Installiere die Dokumente-Online App

<
>
Download
Dokumenttyp

Diplomarbeit
Erziehungswissenschaf­t

Universität, Schule

Friedrich-Schiller-Universität Jena - FSU

Note, Lehrer, Jahr

1, Merten, 2006

Autor / Copyright
Bettina B. ©
Metadaten
Preis 14.00
Format: pdf
Größe: 0.80 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 73204







Friedrich-Schiller-Universität

Fakultät für Sozial- und Sozialwissenschaften

Institut für Erziehungswissenschaft


Kinder- und Jugendarmut

Eine qualitative Fallanalyse über die Identitätsbildung beim
Aufwachsen unter langjährigen Armutsbedingungen“


Magisterarbeit


zur Erlangung des akademischen Grades

MAGISTRA ARTIUM (M.A.)


vorgelegt von: XY

geboren: …….


Erstgutachter: Prof. Dr. XY

Zweitgutachter: Dr. XY


Jena, den 15. Februar 2007


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis II

Abkürzungsverzeichnis IV

Abbildungsverzeichnis V

Tabellenverzeichnis VI

1 Einleitung 1

2 Kinder- und Jugendarmut 3

2.1 Armut und soziale Benachteiligung im Sozialstaat 3

2.2 Die Armutsforschung und ihre Konzepte 4

2.3 Armutsrisiken 11

2.4 Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen 13

2.5 Die Auswirkung von Armut auf Kinder und Jugendliche 17

2.6 Das Aufwachsen unter Armutsbedingungen 22

2.7 Risiko- und Schutzfaktoren 24

3 Identität 30

3.1 Begriffsbestimmung Identität 30

3.2 Eriksons Konzept der Identität 31

3.3 Sozialisation 38

3.4 Zusammenfassung und Konkretisierung der Fragestellung 45

4 Methodischer Hintergrund 46

4.1 Die Biografieforschung in der Erziehungswissenschaft 46

4.2 Methodologie der Biografieforschung 47

4.3 Ausgewählte Methode der Datenerhebung 48

4.4 Ausgewählte Methode der Datenauswertung 50

4.5 Interviewanalyse 51

4.5.1 Vorbereitung und Durchführung der Interviews 51

4.5.2 Datenaufbereitung 53

5 Die Falldarstellung von Lisa K. 54

5.1 Fallbeschreibung 54

5.2 Die Ergebnisse der Interviewauswertung 56

5.3 Geburt und Kindheit bis zum Schulbeginn 57

5.4 Die familiäre Situation – „ Hier haste nur Stress, dir geht´s hier nich gut, du fühlst dich hier nich wohl“(511/512) 58

5.4.1 Die Darstellung der Mutter-Kind-Beziehung 58

5.4.2 Die finanzielle Situation 60

5.5 Schule und Peergroup 65

5.6 Orientierung nach außen - Lisas Wunsch nach Normalität 66

5.7 Lisas individuelle Entwicklung – Schutzfaktoren 67

5.7.1 Die Schwiegerfamilie und ihr Freund 67

5.7.2 Träume als Lisas persönliche Ressource 68

5.7.3 Lisas Fähigkeit, ihre Familie zusammenzuhalten 69

5.7.4 Der Onkel als Unterstützer 69

6 Diskussion - Zusammenhang von Kinderarmut und Persönlichkeitsentwicklung 71

6.1 Methodenkritik 75

6.2 Ausblick 76

Anhang 78

Literaturverzeichnis 106


Abkürzungsverzeichnis

BCS Bildungs-Center-Südthüringen

EU Europäische Union

EVS Einkommens- und Verbraucherstichprobe

SOEP Sozioökonomischer Panel

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Armutskonzeption

Abb. 2: Die Armutsgrenze von Sen als Funktion des Durchschnittseinkommen

Abb. 3: Die fünf Dimensionen von Armut

Abb. 4: Einflussfaktoren auf die Lebenssituation von (armen) Kindern und Jugendlichen

Abb. 5: Risikofaktoren für Kinder im frühen Kindesalter

Abb. 6: Schutzfaktoren für Kinder im frühen und mittleren Kindesalter

Abb. 7: Die fünfte Phase im Entwicklungsmodell nach Erikson – Identität versus Identitätsdiffusion

Abb. 8: Sozialisation als produktive Vorbereitung von innerer und äußerer
Realität

Abb. 9: Familiäre Konstellation – Genogramm Lisa K.

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Bezieherquote HLU sowie verdeckte Armut

Tab. 2: Kinder und Jugendliche in Einkommensarmut 1990 und 1995

Tab. 3: Armutsquote relativer Einkommensarmut nach sozio-demographischen Merkmalen

Tab. 4: Armutsrisiko bei Kindern und Jugendlichen nach Haushaltstypen, Alters- und Bevölkerungsgruppen im Jahr 2001

Tab. 5: Kinder in der Sozialhilfe nach Altersgruppen (Ende 2002)

Tab. 6: Anteile der Kinder mit Einschränkungen in vier zentralen Dimensionen der kindlichen Lebenslage

Tab. 7: Kindspezifische Lebenslagen von Vorschulkindern

Tab. 8: Die acht Phasen des Lebenszyklus und seine Krisen

Tab. 9: Identitätszustände nach Marcia


  1. Einleitung

Kinder- und Jugendarmut ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit zunehmend Beachtung findet. Verglichen mit anderen Ländern, wie zum Beispiel den USA oder Finnland, ist das Problem der „Kinderarmut“ allerdings in der Bundesrepublik erst sehr spät in den Fokus gerückt. Es war unvorstellbar, dass diese Thematik in einem reichen Land wie Deutschland ein ernstzunehmendes Problem darstellen könnte.

Als untersuchte Gruppe wählte ich für dieses Thema Kinder und Jugendliche, da sie im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung und speziell der Identitätsentwicklung bislang kaum Berücksichtigung finden. Es ist davon auszugehen, dass Armut bei Kindern und Jugendlichen als eine Ausprägung von sozialer Benachteiligung noch kein öffentlich anerkanntes Problem darstellt.

So bestätigte die Bundesregierung erst vor einigen Jahren ein Armutsproblem bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland.1 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Kinder und Jugendliche in der Armutsforschung seit den 1980er Jahren meist nicht als eigenständige Gruppe, sondern als Angehörige von einkommensschwachen Haushalten thematisiert wurden (vgl. Holz, 2005, S. 88.).


Was bedeutet es für die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen, unter langjährigen Armutsbedingungen aufzuwachsen? Welche Rolle spielt dabei das familiäre System? Bislang sind diese Fragen nur in einigen Studien mehr oder weniger ausführlich behandelt worden. Dabei ist die Identitätsbildung unter eingeschränkten Lebensverhältnissen ein wichtiges Thema.

Diese Arbeit widmet sich explizit der Identitätskonstruktion von Kindern und Jugendlichen und stellt zur Verdeutlichung der Persönlichkeitsentwicklung unter kritischen Lebensereignissen die biografische Fallanalyse eines Jugendlichen vor. Die bisherigen Publikationen zu Kinder- und Jugendarmut und deren Auswirkung auf die Entwicklung befassen sich weitgehend mit dem Gesundheitsverhalten der Mädchen und Jungen.

Der Identitätsbildung kommt dabei meist, wenn sie überhaupt thematisiert wird, eine untergeordnete Rolle zu. Wie Kinder ihr Selbst bilden, welche Bedeutung die emotionale Zuwendung in Primärbeziehungen, die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften und die Integration und Teilhabe an Aktivitäten der gleichaltrigen Gruppe für sie hat, diese Aspekte wurden bisher weitestgehend vernachlässigt.


Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich mich diesen Fragen nähern und versuchen herauszufinden, in welchem Maß und in welcher Form die soziale Benachteiligung Auswirkung auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen hat. Dazu werde ich biografische Interviews mit einigen Jugendlichen heranziehen und herausarbeiten, ob und in welchen Merkmalen sich solch eine Benachteiligung in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung äußert.

Das Thema der Arbeit verbindet den Bereich der Armutsforschung mit der Thematik der Identitätsbildung. So soll im Folgenden ein Überblick über das Ausmaß von Armut und relevante Erkenntnisse der Armutsforschung gegeben werden. Sozialwissenschaftliche Theorien über die Identitätsentwicklung, speziell das Konzept von Erikson, schließen sich an. Ein biografisches Interview mit einem Jugendlichen soll dann Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Identitätsmerkmalen und Elternarmut geben, so dass abschließend die zu Beginn formulierte Fragestellung beantwortet und konkrete Hypothesen formuliert werden können.

  1. Kinder- und Jugendarmut

Die nachfolgende Darlegung zum Thema Armut im Kindes- und Jugendalter beginnt mit einer allgemeinen Einführung in das Thema Armut und soziale Benachteiligung im Sozialstaat. Anschließend werden die Armutsforschung und ihre Konzepte zur Messung von Armut in der Bevölkerung vorgestellt. Der nächste Abschnitt spezifiziert die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit einführenden Bemerkungen zu Ursachen und Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen.

Im Anschluss daran werden einige Folgen der sozialen Benachteiligung im Kindes- und Jugendalter erläutert. Das Kapitel schließt mit Gedanken zu Risiko- und Schutzfaktoren sowie zur Resilienzforschung.

    1. Armut und soziale Benachteiligung im Sozialstaat

Die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat gehört mit zu den wohlhabendsten Ländern dieser Welt. Doch konnten auch im Zuge der „Wohlstandsexplosion“ (Geißler 1992, S. 38) nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich verteilte Lebensbedingungen nicht beseitigt werden. Der Sozialstaat und seine soziale Sicherung haben zu quantitativen und qualitativen Veränderungen beigetragen (vgl. Merten 2002, S. 359).

In den 70er und 80er Jahren kam es vermehrt zu öffentlichen Diskussionen über Armut und deren Ausmaße. Zunächst wurden nur Randgruppen und deren Probleme diskutiert, später stellte sich heraus, dass man es mit einer gesamtgesellschaftlichen Thematik zu tun hatte. Der Begriff „neue Armut“ rückte nun in den Mittelpunkt. Geißler versteht unter der „neuen Armut“ ein Bündel von Merkmalen und Entwicklungen, die wiederum die Betrachtungsweise von Armut in der Bundesrepublik verändert haben (vgl. Geißler 1992, S. 170ff.). Eklatante Veränderungen in der Einkommensverteilung haben dazu geführt, dass man von einem zunehmenden Auseinanderklaffen der Einkommensschere sprechen kann.

Die Lebensverhältnisse haben sich in Deutschland derart verändert, dass es immer schwieriger wird, eigenständig sein Dasein zu sichern. Dabei betreffen diese Schwierigkeiten nicht nur die Randgruppen, sondern auch Bevölkerungsteile, die sonst als „sozial unauffällig“ beschrieben wurden. Zu den wichtigsten Gründen für den Anstieg der Armut in Deutschland gehören Probleme bezüglich der Wohnsituation (gestiegene Mieten, unzumutbare Sozialwohnungen), Probleme bezüglich des Einkommens (negative Einkommensentwicklung gemessen am Reallohn, eine hohe Arbeitslosenzahl), Probleme der Absicherung (vermehrte finanzielle Belastungen im Krankheitsfall, geringe gesellschaftliche Absicherungen von Kindern und Familien) und gewandelte Lebensverhältnisse (eine höhere Zahl von Einelternhaushalten, Migration).

Die Folgen dieser „neuen Armut“ sind unüberschaubar geworden. Fest steht, dass immer mehr Kinder und Jugendliche betroffen sind, so dass in der Fachliteratur von einer „Infantilisierung der Armut“ gesprochen wird. Politische Maßnahmen wie Hartz IV konnten an dieser Lage wenig ändern. Eher tritt das Phänomen der „Working Poor“ auf, worunter zu verstehen ist, dass Menschen trotz Erwerbstätigkeit nicht über ausreichende Mittel verfügen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu finanzieren (vgl. Holz 2005, S. 3).

Dies betrifft besonders alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern.

    1. Die Armutsforschung und ihre Konzepte

Ab wann ein Mensch von Armut betroffen ist, bestimmen gesellschaftliche und politische Akteure in Form von Grenzwerten. Hanesch et al. merken diesbezüglich jedoch kritisch an, dass die Ergebnisse bezüglich des Umfangs und der Struktur des Armutspotenzials durch die Wahl des Messverfahrens stark beeinflusst werden. Sie definieren den Begriff Armut wie folgt:

„Armut ist (…) eine soziale Kategorie, deren konkrete Ausgestaltung in ganz besonderem Maße von sozialen Definitionsprozessen abhängig ist.“ (Hanesch et al. 1994, S. 23)

Aus dieser Definition geht hervor, dass es eine allgemeingültige Definition von Armut aufgrund der Komplexität von Armuts- und Unterversorgungslagen nicht geben kann. Je nach Untersuchungsgegenstand wird der Begriff Armut neu festgelegt. So betont auch Hauser:

„Auf die Frage, was Armut ist, gibt es überhaupt keine objektive, wissenschaftlich beweisbare Antwort“ (Hauser 1997, S. 19).

Zur Identifikation von Armut werden in der Armutsforschung zwei Konzepte verwendet: das Ressourcen- und das Lebenslagenkonzept (vgl. hierzu u.a. Hauser/Neumann 1992; Hauser et al. 1981). Das erste Konzept bedient sich einer eher monetären Betrachtungsweise zur Armutsabgrenzung, die über Ressourcen läuft. Das zweite Konzept betrachtet die Armutsabgrenzung mehrdimensional und basiert auf der Lebenslage von Personen.

Hierbei werden vor allem Beeinträchtigungen in Lebensbereichen wie Arbeit, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnen u. a. berücksichtigt. Abbildung 1 stellt die beiden Konzepte im weiteren Feld des Armutsbegriffs vor.

Abb. 1: Armutskonzeptionen


Quelle: Merten 2002, S. 361.

Die Abbildung veranschaulicht, dass Armut in absolute und relative Armut unterteilt werden kann. Als absolut arm werden meist Menschen in der Dritten Welt bezeichnet. Diese Personen verfügen nicht einmal über ausreichende Mittel, um das physische Existenzminimum zu sichern, d.h. ihnen fehlen selbst so lebensgrundsätzliche Dinge wie Kleidung, Nahrung und eine Wohnung.

Solche und andere grundlegenden Bedürfnisse (wie die Möglichkeit zu reisen) müssen laut Sen (1983) zur Armutsabgrenzung berücksichtigt werden. Dabei steigt nach Sen die Armutsgrenze, wenn das Wohlstandsniveau in einer Gesellschaft zunimmt, weil damit auch die physischen Notwendigkeiten in einer Gesellschaft steigen. In Abbildung 2 soll der Zusammenhang der Sen´schen Armutsgrenze mit dem Einkommensniveau dargestellt werden.


Abb. 2: Die Armutsgrenze von Sen als Funktion des Durchschnittseinkommens

Quelle: Krämer 1997, S. 16


Wie aus der Abbildung erkenntlich wird, liegt die Armutsgrenze in absolut armen Gesellschaften über dem Durchschnittseinkommen. Mit steigendem Wohlstandsniveau nimmt der relative Einkommensabstand der Armutsgrenze zum Durchschnittseinkommen zu. Auf der Diagonalen (45°) liegt die relative Armutsgrenze.

Die relative Armut hingegen orientiert sich an gesellschaftlichen Mindeststandards. Nach Neumann und Hertz (1998, S. 14) kann diese Grenze als sozio-kulturelles Existenzminimum benannt werden. Die relative Armut wird wiederum unterteilt in den oben schon angesprochenen eindimensionalen Ressourcenansatz und den mehrdimensionalen Lebenslagenansatz.

Das Lebenslagenkonzept berücksichtigt Armut als ein mehrdimensionales Phänomen. Anders als das Ressourcenkonzept, in dem Armut ausschließlich als Mangel an Geld verstanden wird, berücksichtigt dieser Ansatz neben „objektiven Kriterien“, wie etwa dem Einkommen, auch subjektive Verhaltensdispositionen zur Bestimmung sozialer Lebenslagen. Wenn Menschen in einer oder mehreren Lebenslagen unterversorgt sind, gelten sie nach dem Lebenslagenkonzept als arm.

