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Seminararbeit / