krisen. Er wertet die Inszenierung gegenüber dem Text auf, der so gemeinsam mit dem sprachlichen und dem körperlichen Ausdruck keine suggestive Einheit mehr bildet. Der Text folgt keinen diskursiven sprachlichen Zusammenhängen, wird fragmentiert und so zur Rebellion gegen die traditionelle westliche Inszenierungspraxis. Der Körper auf dem Theater der Grausamkeit ist stark beeinflusst vom balinesischen Theater. Theater wird für Artaud zur Religion, die sich über die unmittelbare Körperlichkeit ausdrückt. Verbindendes körperliches Element zwischen Bühnen und Publikum war dabei der Atem.101


1.7. Der mediatisierte Körper versus der Körper als Medium

Martina Leeker unterscheidet in ihrem Aufsatz den mediatisierten Körper vom Körper als Medium. Während der mediatisierte Körper zu einer unhintergehbaren Ankoppelung gleich einem Interface des menschlichen Körpers an die Technik wird, steht der Körper als Medium für eine besondere Form der Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und der Technik.

Diese Differenzierung zwischen dem mediatisierten Körper und dem Körper als Medium ist im abendländischen Denken laut Leeker nicht etabliert.

Bereits Platon verwendet den Begriff Medium für den Körper, dessen Verlässlichkeit bezüglich des Zugangs zur Wirklichkeit nur durch die Reinigung mittels Kulturpraktiken gewährleistet ist.102

Geht man aber davon aus,

[…] daß der Körper in seiner naturgegebenen Verfaßtheit kein Medium ist, sondern die zunächst gegebene, unhintergehbare Grundlage unserer Wahrnehmungstätigkeit und Erkenntnisfähigkeit. Wir können Wirklichkeit eben nur im Rahmen unserer biologischen und medialen Möglichkeiten wahrnehmen: oder konstruieren. Das heißt, dieser Körper, der erst mittels der Überformungen durch Medien seine endgültige Prägung erhält, und nicht etwa eine jenseits des Körpers liegenden Wirklichkeit oder ein vom Körper getrennter Geist, bildet unsere Wirklichkeit.103


Der erste Schritt, um den Körper zum Medium zu machen, ist die Fähigkeit des Menschen, Distanz zu sich selbst einzunehmen. Dadurch ist auch der Weg für die Mediatisierung bereitet und der Körper wird zur Schnittstellen zu anderen benutzten Medien. Diese Abständigkeit schafft die Grundlagen für den Menschen, Hilfsmittel und Medien bilden zu können, die im Umgang mit ihnen wiederum auf den Körper zurückwirken.

Der Weg vom mediatisierten Körper zum Körper als Medium verläuft über die Erweiterung des lebendigen Leibes. Dabei muss ein Teil des Organismus abgespalten werden, um dem Individuum die Möglichkeit zu geben, sich selbst beim Mediengebrauch beobachten zu können. „Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.“104

Der zeitgenössische Körper ist allerdings vor allem ein mediatisierter und im Alltag weniger auf seine Unmittelbarkeit ausgerichtet.

Lediglich“ in der (darstellenden) Kunst wird der Körper zum Medium. Martina Leeker sieht drei Kriterien, die den Körper auf der Bühne zum Medium machen:

Die Spaltung der Darstellerin/des Darstellers in ein Subjekt und ein Objekt, in ein Ich und ein Nicht-Ich, die Darstellung.

Daraus ergibt sich die Unterscheidung zwischen der Materialität des Körpers, dem Leib und dem Körper als Zeichen, also dem inszenierten Körper.

Schlussendlich bedarf es eines beobachtenden Publikums, um den Körper als Medium herzustellen. Die Kontrolle über die Darstellung festigt die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nochmals. Der Körper als Medium auf der Bühne suggeriert die Möglichkeit, durch eine kontrollierbare und wiederholbare Technik eine selbstbestimmte Abständigkeit erlangen zu können. An die Macht, den Körper (jederzeit) zum Medium machen zu können und ihn beherrschen und kontrollieren zu können, ist auch die Fähigkeit geknüpft, die Mediatisierung des Körpers ablegen zu können.

Der Körper als Maschine ist beherrschbarer und immer noch „unmittelbarer“ als ein durch andere Medien zugerichteter Körper. In diesem Sinn wirkt das Theater als Veräußerung der Veräußerung, d.h. als Entledigung des Anschlusses an die jenseits des Theaters stattfindenden Veräußerungen in Medien.105


Durch die theatralen Techniken entsteht die Skizze eines „anderen Körpers“, frei von Zeichen oder absolutes Zeichen. Ein „Port“ zu einer anderen Bewusstseins- und Daseinsstufe.