Download Kinder- und Jugend­armut - Eine quali­ta­tive Fall­ana­lyse über die Iden­ti­täts­bil­dung beim Aufwachsen unter lang­jäh­rigen Armuts­be­din­gungen
• Download Link zum vollständigen und leserlichen Text
• Dies ist eine Tauschbörse für Dokumente
• Laden sie ein Dokument hinauf, und sie erhalten dieses kostenlos
• Alternativ können Sie das Dokument auch kаufen

Ausgangspunkt hierbei ist nicht immer finanzielle Not, sondern zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes oder diverse Schicksalsschläge, die zu einer langfristigen Unterversorgung führen können. Aus der Sicht von Neumann/Hertz (1998, S. 15) wird der Aspekt der Armut als „multiple soziale Deprivation“ begriffen. Dieser Ansatz ist in der empirischen Armutsforschung wegen des subjektiven Aspekts nicht unumstritten.

Ein weiteres Problem ist nach Meinung von Hauser et al. (1997, S. 19f.), dass es keine befriedigende Präzisierung für den Begriff Lebenslage gibt und sich daher die beiden Konzepte auch nicht klar voneinander zu trennen ließen. Nach Ansicht vieler Autoren ist es sinnvoll, über den Ressourcenansatz Armut zu bestimmen und über Befragungen die Lebensumstände in den verschiedenen Lebensbereichen deskriptiv darzulegen.

Durch diese Vorgehensweise können verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander verglichen werden, zudem kann dabei aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß Deprivationen in unterschiedlichen Lebensbereichen mit mangelndem Einkommen einhergehen.

Das Ressourcenkonzept beinhaltet Ressourcen wie Einkommen, staatliche Transferleistungen und Vermögen. Da sich dieser Ansatz fast ausschließlich auf das Einkommen bezieht, wird Armut nach dem Ressourcenansatz nochmals differenziert und die relative Einkommensarmut von der Sozialhilfebedürftigkeit und den darin festgehaltenen Messgrößen unterschieden. Somit wird die Armutsgrenze durch das durchschnittliche Einkommen der Einkommensbezieher im jeweiligen Land festgelegt (vgl. Hauser/Neumann 1992, S. 35).

Keine Armut liegt vor, wenn jeder Bürger über ein ausreichendes Einkommen verfügt und damit alle erforderlichen Grundbedarfsgüter kaufen kann. Was eine Unterversorgung nicht ausschließt, wenn der Bürger unwirtschaftlich handelt (vgl. Hauser/Hübinger 1993, in: Kamensky/Zenz 2001, S. 35).

Die relative Einkommensarmut geht von einer relativen Unterversorgung in einer Gesellschaft aus. Sie wurde nach Festlegung des Ministerrats der Europäischen Union am 22.07.1975 wie folgt definiert:

„Arme sind Einzelpersonen oder Familien, die über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als annehmbares Minimum gesehen wird“ (Hauser u.a. 1981, in: Kamensky/Zenz 2001, S. 35).

Im Vergleich zur absoluten Armut wird die relative Armut im gesamtgesellschaftlichen Kontext sowie der durchschnittlichen Lebensweise gesehen. Dadurch wird sie umfassend und in ihrer Mehrdimensionalität gesehen und bestimmt, d.h. dass die Armut nicht nur aufgrund monetärer Ressourcen, sondern unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung weiterer Lebensbereiche wie Arbeit, Gesundheit, Bildung, Wohnen etc. erfassen wird.

Wann eine Familie als arm bezeichnet wird, hängt von der jeweiligen Lebenslage ab, in der sie sich relativ zur Gesamtbevölkerung befindet. Als Bezugsgröße wird dabei das Netto-Äquivalenzeinkommen mit herangezogen. Wird das durchschnittliche Nettoeinkommen in Beziehung zum gewichteten Pro-Kopf-Einkommen aller Haushalte in Deutschland gesetzt, so ergeben sich aus dem Prozentsatz des individuellen zum durchschnittlichen Einkommen verschiedene Armutsgrenzen.

Die Prozentsätze von 40, 50 und 60 % gelten als Kategorien für die Armen. Dabei ist die 50 %-Schwelle laut der EU-Kommission ein angemessener Maßstab für relative Armut. Krämer (1997) weist allerdings darauf hin, dass die Wahl der 50 %-Grenze nicht theoretisch begründet werden kann (vgl. Krämer 1997, S.11). Dennoch hat sich folgende Abstufung durchgesetzt: Wenn Menschen nur 40 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung haben, befinden sie sich knapp am Existenzminimum.

Die 40 %-Schwelle dient so als Bemessungsgrundlage für die Sozialhilfe und wird als „Sozialhilfeschwelle“ bezeichnet (vgl. Hartmann 1986, in: Kamenksky/Zenz 2001, S. 36). Menschen, deren Einkommen zwischen 50 und 60 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens beträgt, sind „in der Nähe der Armut“. Als einkommensschwach wird derjenige bezeichnet, der 60 % des Durchschnittseinkommens besitzen.

Der „prekäre Wohlstand“ kennzeichnet die 75 %-Schwelle, in solchen einkommensschwachen Haushalten wird es vor allem dann knapp, wenn unvorhergesehene Ausgaben bezahlt werden müssen.

An diesem Ansatz wird, wie schon erwähnt, kritisiert, dass es kein stichhaltiges Argument für die Festlegung relativer Armutsgrenzen gibt. Krämer weist darauf hin, dass Armut nach dieser Betrachtungsweise nur durch eine Veränderung der Einkommensverteilung überwunden werden kann und nicht durch eine Erhöhung des materiellen Wohlstandsniveaus (vgl. Krämer 1997, S. 22ff.). Hauser (1997, S. 22) geht davon aus, dass Gruppen, die in relativer Armut leben, von Ausgrenzungen und Marginalisierungen bedroht sind und an gesellschaftlichen Aktivitäten nicht teilhaben können.

Betroffen sind in Deutschland vor allem Familien mit mehreren Kindern und Einelternhaushalte. Laut der AWO-/ISS-Studie 2005 leben 31 % der Einelternfamilien, 28 % der Familien mit drei und mehr Kindern und 16 % der jungen Menschen unter 20 Jahre unterhalb dieser 50 %-Grenze. Die Wahrscheinlichkeit, von relativer Einkommensarmut betroffen zu werden, ist für Kinder wesentlich höher als für Erwachsene.

Die Sozialhilfebedürftigkeit (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) als zweite Unterteilung des Ressourcenansatzes wird an geltenden Eckregelsätzen gemessen. Die Rechtsgrundlage, nach der laufende Hilfe zum Lebensunterhalt genehmigt wird, liefert das 1962 in Kraft getretene Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Laut §1 (2) BSHG ist die Aufgabe der Sozialhilfe:

„(…) dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfe soll ihn so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; hierbei muss er nach seinen Kräften mitwirken“.

Die Unterstützung besteht aus Regelsätzen, einmaligen Leistungen, der Kaltmiete und den Heizkosten. Als Berechnungsgrundlage der Regelsätze dienen (seit dem 1.7.1999) die Einkommens- und Verbraucherstichprobe.2

Im Gegensatz zum Leben von Sozialhilfe, das in den meisten Fällen auf wenige Monate begrenzt bleibt, ist das Leben in der Nähe zur Armutsschwelle gerade für Kinder in Mehrkinderfamilien eine Dauererscheinung. Hier ist vor allem der Familienleistungsausgleich zu erwähnen, der offensichtlich so bemessen ist, dass gerade Mehrkinderfamilien durch die Geburt von Kindern zu Sozialhilfeempfängern werden können.

Wenn man davon ausgeht, dass Aufwachsen in Armut mit niedrigen Bildungsabschlüssen einhergeht und diese Bildungsdefizite wiederum zu einem erhöhten Armutsrisiko führen, so liegt eine mögliche Gefahr der „Vererbung von Armut“ auf der Hand.

Von Sozialhilfe lebende Personen können, laut der oben aufgeführten Abbildung von Merten (2002), von bekämpfter oder verdeckter Armut betroffen sein.

„Unter bekämpfter Armut werden Personen und Haushalte verstanden, deren Fürsorge- bzw. Sozialhilfeberechtigung nach den Gesetzen der Bundesrepublik durch Behörden anerkannt ist, die entsprechende Leistungen erhalten und die in der amtlichen Statistik ausgewiesen werden“ (Hauser u.a. zit. in: Kamensky/Zenz 2001, S. 37).