Doch je vollständiger die Kontrolle über die Mediatisierung und je größer die Unmittelbarkeit durch den Körper als Medium, umso enger ist die Anbindung an andere Medien. Der Körper als Medium selbst ist der höchste Grad der Mediatisierung.

So nimmt das Theater seit jeher eine ambivalente Haltung ein. Einerseits durch seine Anpassung an Medien, andererseits durch die Reflexion gerade dieser Beziehung.

In der historischen Betrachtung beginnt Leeker mit der attischen Tragödie, die die Auswirkungen des Übergangs von einer oralen zu einer literarisierten Kultur im wahrsten Sinne des Wortes darstellte und einübte. Die Schrift als neue Kommunikationstechnologie verändert das Gesellschaftsgefüge und machte bestehende Modelle erklärbar, befragbar und nicht zuletzt dadurch kritisierbar.

Der Einzelne ist nicht länger integraler Bestandteil der Gemeinschaft, sondern er tritt aus ihr heraus, stellt sich zweifelnd und ängstlich gegen die Welt. Es scheint sogar so, als sei das Tragische der antiken Helden insofern von der Mediatisierung des Körpers durch die Schrift bestimmt, als daß gerade der Zwang, als Einzelner aus sich und der sozialen Gemeinschaft herauszutreten und als Individuum zu handeln, Ursprung des Tragischen ist.106


Diese „Individualisierung“ findet ihre passende Ausdrucksform in der attischen Tragödie. Das Theater generiert mit der Schrift einerseits die notwendige Distanz zum Reflektieren und andererseits eine Kontrolle der Mediatisierung des Körpers.

Die Reflexivität des Theaters entspricht seinen technischen Verfahrensweisen.“107

Nun übernimmt der tragische Held/die tragische Heldin auf der Bühne stellvertretend den Schmerz und schafft für das Publikum so eine ästhetische Distanz, die die Erfahrung erkennbar und dadurch reflektierbar macht.108


Folgt man der Theorie von Marshall McLuhan („Understanding Media“), ist die menschliche Kulturgeschichte eine Geschichte der sich stets ändernden Wahrnehmungen.109 Der jeweilige Stand der technischen Entwicklung bestimmt unsere Wahrnehmung. So verändert sich durch die Digitalisierung auch der Wahrnehmungsraum des Körpers. Ästhetische Formate wie zum Beispiel die Videoclips auf MTV heben die bisherige handlungsorientierte Erzählstruktur zugunsten einer Bilderflut vom mediatisierten Körper auf. Eine Geschichte und ihre gesellschaftliche Referenz gehen daher verloren.

Für den lebenden Körper gibt es in dieser Technoästhetik keinen Platz. Den Platz zum Präsentieren findet der Körper nun im Theater, das weit mehr Wirklichkeit repräsentiert.

Das Theater wird zum Erfüllungsgehilfen der Schrift, deren Auswirkungen sich nach Leeker auf zwei Ebenen vollziehen: Der psychischen und der kognitiven Ebene.


Auf der psychischen Ebene verändert die Schrift über das Theater die Haltung gegenüber der Welt. Das Theater fungiert als „Trainingsmaschine“, die auf Grund ihrer technischen Gegebenheiten die psychische Struktur der Subjektwerdung durch die Trennung zwischen HandlungsträgerInnen und RezipientInnen ermöglicht.

Ein Muster entsteht, das das Andere und damit die Subjektwerdung festigt.

Verstärkt wird dieses Muster durch die Struktur der Tragödie: Die Charaktere handeln nicht. Sie beklagen ihr Schicksal in Monologen. Der/die Einzelne wird dadurch aus der Gemeinschaft heraus gelöst und ihr als Beispiel gegenüber gestellt.

Das Theater verstärkte die kognitiven, emotionalen und sensorischen Auswirkungen der Alphabetisierung […]“110

Die Narration wird in eine kausale Ordnung gebracht. Sinnliche Daten werden abstrahiert und in einen Bedeutungskontext gesetzt. Der stumme innere Monolog entsteht.

Das Publikum nimmt nicht mehr aktiv an Handlung teil, sondern bildet sich eine Meinung über die ihm vorgelegten Handlungsmodelle.