Zu jenen, die von „bekämpfter Armut“ betroffen sind, zählen diejenigen, die weniger Geld als 40 % des Durchschnitteinkommens besaßen und jetzt nach dem BSHG zustehende Leistungen in Anspruch nehmen. Es wird insofern von bekämpfter Armut gesprochen, als dass bei diesen Menschen durch Sozialhilfebezug ein Abrutschen in die absolute Armut verhindert werden konnte.

Im Zeitraum 1980-1997 ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den alten Bundesländern von 851 000 auf 2,5 Millionen gestiegen, in den neuen Bundesländern waren zu dem Zeitpunkt insgesamt 2,9 Millionen Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. Damit ergibt sich für die Gesamtbevölkerung im Jahr 1997 eine Sozialhilfequote von 3,5 %. Viel besorgniserregender ist jedoch die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren mit Anspruch auf Sozialhilfe: Über 1 Millionen waren Ende 2003 betroffen, das heißt 7,2 % der Kinder und Jugendlichen bezogen Sozialhilfe.

Die Anzahl der betroffenen Kinder unter sieben Jahre hat sich im Zeitraum 1980-1997 verfünffacht3 (Hanesch u.a., in: Kamensky/Zenz 2001, S. 38). Die meisten diese Kinder und Jugendlichen leben bei Alleinerziehenden, dazu jedoch mehr in Kapitel 2.2.

Von „verdeckter Armut“ sind alle diejenigen betroffen, die zwar einen rechtlichen Anspruch auf Sozialhilfeleistung haben, diesen Anspruch jedoch nicht wahrnehmen. Laut einer empirischen Untersuchung von Hartmann haben 1981 von 100 sozialhilfeberechtigten Haushalten nur 52 Sozialhilfe bezogen (vgl. Hartmann 1981, in Kamensky/Zenz 2001, S. 39). Eine Untersuchung auf der Basis des Sozio-ökonomischen Panels (SOP) im Zeitraum von 1991-1995 ermittelte folgende Daten:


Tabelle 1: Bezieherquote HLU sowie verdeckte Armut


Westdeutschland

Ostdeutschland


1991

1995

1991

1995

HLU-Bezug am Jahresende

2,8

3,4

1,4

1,8

Verdeckte Armut

3,2

3,2

5,6

4,2

Summe

6,0

6,6

7,0

6,0

Dunkelziffer der Armut %

53, 3

48, 5

80,0

70,0

(vgl. Neumann/Hertz 1998, S. 55/75)


Die Tabelle zeigt, dass 1995 in Ostdeutschland 70% der Berechtigten die ihnen zustehenden Leistungen nicht einforderten. Laut diesen Berechnungen ist die Anzahl der verdeckt Armen viel höher als jene der Sozialhilfeempfänger.


Armut ist also ein Beweis für Unterversorgung mit elementaren Gütern und kann zu sozialer Ausgrenzung der Betroffenen führen. Die Lebenslage der Kinder und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist damit elementar betroffen.

    1. Armutsrisiken

Da sich diese Arbeit mit Kinder- und Jugendarmut befasst, soll in diesem Abschnitt auf die relative Einkommensarmut von Kindern näher eingegangen werden. Wie oben aus dem Ressourcenansatz erkenntlich geworden ist, liegt der Analyse von Kinderarmut das Konzept der „relativen Einkommensarmut“ zugrunde. Denn einen wesentlichen Faktor für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellen finanzielle Ressourcen dar:

„Aus individueller Sicht eröffnen gute objektive Lebensbedingungen mehr Handlungschancen und Teilhabemöglichkeiten als ein Leben mit geringeren Ressourcen“ (Lang 1985, S. 106).

Bevor Armutsrisiken dargestellt werden, sollen jedoch vorerst Gründe genannt werden, warum es überhaupt zu einem Armutsproblem im Sozialstaat kommt und warum besonders Familien mit Kindern betroffen sind. In Deutschland sind vor allem Arbeitslosigkeit, Kinderreichtum und Alleinerziehen Risiken für das Leben am Existenzminimum. Als größtes Risiko gilt der Verlust des Arbeitsplatzes, da dann nicht mehr die Möglichkeit besteht, den Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu finanzieren.

Aber auch Scheidung und die Geburt eines Kindes stellen ein Armutsrisiko dar: Wenn sich Kindererziehung und Erwerbstätigkeit nicht vereinbaren lassen, muss auf die Systeme der sozialen Sicherung zurückgegriffen werden.

Erwerbstätige mit Niedriglohn und/oder Alleinfinanzierer des Haushalts: Trotz Erwerbstätigkeit scheinen viele Bürger in Deutschland einem erhöhten Armutsrisiko zu unterliegen. So stellte der Armutsbericht unter anderem fest, dass es einen engen Zusammenhang von der Höhe des individuellen Verdienstes, der Erwerbskonstellation im Haushalt und der Haushaltsgröße mit einem erhöhten Armutsrisiko gibt.

Problematisch wird es laut Bäcker (2002, S. 5), wenn in einem Paar-Haushalt mit nur einem Arbeitseinkommen mehrere Familienmitglieder finanziert werden müssen. Die Armutsquote bei diesen sog. Alleinverdienerhaushalten liegt bei 18,8 %.

(Langzeit-)Erwerblose haben das größte Armutsrisiko. Die Armutsquote für Arbeitslosenhaushalte liegt mit 32,1 % dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Erschwerend für eine Besserung der Lage kommt hinzu, dass sich die Dauer der Arbeitslosigkeit mitunter negativ auf die Einkommensposition auswirkt (vgl. Bäcker 2002, S. 5). Wenn man seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren kann, trifft die Arbeitslosigkeit auch die Kinder in der Familie.

Haushalte mit drei und mehr Kindern sowie Alleinerziehende haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko. Der Armutsbericht des DGB bestätigt vor allem, dass es sich bei Verarmung oft um Familienhaushalte handelt. Je höher die Anzahl der Kinder in den Familien, desto höher wird die finanzielle Belastung. Meist muss die Familie zudem mit nur einem Einkommen auskommen, denn auf zwei Vollzeitarbeitsstellen können diese Familien nur selten zurückgreifen.

Selbst der Kinderlastenausgleich reicht nicht aus, um die finanziellen Belastungen kompensieren zu können. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht, dass 1995 in Ostdeutschland 46 % und in Westdeutschland 31 % der Familien mit drei und mehr Kindern in Einkommensarmut lebten.

Tabelle 2: Kinder und Jugendliche in Einkommensarmut 1990 und 1995 (in Prozent)


Westdeutschland

Ostdeutschland

Sozialmerkmal

1990

1995

1990

1995

Personen in Armut:

Insgesamt

Kinder unter 15 Jahren


10,5

16,7


13,0

21,8


3,4

5,1


11,5

19,5

Haushalte in Armut:

Deutscher Haushaltsvorstand

Migranten

Familien mit drei und mehr

Kindern

Einelternfamilien


9,4

26,3

26,0


36,2


10,0

26,1

31,4


42,4


3,4

-

9,3


16,1


11,5

-

46,2


35,5

Datenbasis: Sozioökonomischer Panel 1995

Quelle: Statistisches Bundesamt 1997


Alleinerziehende stellen ebenfalls eine Risikogruppe dar. So stieg in den letzten Jahren die Anzahl von allein erziehenden Müttern und Vätern, die sich in finanzieller Notlage befanden, drastisch an. In Deutschland sind 15 % der Familien Einelternfamilien und 40 % davon als einkommensarm einzustufen (vgl. Kamensky/Zenz 2001, S. 55f.)

Wie aus Tabelle 2 erkenntlich wird, sind auch Migrantenfamilien verstärkt von Armut betroffen. Laut Bäcker (2002, S. 6) sind besonders türkische Migranten einem höheren Risiko ausgesetzt sowie die Gruppe der Asylbewerber und Flüchtlinge. Mitunter verbleiben Migranten am häufigsten und am längsten in Armut (Bäcker 2002, S. 6).

    1. Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen

Im Folgenden sollen aktuelle Daten aus der empirischen Forschung sowie der Sozialhilfestatistik dargestellt werden, um die Brisanz dieses Themas noch weiter zu verdeutlichen. Erkenntlich wird, dass vor allem Familien von Armut betroffen sind, womit die Kinderarmut in den Mittelpunkt rückt. Waren es früher überwiegend ältere Menschen, die am Existenzminimum lebten, so sind es heute Kinder (vgl. Kamensky/Zenz 2001, S. 56)4.

In ihrem ersten Armutsbericht im Auftrag des DGB und des DPWV kommen sie für das Jahr 1992 zu dem Ergebnis, dass in den alten Bundesländern jedes achte und in den neuen Bundesländern jedes fünfte Kind von Armut betroffen ist (vgl. Hanesch u.a. 1994, S. 114f.)5. Die Daten beziehen sich auf die Armutsgrenze, die bei 50 % des durchschnittlichen gewichteten Haushaltseinkommens liegt.

Auf Grund weiterer Studien stellen Hanesch u.a. fest, dass Kinder überdurchschnittlich von Armut betroffen sind und auch überdurchschnittlich lange in Armut leben (vgl. Hanesch u.a. 1995, S. 39).

Um Armutsbetroffenheit messen zu können, werden in der Armutsforschung zwei Bezugsgrößen verwendet: zum einen das Einkommen von Familienhaushalten und zum anderen die Anzahl der Sozialhilfedürftigen. Für das Einkommen von Familienhaushalten wertete man die Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) vom Jahr 2003 aus. Ergebnis war, dass 15% der Haushalte mit Kindern unter 16 Jahren einem Armutsrisiko unterliegen (vgl. BMGS 2005, in: Zander 2005, S. 90).

Laut einer deutschen Teilstudie auf Datenbasis des Sozialökonomischen Panels (SOEP) wächst mehr als jedes zehnte Kind unter 18 Jahren in relativer Armut auf. Das sind laut UNICEF 1,5 Mio. Kinder und Jugendliche (vgl. UNICEF 2005, S. 3). Bezüglich der Sozialhilfebedürftigkeit kann man feststellen, dass Ende 2003 in etwa 1,1 Mio. Minderjährige Sozialhilfe erhielten, jedes vierte bis siebte Kind (je nach Region und Alter) ist somit von Armut betroffen.

In Bezug auf die Zusammenlegung von Arbeitslos- und Sozialhilfe am 1. Januar 2005 (Hartz IV) ist zu erwähnen, dass noch keine aktuellen Zahlen von Sozialhilfe beziehenden Familien und deren Kindern existieren. Die nachstehende Tabelle soll noch einmal einen Überblick über die Armutsquote relativer Einkommensarmut geben.


Tabelle 3: Armutsquote relativer Einkommensarmut nach sozio-demografischen Merkmalen1


Jahr


2000

2001

2002

2003

Alter





Unter 18 Jahre

14,9

15,9

16,2

18,8

18 bis 64 Jahre

11,5

11,3

12,3

13,8

Über 65 Jahre

10,3

8,9

11,9

9,6

Haushaltsform





Ein-Personen Haushalt

17,3

16,2

17,9

17,3

Ehepaare ohne Kinder

6,6

5,7

7,2

7,6

Allein Erziehende

28,6

32,9

30,6

31,6

Paare mit Kindern

10,3

9,7

11,2

13,0

Ausländischer Haushaltsvorstand

27,2

26,8

24,1

28,2

1 > 60 % Median gesamtdeutsch, bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen neue OECD-Skala.

Datenbasis SOEP. Quelle: ZUMA 2005, S. 5, in: Zander 2005, S. 92.


Die oben aufgeführten Daten beziehen sich auf (Familien-)Haushalte und Gruppen von Erwachsenen und Minderjährigen. Doch wie sieht die Armutsverteilung bei Kindern im Vorschulalter aus? Die nachstehende Tabelle zeigt, dass die Armutsrisikoverteilung für diese Altersgruppe nahezu kongruente Zahlen mit den oben skizzierten Altersklassen aufweist.


Tabelle 4: Armutsrisiko1 bei Kindern und Jugendlichen nach Haushaltstyp, Alters- und Bevölkerungsgruppen im Jahr 2001 (in Prozent)

Haushaltstyp/Nationalität

Unter 7 Jahre

7 bis 10 Jahre

11 bis 18 Jahre

Alle2

Deutsche

13,3

14,6

14,0

8,0

Nicht-Deutsche3

29,1

29,4

28,4

23,9

Kinder/ Jugendliche4 aus Zwei-Eltern-Haushalten

11,7

14,9

13,1

11,6

Kinder/Jugendliche aus Ein-Elternfamilie

46,4

36,6

31,1

34,5

Kinder/Jugendliche ohne Geschwister

9,7

9,6

10,1

9,3

mit einem Geschwister

13,1

12,6

12,1

12,2

mit zwei Geschwistern

21,9

21,2

22,5

21,8

mit drei oder mehr Geschwistern

54,3

55,9

44,8

50,4

1 > 50% Mittelwert gesamtdeutsch, bedarfgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen.

2 Bezogen auf die jeweilige Bezugsgruppe.

3 Kind lebt in einer Familie mit einem nicht-deutschen Haushaltsvorstand.

4 Kind lebt mit beiden Eltern oder mit einem Elternteil plus Partner/-in zusammen.

Datenbasis SOEP.

Quelle: Berechnung des DIW im Auftrag des ISS-Frankfurt/M., in: Zander 2005, S. 93.


Diese Tabelle verdeutlicht m.E. gut, dass von einem strukturellen Risikomuster ausgegangen werden kann und somit ungleiche Entwicklungschancen von Kindern gegeben sind. Die Zahl der Kinder in der Sozialhilfestatistik verdeutlicht, dass die Sozialhilfequote sich erhöht, je jünger die Kinder sind. Aus der entsprechenden Tabelle wird deutlich, dass 10,4 % der Kleinkinder in Deutschland von Sozialhilfe leben.

Tabelle 5: Kinder in der Sozialhilfe nach Altergruppen (Ende 2002)

Altersgruppe

Anzahl

Sozialhilfequote1

Kleinkinder (unter 3 Jahren)

232.000

10,4 %

Kindergartenkinder (3 bis 7 Jahre)

240.000

7,5 %

Schulpflichtige Kinder (7 bis unter 15 Jahre)

415.000

5,9 %

Jugendliche (15 bis unter 18 Jahren)

130.000

4,6%

Minderjährige insgesamt

1.016.000

6,7%

Davon: Kinder ohne deutschen Pass

207.000

13,9%

Bevölkerung insgesamt

2,8 Mio.

3,3%

1 Prozentanteil an allen Kindern der jeweiligen Altersgruppe.

Quelle: Statistisches Bundesamt 2004, in: Zander 2005, S. 94.


Im Anhang befinden sich weitere Tabellen mit Daten zur Zahl der Kinder mit Sozialhilfe zum Jahresende 2003, sowie eine statistische Entwicklungskurve von 1985-2003. Auch neuere Angaben von 2004 für Jugendliche finden sich dort (Statistisches Bundesamt).

    1. Die Auswirkung von Armut auf Kinder und Jugendliche

Geld ist in unserer praktizierten Marktwirtschaft eine Zugangsvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. In fast allen Lebensbereichen, wie zum Beispiel Reisen, Wohnung, Ernährung oder Freizeitaktivitäten, ist man ohne Geld hilflos. Daher führt finanzieller Mangel zu einer Einschränkung in verschiedenen Lebenslagen.

Dass diese Einschränkungen negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern haben oder diese hemmen, liegt klar auf der Hand. Klocke und Hurrelmann (2001) konstatieren:

„Kinder und Jugendliche in Armut tragen ein objektiv höheres Risiko einer misslingenden Sozialisation“ (Klocke/Hurrelmann 2001, S. 10).

Kinder erleben die Folgen der Armut (wie zum Beispiel, nicht verreisen zu können, Unterschiede in der Kleidung oder der niedrigere Betrag des Taschengeldes sowie die eingeschränkte Wahrnehmung von Freizeitaktivitäten) als Belastung und Zurücksetzung, die einen Ausschluss aus einer Vielzahl von kulturellen und gesellschaftlichen Lebensräumen mit sich bringt. Wie ein Kind derartige Rückschläge verarbeitet, hängt ganz von seiner Sensibilität ab.

Ebenfalls bedeutsam für die Sozialisationsbedingungen der Kinder und Jugendlichen sind das Herkunftsmilieu und die Peergroup. Kinder, die eine starke Persönlichkeit und zusätzlich einen guten Beistand innerhalb oder außerhalb der Familie haben, können sich positiv entwickeln. Kinder mit einer schwächeren Persönlichkeit sind anfälliger für die Armutssituation, es fällt ihnen schwer, die innere und äußere Realität in ein Gleichgewicht zu bringen.