Dieser Mediatisierung des Körpers widersetzt sich der antike Darsteller durch den Einsatz seines Körpers als Gegenpol zum Text. Der Körper erscheint vieldeutiger. So bilden die Zeichen ihre eigenen Wirklichkeiten, die der Wirklichkeit des Körpers entgegensteht. Lediglich über diese körperliche Wirklichkeit ist ein Zugang zum verlorenen oralen Bezug möglich. So garantiert das Blenden Ödipus scheinbar den Anschluss an die oralen Ordnungen. „Damit wird die Hoffnung und Illusion des Nichtdarstellbaren und Unmittelbaren hervorgebracht. Es wird suggeriert, der Körper sei mehr als die Zeichen, die Medien, die er benutzt.“111

Den Körper als Medium und seine Heilung von der Mediatisierung findet seinen Anfang im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Gesamtkunstwerk Richard Wagners,

der das Publikum ähnlich einer Feedbackschleife direkt an seine Musik anschließt.

Auf einem relativ niedrigen technischen Level beginnt das Zeitalter der technischen Simulation.

Im Gegensatz zu der im Duktus der Schrift entwickelten Repräsentationsformen, die zum Generator symbolischer Ordnungen wurden, kommt es nunmehr zu unmittelbarer Kommunikation von Gehirn zu Gehirn, von Nerv zu Nerv, von Muskel zu Muskel;112


und nicht zuletzt zwischen Mensch und Maschine.

Dieser Wandel hatte massive Auswirkungen auf die Kommunikation der Menschen und nicht zuletzt auf die verwendeten Zeichen und Medien. Der Status der Zeichen, wie sie aus dem Schriftdenken entstanden sind, ändert sich durch die Möglichkeit der technischen/digitalen Medien zur unmittelbaren Kommunikation. Das Zeichen ist nun Signal und nicht länger Bedeutungsträger. Es transportiert Befehle und dient der Information in einer selbstreferenziellen Feedbackschleife. Am Ende dieses Datenstranges steht ein konstruierter Körper, der mittels passender Software reguliert werden kann.

Diese technischen Möglichkeiten einer unmittelbaren Kommunikation verändern die Sicht des Menschen auf die Welt.

Er wird real-physisch sowie in seinem Selbstbild wieder ein Teil von ihr, untrennbar mit der Welt verbunden. Der Verlust des Körpers, der seit Mitte des 20. Jahrhunderts beklagt wird, geht auf diese Reintegration zurück. Der Schriftkörper, der sich aus der Distanz zur Umwelt konstituierte, geht insofern verloren, als er sich nun als informationsver-arbeitendes Erregungsmuster in die Umwelt hinein auflöst. Ohne klare Begrenzung existiert der Körper als Einheit nicht mehr.113


Daraus folgert Leeker, dass die digitalen Medien unsere Beziehung zur Wirklichkeit verändern und uns Unmittelbarkeit bringen.

Extreme Beispiele dieser technischen Unmittelbarkeit sind die Arbeiten der KünstlerInnen Stelarc114 und Orlan115, die den Übergang reproduzieren und sozialisieren.

Die digitalen Medien schließen uns wieder an die taktile, d.h. die neuronal-sensorische Ebene unseres Körpers an, die uns nach den langen Zeiten der Vorherrschaft einer von der Schrift mediatisierten Existenz diffus, unspürbar und immateriell erscheinen muss.

In dieser Sicht entspricht unser Empfinden vom Verlust des Körpers und der Wirklichkeit dem Verlust der Kontrolle über den Körper und die Wirklichkeit.

Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden. Im Schrifttheater wurde mittels theatraler Distanz dem Menschen Kontrolle über seinen Körper vorgeführt, als exemplarisches Ebenbild der distanzierten Haltung zur Welt, einer Art Schriftexistenz. Die Heilung von dieser Mediatisierung wurde in der Illusion eines unmittelbar an orale Kontexte angeschlossenen Körper entworfen.

Im Theater des 20. Jahrhunderts kehren sich die Verhältnisse von Mediatisierung und Medialität des Körpers um: Nun gilt die Distanz als Heilsversprechen und wird der unmittelbaren Beteiligung von DarstellerInnen und ZuschauerInnen gegenüber gestellt.





1 Alexander Ulfig, Lexikon der philosophischen Begriffe, Fourier Verlag, Wiesbaden 1997, S. 234.

2Auch im Alltag ist diese Einheit nicht immer selbstverständlich. Mittels Körperarbeit, Bewegungs- und Tanztechniken sowie Fitnesstrainings versuchen wir den Bezug zum eigenen Fleisch und Blut wieder her zu stellen. Vgl.: Uta Klawitter, Die Weisheit des Körpers befragen, Bewusst-werden durch Bewegung, Walter Verlag, Olten 1992. Helmut Milz, Der wiederentdeckte Körper, Vom schöpferischen Umgang mit sich selbst, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994.


3 Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, Einführung in die Körpergeschichte, edition diskord, Tübingen 2000, S. 20.

4 Vgl.: Immanuel Kant: Synthetische Urteile (Erweiterungsurteile);

„In allen Urteilen, worinnen das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird, […] ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. […] Analystische Urteile (die bejahende) sind also diejenige, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität, diejenige aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen.“

Immanuel Kant, Kritk der reinen Vernunft, Meiner Verlag, Hamburg 1998, S. 57.

5Hartmut Winkler, Schmerz, Wahrnehmung, Erfahrung, GenusS. Über die Rolle des Körpers in einer von Medien bestimmten Welt in: Parombka, Stephan; Scharnowski, Susanne (Hg.), Phänomene der Derealisierung, Passagen Verlag, Wien 1999, S. 211.

6 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt 1985, S. 13.

7 Helmuth Plessner (1982–1985) neben seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Kants (Untersuchungen zu einer Kritk der philosophischen Urteilskraft, Habilitation, Köln 1920) ist sein Name eng mit dem Begriff der modernen philosophischen Anthropologie verbunden und mit „[…] seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen und der Methode der Philosophie. P. verfolgt dabei das Ziel einer Neuschöpfung der Philosophie, um die Spaltung der Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaften sowie der Philosophie in Wissenschafts- und Weisheitslehre zu überwinden.“ Julian Nida-Rümelin (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Von Adorno bis v. Wright, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1999, S. 569.

8 Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 2001, Bd. 3, S. 427.

9 Die sieben Körper sind der physische, der ätherische, der astrale, der mentale, der spirituelle, der kosmische und der nirvanische. Vgl.: Osho: Meditation. Die Kunst der Ekstase, Innenwelt Verlag, Köln 1995, S. 258ff.

10 Vgl.: Barck, Ästhetische Grundbegriffe, S. 428ff

11 Vgl.: Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 35ff.

12 F. Hölderlin, 1794–1795 Gedichte/Fragmente von Hyperion, D.E.Sattler (Hg.), Bd.4, Luchterhand, München 2004, S. 100.

13 Vgl Lorenz, S. 32–35. Ihre Arbeit ist nicht unumstritten. Siehe auch: Walter, Tilmann (2001, Oktober). Rezension zu: Maren Lorenz (2000). Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Vgl.: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, Online Journal, 3(1). Unter: Zugriff: 20.06.2005.

14 Himmelskörper, Körperschaft, Verkörperung; Man spricht von politischen, mathematischen, staatlichen Körpern; alle ohne Leib.

15 Bereits die Römer verstanden unter corpus auch ein umschließendes Kleidungsstück. Vgl. Lorenz, Körpergeschichte, S. 34.

16 Dietmar Kamper, Körper, in: Barck, Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, S. 429.

Vgl. derselbe: Das Marburger Religionsgespräch zwischen Luther und Zwingli – oder der Bruch in der Wahrnehmung des Heiligen am Ausgang des Mittelalters, in: Zur Geschichte der Einbildungskraft, Rowohlt, Reinbek 1990, S. 141–160.

17 Vgl.: Husserls Konzept der Leiberfahrung durch Selbstberührung (taktiles Chiasma), in: Edmund Husserl,

Rochs Sowa (Hg.), Husserliana-Gesammelte Werke, Bd. 39, Die Lebenswelt, Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution, Texte aus dem Nachlass (1916–1937), Springer Verlag, Dordrecht 2008, S. 603–636.

18 Die kritische Theorie steht im Zusammenhang mit der von Adorno und Horkheimer begründeten „Frankfurter Schule“. Aus dieser ursprünglich marxististischen Theorietradition heraus wollte Horckheimer „[…] mit seiner neuen Theoriebegründung die bis dato geübte Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse überschreiten – und mit einem Programm, das mit Gegenbegriffen zum „instrumentell-rationalistischen“ operieren sollte – die Maßstäbe der Kritik auf sämtliche Ansprüche moderner Wissenschaften übertragen.“ In: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1 (A–N), Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999, S. 750f.

19 Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 33.

20 Siehe Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch, Bd. 5: L–Mn, Schwab-Verlag, Basel/Stuttgart 1980, Spalten 173–206.