Allerdings gibt es einige Untersuchungen, Daten und Statistiken, welche die Auswirkungen von Armut auf Gesundheit, Erziehungsstil, Gefährdung, Kindesmisshandlung usw. behandeln. Die Zusammenhänge von Armut und Beeinträchtigungen mit der materiellen Grundversorgung, im kulturell-sozialen und im gesundheitlichen Bereich, sollen nun anhand der AWO-ISS-Studie ganz allgemein skizziert werden.

Bewusst beziehe ich mich in dieser Ausführung nur auf diese Studie, da sie m.E. die Folgen von Kinderarmut sehr gut empirisch sichtbar macht. Dabei soll diskutiert werden, wie kontextuelle, individuelle und familiäre Faktoren zusammenspielen. Diese Ausführungen dienen als Grundlage für den zu erforschenden Untersuchungsgegenstand.

In der deutschen Armutsforschung wurden Kinder bisher nicht mitberücksichtigt, obwohl daraus Unterversorgungen, Entwicklungsdefiziten und soziale Ausgrenzung resultieren (vgl. Laucht/Esser/Schmidt 2000). Holz G. (2005, S. 97) definiert Kinderarmut als Folge von familiärer Einkommensarmut; diese

„(…) zeigt sich in Auffälligkeiten bzw. Beschränkungen in den Lebenslagendimensionen (d.h. materielle Grundversorgung, soziale, gesundheitliche und kulturelle Lage) und führt zu Entwicklungs- und Versorgungsdefiziten sowie zu sozialer Ausgrenzung.“

Ein Aufwachsen in Wohlergehen und eine optimale Potenzial- und Ressourcenentwicklung wird somit den Kindern zum Teil vorenthalten. Auch die AWO-ISS-Studie 1997 befasste sich mit dem Thema und entwickelte ein kindgerechtes Armutskonzept, in dem die Lebenssituationen und die Lebenslage des Kindes im Vordergrund stehen. Um die Folgen der Kinderarmut besser sichtbar zu machen, wurden vier Lebenslagendimensionen in den Mittelpunkt der Forschung gerückt, die in der folgenden Tabelle dargestellt werden:


Abb. 3: Die fünf Dimensionen von Armut

(1) Materielle Situation des Haushalts („familiäre Armut“)

(2-5) Dimensionen der Lebenslage des Kindes

(2) Materielle Versorgung des Kindes:

Grundversorgung, d.h. Wohnen, Nahrung, Kleidung; materielle Partizipationsmöglichkeiten

(3) „Versorgung“ im kulturellen Bereich:

kognitive Entwicklung, sprachliche und kulturelle Kompetenzen, Bildung

(4) Situation im sozialen Bereich:

soziale Kontakte, soziale Kompetenzen

(5) Psychische und physische Lage:

Gesundheitszustand, körperliche Entwicklung

Quelle: Zander 2005, S. 97

Von Armut bei Kindern kann erst dann gesprochen werden, wenn das Einkommen der Familie bei maximal 50% des Durchschnittsnettoeinkommens liegt. Treten Einschränkungen oder Unterversorgung in den oben genannten Lebenslagendimensionen (2-4) auf und es liegt keine „familiäre Armut“ vor, dann ist das betroffene Kind „arm dran“ aber nicht als „arm“ zu bezeichnen.

Um die Komplexität des Aufwachsens noch besser zu erfassen, wurden die vier Lebenslagendimensionen zu einem Index zusammengefasst und daraus drei Lebenslagentypen gebildet. „Wohlergehen“ liegt vor, wenn in den Lebenslagen keine Auffälligkeiten festzustellen sind und das Kindeswohl nicht gefährdet ist. Von „Benachteiligung“ ist die Rede, wenn das Kind in einigen Bereichen Auffälligkeiten aufzeigt und somit in seiner Entwicklung eingeschränkt ist.

„Multiple Deprivation“ hingegen beschreibt die Auffälligkeit von Kindern in mehreren Lebensbereichen. Dem Kind werden für eine positive Entwicklung notwendige Ressourcen vorenthalten (vgl. Hock/Holz/Wüstendörfer 2000b, S. 38).


Die AWO-ISS-Studie zeigt zudem, dass Armutsfolgen bereits in frühester Kindheit auftreten können.

Tabelle 6: Anteile der Kinder mit Einschränkungen in den vier zentralen Dimensionen der kindlichen Lebenslage (arme / nicht-arme Kinder im Vergleich)


Dimension

Arme Kinder

Nicht-arme Kinder

Materielle Grundversorgung

40,0 %

14,5 %

Kultureller Bereich

36,0 %

17,0 %

Sozialer Bereich

35,6 %

17,6 %

Gesundheitliche Lage

30,7 %

19,7 %

N = 893. Quelle: Vgl. Hock/Holz/Wüstendörfer 2000b: S. 33-38.


In Hinblick auf die materielle Grundversorgung waren 40 % der armen Kinder, aber „nur“ 14,5 % der nicht-armen Kinder in Aspekten wie Nahrung, Kleidung, Wohnung eingeschränkt. Arme Kinder kamen meist hungriger in die Einrichtungen und waren körperlich weniger gepflegt. Keinen Unterschied gab es bezüglich der Kleidung. Im kulturellen Bereich war vor allem das Spiel- und Sprachverhalten der armen Kinder auffällig, das sich bei über der Hälfte von ihnen gegenüber jenem nicht-armer Kinder unterschied.

Weiterhin wurden laut der Studie nur 69 % der armen gegenüber ca. 88 % der nicht-armen Kinder regulär eingeschult. Im sozialen Bereich wurden bei armen Kindern unter anderem weniger Kontakte zu anderen Kindern, keine aktive Teilnahme an Gruppengeschehnissen, seltenere Wunschäußerungen und weniger Wissensbegierde festgestellt, auch soziale Ausgrenzung wurde beobachtet.

Die Unterschiede im gesundheitlichen Bereich waren im Vergleich zu den drei anderen Lebenslagendimensionen am geringsten ausgeprägt, obwohl es auch hier Einschränkungen und Auffälligkeiten bei armen Kindern gab. Gerade in Hinblick auf ihre körperliche Entwicklung waren sie meist zurückgeblieben.

Diese empirischen Befunde verdeutlichen, dass Kinderarmut als komplexes Geschehen und in Verbindung mit unterschiedlichen Faktoren betrachtet werden muss.

Wie aus der oben aufgeführten Tabelle ersichtlich wurde, sind nicht nur arme Kinder, sondern zum Teil auch nicht-arme Kinder in einigen Lebenslagen beeinträchtigt. Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht, dass Kinder trotz Armut in Wohlergehen und nicht-arme Kinder auch in multipler Deprivation aufwachsen können.

Tabelle 7: Kindspezifische Lebenslagen von Vorschulkindern (1999, in %)

Lebenslagentypen

Arme Kinder

Nicht-arme Kinder

Gesamt

Wohlergehen

23,6

46,4

40,0

Benachteiligung

30,3

39,8

40,0

Multiple Deprivation

36,1

13,7

19,8

Gesamt

100,0

100,0

100,0

N = 893. Quelle: Vgl. Hock/Holz/Wüstendörfer 2000b, S. 77.


Wie aus Tabelle 7 ersichtlich ist, leben 23,6 % „arme Kinder“ und 46,6 % „nicht-arme Kinder“ gut (Wohlergehen). Von multipler Deprivation sind bei armen Kindern 36,1 % und bei nicht-armen Kindern 13,7 % betroffen. Die Ergebnisse spiegeln deutlich die Folgen von Armut während des Sozialisationsprozesses in der frühesten Kindheit wider.

    1. Das Aufwachsen unter Armutsbedingungen

Da Kinder und Jugendliche nicht nur in Bezug auf die materielle Teilhabe, sondern auch in ihren kulturellen, sozialen und gesundheitlichen Ressourcen eingeschränkt sind, ist Armut als ein mehrdimensionales Problem zu begreifen (vgl. AWO-ISS-Studie, 2000a und b, Kapitel 6.1). Die nächste Abbildung zeigt die dabei relevanten Einflussfaktoren

Jugendlichen


Quelle: AWO-ISS-Studie Hock/Holz/Wüstendörfer 2000, Dritter Zwischenbericht, Kapitel 6.