21 So sieht zum Beispiel die Genderforschung Geschlechterrollen als in den Körper eingeschriebene soziale Rollen, die nicht zwangsläufig an biologische „Tatsachen“ gebunden sind. „Man kommt nämlich nicht als Frau zur Welt, man wird eS. “ Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Rowohlt, Reinbek 1992, S. 334.

22 res extensa (Materie) und res cogitans (Bewusstsein) Vgl.: Alexander Ulfig, Lexikon der philosophischen Begriffe, S. 247.

23 Sogenannte Lebensgeister (spiritus animales), die sich in den Nervenbahnen bewegen und einerseits die Seele anstoßen und andererseits von ihr Stöße empfangen.Vgl.: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag/Christoph Wulf (Hrg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2005, S. 174.

24Malebranche nennt es Beihilfe Gottes, „assistentia supernaturalis“.Vgl.: Kurt Friedlein, Geschichte der Philosophie: Lehr- und Lernbuch, Wilkens Verlag, Hannover 1951, S. 140f. Vgl.: Nicolas Malebranche, Abhandlung von der Natur und der Gnade, Meiner Verlag, Hamburg 1993.

25 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 37.

26 Erschienen 1896 in französischer und 1908 in deutscher Sprache.

27 Vgl.: Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987.

28 Vgl.: Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Engelmann Verlag, Leipzig 1874.

29Vgl.: Catherine Newmark, Verkörperung: Versuch einer historischen Analyse der Idee des Körpers als Effekt, Wilhelm Wundt und Sigmund Freud zum Leib-Seele-Problem, in: Karl Brunner (Hg.), Verkörperte Differenzen, Reihe Kultur.Wissenschaften; Bd. 8,3, Turia und Kant Verlag, Wien 2004, S. 44–58.

30 Vgl.: Sigmund Freud, Schriften über Träume und Traumdeutungen, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1997.

31 Vgl.: Catharine Newmark, Verkörperung, S. 51. Besonders der Freudsche Perspektivwechsel, der das Normale aus dem Krankhaften ableitet, stößt auf Ablehnung.

32 Seine diesbezüglichen Ansätze sind in seinen Hysterien-Schriften nachzulesen. Vgl.: Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, Fischer Taschenbücher, Frankfurt am Main 1993.

33 Newmark, Verkörperung, S. 55.

34 Vgl.: Ebenda

35 Siehe Stefanie Duttweiler, Ein völlig neuer Mensch werden – Aktuelle Körpertechnologien als Medien der Subjektivierung, in: Karl Brunner (Hg.), Verkörperte Differenzen, Reihe Kultur.Wissenschaften; 8,3, Turia und Kant Verlag, Wien 2004, S. 130–146.


36 Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 15.

37 Emily Martin, The End of the Body?, in: Blackwell Publishing, American Ethnologist, Vol. 19, Nr. 1, Arlington Feb. 1992, S. 121–140.

38 Helmut Bast, Der Körper als Maschine. Das Verhältnis von Descartes’ Methode zu seinem Begriff des Körpers, in: Elisabeth List/Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Passagen Verlag (Passagen Philiosophie). Wien 1997, S. 19.

39 Vgl.: Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 21f.

40 „Essentialisten [...] postulieren den menschlichen Körper (des „homo sapiens“) und damit de facto auch die Zweigeschlechtlichkeit als historische und das heißt anthropologische und damit kulturübergreifende Konstante.“ Vgl.: Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 23.

41 Vgl.: Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 21f.

42 Ebenda S. 26.

43 Vgl.: Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas 1 – Von der Antike bis zur deutschen Klassik, A. Francke Verlag, Tübingen 1999, S. 61-94.

44 Im Mittelalter ist die Kirche die vorherrschende ideologische Macht und verdrängt Traditionen aus dem Altertum. Der kirchlichen Autorität unterlag sämtliches philosophisches und wissenschaftliches Denken. Der Glaube stand über dem Wissen. „Das Ideal einer rationalen Durchdringung der Erfahrungswelt nach den Gesetzen der Logik lag fern.“ in: Peter Simhandl, Theatergeschichte in einem Band, Henschel Verlag, Berlin 2001, S. 54. Die Entstehung der geistlichen Spiele ist somit eine Neuschöpfung. Bis dahin galt das Theater aus klerikaler Sicht als Ort der Sünde, den es zu bekämpfen galt.

„Aber damals, im Theater, freute ich mich mit den Liebenden, wenn sie, obzwar es nur scheinweise auf der Bühne geschah, in Schande einander genossen; mußten sie aber von einander lassen, so war ich wie aus Mitleid betrübt: doch am einen wie am andern hatte ich mein Vergnügen. […]“ in: Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, Drittes Buch, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 77.

45 Vgl: Heinz Kindermann, Theatergeschichte Bd. I, Das Theater der Antike und des Mittelalters, O. Müller Verlag, Salzburg 1957, S. 226ff.

46 Vgl.: Peter Simhandl, Theatergeschichte in einem Band, Henschel Verlag, Berlin 2007,

47 Graduale (Stufengesang) sind „Liedtexte“ im Rahmen der Liturgie. Vgl.: Rene Clemencic [u.a.], Allgemeine Musikgeschichte, Österreichischer Bundesverlag, Wien 1972, S. 59.

48 Weiters gab es Marienklagen und Weltgerichts- und Fronleichnamspiele. Vgl.: Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, Bd.1, Von der Antike bis zur deutschen Klassik, UTB Verlag, Stuttgart 2005, S. 61–65.

49 Im 13. Jahrhundert entstanden verstärkt neue Berufsstände des Handwerks und des Handels und bildeten in den aufblühenden Städten das Bürgertum.

50Diese neue „Freiheit“ führte bei den Menschen aber auch zu einem Gefühl des Ausgesetztseins.

Zusätzlich ging das Vertrauen auf die Geborgenheit im göttlichen Schoß verloren. Nun zweifelte der/die Gläubige. Um die „verlorenen Schafe“ zurück zu holen, musste das religiöse Theater nun überzeugen, im Glauben bestärken und das Gewissen erschüttern. Ebenda.

51 Fabrizia Baldissera/Axel Michaels, Der Indische Tanz, DuMont Verlag, Köln 1988.

52 Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: derselbe, hrg. von Günter Dux [u.a.], Gesammelte Schriften, Bd. 7, Ausdruck und menschliche Natur, S. 399–418 und derselbe, Conditio humana in: Golo Mann/Alfred Heuß (Hg.), Propyläen Weltgeschichte. Bd. I, S. 33-86. Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1961.

53 Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 407.

54 „Cenie ist Madame Hensel. […] Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es kömmt aus ihrem eigenen Kopfe, aus ihrem eigenen Herzen.“, in: Gotthold Emphraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 102.

55 Vgl.: Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 133.

56 Zur technischen Entwicklung im Theaterbau: Vgl.: Manfred Brauneck/Gerard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon, Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg, 1990, S. 886–905.

57 Vgl.: Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 133.

58 Ebenda.

59 Heinrich von Kleist, Über das Marionettetheater, in: Derselbe, Der Zweikampf, Die heilige Cäcilie, Sämtliche Anekdoten, Über das Marionettentheater und andere Prosa, Reclam Verlag, Stuttgart 1990, S. 92.

60 Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863–1938) war dreißig Jahre lang am Moskauer allgemeinzugänglichen künstlerischen Theater (MChAT) als Direktor, Regisseur, Schauspieler und Pädagoge tätig. Sein Stanislawski-System der „physischen Handlungen“

entwickelte er autodidaktisch. Vgl.: Manfred Brauneck (Hg.),

Konstantin Sergejewitsch Stanislawwski (1863–1938), in: Klassiker der Schauspielregie, Positionen und Kommentare zum Theater im 20. Jahrhundert, Rowohlt Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 45–78.

61 Konstantin S. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst I, Ausgewählte Schriften, hrg. von Dieter Hoffmeier, Das europäische Buch, Berlin 1988, S. 27.

62 Konstantin S. Stanislwaski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst II, Ausgewählte Schriften, hrg. von Dieter Hoffmeier, Das europäische Buch, Berlin 1988, Ebenda.

63 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, Philosophische Exkurse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 76–78.

64 Edward Gordon Craig (1872–1966) war englischer Schauspieler, Regisseur und Bühnenbildner. Er gehörte zu den wesentlichen Theoretikern der Theateravantgarde und bestimmte neben Appia die Reformen und Experimente des Theaters zwischen 1900 und 1930. 1911 verfasste er sein Hauptwerk „Die Kunst des Theaters“, das zu einer wichtigen Grundlage der Theaterkonzepte des modernen Theaters wurde. Der Grundgedanke ist, das Theater als eine autonome unabhängige Kunst zu sehen. Er vertritt also nicht das Prinzip des Gesamtkunstwerks. Vielmehr sieht er in dem Regisseur die Person, die Teile des Theaters (Schauspieler, Kostüm, Bühnenbild und Drama) zu einem Kunstwerk aus Bewegung, Farbe, Licht und Klang zusammensetzt. Der Schauspieler soll dabei nicht den Charakter einer Figur interpretieren, sondern durch Stimme und Körpersprache die Inszenierung beleben. Jedoch hat er dabei keine übergeordnete Stellung gegenüber den anderen Bühnenmitteln. Der Schauspieler wird durch die Über-Marionette ersetzt. Meyerhold begegnete Craig zum ersten Mal 1907 in Berlin. In: Lothar Schwab/Richard Weber: Theaterlexikon. Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co,. Frankfurt am Main 1991, S. 86.