Fest steht, dass diese Faktoren einen enormen Einfluss auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendliche haben. In der vorliegenden Fallanalyse sollen die vier Lebenslagen (materiell, gesundheitlich, kulturell, sozial) mitberücksichtigt werden, da sie mitunter eine Antwort darauf geben können, wie das Aufwachsen beziehungsweise die Sozialisation unter Armutsbedingungen verläuft und inwiefern sie beeinträchtigt werden.

Hierbei werden folgende Fragen der AWO-ISS-Studie mitberücksichtigt.

  • Die materielle Lebenslage des Kindes/Jugendlichen: Inwieweit stehen dem Heranwachsenden selbst ausreichend materielle Ressourcen zur Verfügung? Ist die Basisversorgung (Nahrung, Kleidung, Wohnung) gewährleistet? Ist eine adäquate Teilhabe an altersgemäßen Aktivitäten möglich?

  • Die gesundheitliche Lage des Kindes/Jugendlichen: Ist die physische und psychische Gesundheit gewährleistet, oder liegen im weiteren Sinne armutsbedingte Beeinträchtigungen vor?

  • Die kulturelle Lage des Kindes/Jugendlichen: Ist es dem Kind/Jugendlichen möglich, kulturelle Kompetenzen zu erwerben, die ihm eine Teilhabe an gesellschaftlich üblichen Aktivitäten sichern? Kann das Kind/der Jugendliche seine Bildungschancen adäquat verwirklichen?

  • Die soziale Lage des Kindes/Jugendlichen: Ist das Kind respektive der Jugendliche in sein soziales Umfeld integriert? Welcher Art sind die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen, aber auch zu Erwachsenen? Liegen im weiteren Sinne armutsbedingte Einschränkungen mit Blick auf die sozialen Netzwerke vor? (Hock/Holz/Wüstendörfer 2000, S. 42).


Das zentrale Ziel von Sozialisation ist die Entwicklung der Persönlichkeit. Hierbei müssen die Kinder und Jugendlichen lernen, die innere und äußere Realität zu bewältigen. Laut Hurrelmann (1994) werden die Kinder und Jugendlichen in diesem Prozess zu „Konstrukten ihrer eigenen Lebenswelt“. Außer den „normalen Entwicklungsaufgaben“ müssen sich die von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen mit zusätzlichen Erschütterungen oder erschwerten Ereignissen auseinandersetzen.

Ein Beispiel: Wenn eine Trennung der Eltern die Ursache von Armut ist, drückt sich die Armut beispielsweise in dem Gefühl, nicht mithalten zu können, aus und mögliche Folgen sind Gewalt oder Alkoholprobleme in der Familie. Auf Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung im Allgemeinen wird im Kapitel 3.2 näher eingegangen.

    1. Risiko- und Schutzfaktoren

Der Frage, über welche individuellen, kulturellen und sozialen Ressourcen Kinder zur Bewältigung der zusätzlichen Belastungen verfügen, widmet sich die Resilienzforschung. Sie zeigt, wie persönliche, familiäre und außerfamiliäre Ressourcen auf die kindliche Entwicklung einwirken. Das Wort „Resilienz“ kommt von dem englischen „resilience“, was soviel bedeutet wie „Spannkraft, Strapazierfähigkeit, Elastizität“.

„eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ (Wustmann 2004, S. 192).

Auf Risiken und Krisen reagieren die Menschen individuell sehr unterschiedlich. Die einen können leicht problematische Lebensumstände überwinden, andere hingegen reagieren in Form von psychischen Störungen und Krankheiten oder mit sozialen Auffälligkeiten (vgl. Gabriel 2005, S. 207). Die Widerstandsfähigkeit bzw. Resilienz stellt einen positiven Gegenbegriff zur „Vulnerabilität“ dar, die die Verletzlichkeit oder Empfindlichkeit einer Person gegenüber ungünstigen Lebensbedingungen beschreibt.

Es gibt drei Ausdrucksformen von Resilienz:

  • eine positive und gesunde Entwicklung trotz hoher Risiken wie z.B. chronischer Armut;

  • eine beständige Kompetenz unter enormen Stressfaktoren wie z.B. Trennung oder Scheidung der Eltern;

  • eine positive Erholung von traumatischen Erlebnissen wie z.B. Gewalterfahrungen (Wustmann 2005, S. 193).


Resilienz wird im Entwicklungsverlauf innerhalb der Kind-Umwelt-Interaktion erworben und ist somit kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal (vgl. Rutter 2000, in: Wustmann 2005, S. 193). Der Begriff Resilienz ist eine variable Größe, das bedeutet, dass sie keine stabile Immunität gegenüber erschwerten Lebensereignissen darstellt, sondern eher als Konstrukt verstanden werden sollte, das über Zeit und Situation hinweg variieren kann (vgl. Rutter 2002, in: Wustmann 2005, S. 194).

„ein hochkomplexes Zusammenspiel aus Merkmalen des Kindes und seiner Lebensumwelt“ (Wustmann 2005, S. 194).

In der Resilienzforschung werden so genannte Schutzfaktoren (persönliche und soziale Ressourcen) Risikofaktoren und -mechanismen6 gegenübergestellt. Dabei geht es weniger darum, die einzelnen risikoerhöhenden und -mildernden Bedingungen zu erkennen, als um die Erforschung der dynamischen Prozesse und Mechanismen und deren Wirkung (vgl. Luthar/Cicchetti 2000, in: Wustmann 2005, S. 199).

Darüber hinaus werden diese Risiko- und Schutzeffekte im sozialen Kontext betrachtet, denn je nach Risikosituationen kommt es zu unterschiedlichen Wirkungen. So können in dem einen Fall bestimmte Faktoren negative, im anderen Fall positive Auswirkungen haben. Laut Luthar/Ciccetti (2000) erwies sich zum Beispiel der Faktor „strenge elterliche Erziehung“ bei Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, als ein Schutzfaktor (vgl. Wustmann 2005, S. 199).

Wichtig ist die Resilienzforschung vor allem deshalb, weil sie die primäre Prävention in den Mittelpunkt stellt: Nur durch frühzeitige Präventionsansätze können krisenhafte und problematische Umstände bestritten und stabilisiert werden. Zentrale Ziele in Bezug auf die Minderung von Risikoeinflüssen und Erhöhung von Schutzfaktoren stellen Masten und Coatsworth (1998) dar:

  • Veränderung der kindlichen Stress- und Risikowahrnehmung,

  • Erhöhung sozialer Ressourcen im Betreuungsumfeld des Kindes,

  • Steigerung der kindlichen Kompetenz,

  • Qualitätsverbesserung interpersonaler Prozesse (Erziehungsqualität, Qualität sozialer Unterstützung) (vgl. Wustmann 2005, S. 203).


    Mit diesen Forderungen soll allen Risikokindern frühzeitig und möglichst lang andauernd die Möglichkeit gegeben werden, die wichtigsten zur Bewältigung schwieriger Lebenssituationen förderlichen Basiskompetenzen zu erwerben.

    Resilienzförderung auf individueller Ebene und somit direkt beim Kind kann durch die Vermittlung folgender Fähigkeiten stattfinden:

    • Fertigkeiten von Problem- und Konfliktlösung,

    • Eigeninitiative und persönliche Verantwortungsübernahme,

    • Positive Selbsteinschätzung des Kindes,

    • Fähigkeiten kindlicher Selbstregulation,

    • Soziale Kompetenzen,

    • Kompetenzen zur Stressbewältigung,

    • Selbstwirksamkeit (vgl.Wustmann 2005, S. 204).


    Zusätzlich sollte eine Förderung auf der Beziehungsebene erfolgen, also indirekt über die Erziehungs- bzw. Interaktionsqualität, d.h. es sollen vor allem Eltern und andere Erziehungsberechtigte hinsichtlich ihrer Erziehungskompetenz gestärkt und gefördert werden. Besonders in Hinblick auf:

  • elterliches Kompetenzgefühl,

  • effektive Erziehungstechniken,

  • positives Modellverhalten,

  • konstruktive Kommunikation zwischen Eltern und Kind,

  • autoritativen Erziehungsstil (Wustmann 2005, S. 204).