65 „Kunst darf, wie wir gesagt haben, keine zufälle dulden. Was der schauspieler darbietet, ist also kein kunstwerk. es ist eine folge vom zufall gelenkter bekenntnisse.“ Edward Gordon Craig, „Der schauspieler und die übermarionette, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert, Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Rowohlt Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 57.

66 Vgl.: Jürgen Fritz, MA-Präsentierte Person, in: Slaps banks plots #2, Verlag IL/Asa-European, Köln 1998; o.A.

67 Vgl. Orlan, This is my Body, this is my Software, zitiert nach: Barbara Rose, Art Cuts, in: “Face”, Nr. 52, Jan. 1993; in Anlehnung dazu die deutsche Übersetzung in: Philip J. Sampson, Die Repräsentation des Körpers, in: Kunstforum International, Bd. 132: Die Zukunft des Körpers I, Hg. Florian Rötzer, Nov. 1996–Jan. 1996, S. 107.

68 Turner gilt als Vertreter der symbolischen Anthropologie. Vgl.: Victor Witter Turner,Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005.

69 Der französische Ethnologe Arnold Gennep (1873–1957) publiziert 1909 sein Werk Übergangsriten: (les rites de Passage), in dem er die Rituale beschrieb, mit denen Individuen im Laufe ihres gesellschaftlichen Lebens von einem Zustand (Lebensabschnitt – Jugendliche/Erwachsene oder sozialem Zustand – unverheiratet/verheiratet) in einen anderen Zustand kommen. Rituale sichern dabei die unsicheren Zwischenzustände. Vgl.: Arnold van Gennep, Übergangsriten: (les rites de Passage), Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005.

70 Turner prägt dafür den Begriff der Liminalität, der den Zustand beschreibt, in dem sich eine soziale Gruppe befindet, die sich von der herrschenden Sozialordnung gelöst hat und auf der Suche nach einer neuen Identität ist. Vgl.: Wilhelm Bautz/Traugott Bautz, Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XXVI, Bautzverlag, Herzberg 2006, Spalten 1501- 1534.

71 Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Die Kultur des Rituals – Inszenierungen, Praktiken, Symbole, Finkverlag, München 2004, S. 15.

72 Richard Hehn, Spiele ohne Grenzen, in: parapluie – elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literatur Nr.14, unter: http:// , Zugriff: 29.12.2007, o.A.

73In so genannten primitiveren Kulturen werden Rituale nach ihrer Wirksamkeit beurteilt. Ein Regentanz muss Regen bringen. Der Verlust der Wirksamkeit bedeutet nicht zwangsläufig einen Wechsel zum Entertainment. Wichtig ist bei prätheatralen Performances, ob die Repräsentation fiktonalen oder sozialen Charakter hat. Ebenda.

74 Hehn erweitert den zeitlich begrenzten und flüchtigen Begriff der Theateraufführung um die Institution und sieht so im Theater ein komplexes soziales, ökonomisches und kulturelles System. Vgl.: derselbe, Spiele ohne Grenzen, o.A:

75 Die Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (wörtlich Heimliche Aufständische Rebellen-Clownarmee) ist aus der „Direkten Aktion“ entstanden und protestiert gewaltfrei seit 2003 unter anderem gegen Globalisierung und Kriege. „CIRCA“, unter: http:// , Zugriff: 27.07.2008.

76 Hehn, Spiele ohne Grenze, o.A.

77 Richard Hehn, Spiele ohne Grenzen, o.A.

78 Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 106.

79 Ebenda, S.106f.

80 Bertolt Brecht zitiert nach Knopf, Brecht-Handbuch, Theater, S. 388.

81 Vgl.: Oskar Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, in: derselbe, Idealist der Form, Briefe, Tagebücher, Schriften, Reclam Verlag, Leipzig 1990, S. 142–155.