    Übergeordnetes Ziel der Resilienzförderung ist es, wichtige Grundlagen zu festigen und zu optimieren. Damit richtet sich der Blick nicht auf Defizite und Schwächen der Kindern, sondern auf die Kompetenzen und Bewältigungsressourcen (vgl. Wustmann 2005, S. 205).

    Aus Analysen der AWO-ISS-Studie wird erkenntlich, dass familiäre Aktivitäten einen großen Einfluss auf eine förderliche Entwicklung in der Kindheit haben. Essenziell für die kindliche Situation ist aber auch die Fähigkeit der Eltern, sich um das Wohl des Kindes zu sorgen und die elterlichen Pflichten auszuüben (einschließlich ihrer sozialen und kulturellen Ressourcen). Holz, G. konstatiert:

    „Das bedeutet: Neben der Säule „familiäre Einkommenssituation“ muss das „Familienleben“ (Klima, kindzentrierte Alltagsgestaltung, Erziehungsverhalten usw.) als zweite große Säule der Gefährdung oder Förderung kindlicher Entwicklung im frühen Kindesalter betrachtet werden; dies gilt für arme wie nicht-arme Kinder“ (Holz 2005, S. 103).

  • Abb. 5: Risikofaktoren für Kinder im frühen Kindesalter

    Risikofaktoren für Kinder im frühen Kindesalter

    Sozioökonomische/-strukturelle

    Faktoren

    Familiäre und soziale/emotionale

    Faktoren

    • Familiäre Einkommensarmut

    • (Langzeit-)Arbeitslosigkeit der Eltern

    • Geringer Bildungs- und Berufsstatus der Eltern

    • Migrationshintergrund

    • Trennung/Scheidung der Elter

    • Aufwachsen in Familien mit vielen Geschwistern

    • Aufwachsen in einer Ein-Eltern-Familie

    • Aufwachsen in belasteten Quartieren

    • Aufwachsen in Multiproblemfamilien/ problematischen Sozialmilieus

    • Gestörtes Familienklima

    • Schlechte Eltern-Kind-Beziehung

    • Wenig kindzentriertes Familienleben

    • Geringe Erziehungs-, Bildungs-, Versorgungskompetenz der Eltern

    • Geringes fehlendes familiäres und soziales Netzwerk

    • Elternabhängige Belastungen, z.B.

    • ungünstiges (Gesundheits-/Sozial-) Verhalten

    • psychosomatische Beschwerden

    • geringe Nutzung von sozialen Dienstleistungen

    Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“, vgl. Holz 2004, S. 48, in: Zander 2005, S. 104.


    Allerdings gibt es im frühen Kindesalter auch Schutzfaktoren, die aber erst aus Entwicklungsgründen im Grundschulalter an Bedeutung gewinnen. Laut der AWO-ISS-Studie spielt vor allem elterliches Bewältigungshandeln eine große Rolle. Holz konstatiert:

    „Für alle Familien gilt: Je besser den Eltern die Gestaltung des sozialen Netzwerkes und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen gelingt, desto stärker tritt ein Entlastungsgefühl ein“ (Holz 2005, S. 104).

    Die folgende Auflistung zeigt die wichtigsten Schutzfaktoren für Kinder im frühen und mittleren Kindesalter:

    Abb. 6: Schutzfaktoren für Kinder im frühen und mittleren Kindesalter

    Schutzfaktoren für Kinder im frühen und mittleren Kindesalter

    Kindliche Faktoren

    Inner-/außerfamiliäre Faktoren

    • Soziale und intellektuelle Kompetenz

    • Kreativität und Talent

    • Im Temperament tendenziell flexibel und in der Beziehungsgestaltung annäherungsorientiert

    • Befriedigende soziale Unterstützung

    • Selbstwirksamkeitserwartung und Leistungsmotivation

    • Positives Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit

    • Emotionale warmherzige Beziehung zur Mutter

    • Erziehungsklima positiv, wenig konflikthaft, offen und die Selbstständigkeit der Kinder fördernd

    • Vorhandensein eines besten Freundes oder einer besten Freundin

    • Gute und enge Kontakte zu einem außerfamiliären Erwachsenen

    • Soziales Netzwerk

    • Aktiv-problemlösender Copingstil

    • Vielfältige Lern- und Erfahrungsräume

    • Situationsgerechtes Handeln der Eltern, das möglichst erfolgreich ist und keine zusätzliche Belastung darstellt

    • Positives Familienklima, aufbauend auf einer guten Partnerbeziehung

    • Positive Eltern-Kind-Beziehung mindestens eines Elternteils

    • Einbindung in ein stabiles Beziehungsnetzwerk zu Verwandten, Freunden, Nachbarn

    • Vorhandensein von Zukunftsvorstellungen und -perspektiven für sich und das Kind

    • Investitionen in die Zukunft der Kinder, vor allem durch Förderung ihrer sozialen Kontakte und Kompetenzen

    • Gewährleistung von außerfamiliären Kontaktmöglichkeiten und von Teilhabe an kindlichen Alltagsaktivitäten

    • Nutzung von außerfamiliären Angeboten zur Entlastung, Reflexion und Regeneration

    Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“, „Armut im frühen Grundschulalter 2001“. vgl. Holz/Puhlmann 2005, S. 38, in: Zander 2005, S. 105.


    Elschenbroich ist der Ansicht, dass Selbstbewusstsein, Zuvertrauen und elterliche Prozesse, die förderlich zur „Aneignung der Welt“ sind, wichtige Voraussetzungen sind, um den Entwicklungsprozess und die Förderung von (Selbst-)Kompetenz positiv zu gestalten. Anhand der oben aufgeführten Auswirkungen ist erkenntlich, dass arme Kinder hierbei häufiger eingeschränkt sind als nicht-arme Kinder.

    1. Identität

    In diesem Kapitel soll ein Grundstein für die spätere Fallanalyse gelegt werden. Anhand von entwicklungstheoretischen Erkenntnissen wird herausgearbeitet, welche Voraussetzungen für eine gelungene Sozialisation erforderlich sind. Dazu wird als Erstes eine begriffliche Einordnung des Identitätsbegriffs vorgenommen. Der zweite Abschnitt widmet sich in erster Linie Eriksons Konzept der Identität.7 Aufbauend auf dem epigenetischen Phasenmodell der Identitätsentwicklung von Erik H. Erikson wird die Sozialisationsforschung betrachtet, das erlaubt, den Untersuchungsgegenstand näher zu fokussieren.

      1. Begriffsbestimmung Identität

    Die Bestimmung des Begriffs Identität gestaltet sich schwierig, denn in der Literatur gibt es keine fachübergreifend allgemeingültige Definition dafür. Insgesamt beschreibt der Begriff die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ Laut Keupp (1999) wird Identität nicht nur durch diese Hinterfragung gebildet, sondern auch dadurch, dass wir permanent an unserer Identität arbeiten, indem wir unser Leben gestalten und alltägliche Handlungen (neu) konstruieren (vgl. Keupp 1999, S. 215).

    Seinen Ursprung hat der Identitätsbegriff in der Psychoanalyse, wo sich vor allem Entwicklungspsychologen wie Erik H. Erikson mit dem Phänomen beschäftigt haben. Sein Identitätskonzept wird im Folgenden vorgestellt, denn es gilt als Klassiker und als der bekannteste und meist gelesene Ansatz in der Identitätsentwicklung (vgl. Kraus 1996, S. 13).

      1. Eriksons Konzept der Identität

    Eriksons 1950 publizierter Ansatz bezeichnet die Jugendzeit als entscheidende Phase für die Entwicklung der Identität. Er fragt sich, wie sich der Mensch zu einer reifen Persönlichkeit entwickeln kann (vgl. Meyer-Barthel 1997, S. 75). Unter Identitätsbildung versteht er eine psychosoziale Entwicklung und betont vor allem die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. Identität ist dabei eine

    „unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit […] und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (Erikson 1959, S. 18).

    Das Selbst strebt laut Erikson nach zeitlicher Kohärenz und Übereinstimmung, bleibt aber dennoch veränderbar. Über soziale Interaktionen und gesellschaftliche Zuschreibungen wird das Selbstbild weiterentwickelt. Dabei ist das Individuum bestrebt, einerseits in seiner Einzigartigkeit anerkannt zu werden und andererseits soziale Zugehörigkeit zu erfahren. Die psychosoziale Entwicklung verläuft laut Erikson nach einer anthropologisch-universellen Grundform.


    Swop your Documents