82 Ebenda, S. 153f.

83 Oskar Schlemmer zitiert nach: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, S. 145.

84 Zitronengelb (heiter, burlesk), rosa (festlich, getragen) und schwarz (mystisch, phantastvoll), vgl.: Werner Broer (Hg.), Epochen der Kunst, Bd. 5, 20. Jahrhundert, Vom Expressionismus zur Postmoderne, Oldenbourg-Verlag, München 1997, S. 131.

85 Oskar Schlemmer, Idealist der Form, S. 97.

86 Ebenda, S. 95.

87 Er teilte diese Ansicht u.a. mit Sergej M. Eisenstein und Alexander I. Tairow. Vgl.: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, S. 322–327 und S. 389–391.

88 Trainiert wurde die Orientierung im Raum, das Beherrschen von Gegenständen, Interaktion, Gymnastik, Akrobatik, Tanz, Rhythmik, Fechten und Boxen. Vgl.: Manfred Brauneck/Gerard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon, S. 135.

89 Meyerhold war von 1898 bis 1902 am Moskauer Künstlertheater als Schauspieler beschäftigt. Vgl.: Manfred Brauneck (Hg.), Klassiker der Schauspielregie, S. 150.

90 Vgl.: Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, S. 316ff. Über das „bedingte Theater“ Meyerholds.

91 Wsewolod Meyerhold/Alexander Tairow/Jewgeni Wachtangow, Theateroktober – Beiträge zur Entwicklung des sowjetischen Theaters, Reclam Verlag, Leipzig 1972, S. 43.

92 Stanislawski ließ auch Räume nachbauen, die vom Publikum nicht eingesehen werden konnten, um seinen SchauspielerInnen die für die Einfühlung notwendige Atmosphäre zu schaffen. Vgl.:Brauneck (Hg.),

Theater im 20. Jahrhundert, S. 383.

93Ebenda.

94 Stanislawski sah die Meininger auf ihrer Russlandtournee, die 1885 begann und war von den Regieeinfällen, den detailgetreuen Dekorationen und Requisiten, den Kostümen und der Organisation der Statisterie beeindruckt. Vgl.: Manfred Brauneck/Gerard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon, S. 572f.

95 Das Stück wird 1898 aufgeführt und zeichnet sich durch äußere Handlungsarmut aus. Stanislawski konzentrierte sich auf die innere Entwicklung der Charaktere. Manfred Brauneck (Hg.), Klassiker der Schauspielregie, S. 45.

96 Konstantin S. Stanislavskij, Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Henschel Verlag, Berlin 1983.

97 Ebenda, S. 52f.

98 Konstantin S. Stanislawski, Moskauer Künstlertheater, Ausgewählte Schriften I, Henschel Verlag, Berlin 1988, S. 128.

99 Vgl.: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1986. Vgl.: Peter Brook/Jerzy Grotowski (Hg.), Für ein Armes Theater, Orell Füssli Verlag, Zürich 1986.

100 Vgl.: Jerzy Grotowski, Methodische Erforschung, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Reclam Verlag, Stuttgart 1991, S. 290–295.

101 Vgl.: Antonin Artaud, Die Inszenierung und die Metaphysik, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, S. 334–339.

102 Vgl.: Martina Leeker, Der Körper des Schauspielers/Performers als ein Medium.

Oder: Von der Ambivalenz des Theatralen, in: Sybille Krämer (Hg.), Über Medien. Geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektive, S. 20–35,

unter: , Zugriff: 27.07.2008.

103 Ebenda, Fußnote 2.

104 Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesung 1999, Merve Verlag, Berlin 2002, S. 28.

105 Martina Leeker, Der Körper des Schauspielers, o.A.

106 Ebenda.

107 Ebenda.

108 Die Idee der rituellen Opferung wurde im antiken Theater dem Prinzip der Repräsentation angepasst.

109 Vgl.: Gabriella Hima, Körperlichkeit gegen Verbalität und Visualität – Theater im Kontext der Medien, in Trans – Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr.9/Juli 2001, unter: , Zugriff: 27.07.2008.

110 Derrick de Kerckhove, Schriftgeburten: vom Alphabet zum Computer, Fink Verlag, München 1995, S. 72.

111 Martina Leeker, Der Körper des Schauspielers als Medium, o.A.

112 Ebenda.

113 Martina Leeker, Der Körper des Schauspielers als ein Medium, o.A.

114 Stelarc (eigentlich Stelios Arcadiou, geb. 1946); griechischer Medienkünstler; Unter: , Zugriff: 27.07.2008.

115 Orlan (geb. 1947), franz. Medienkünstlerin; Unter: Zugriff: 27.07.2008

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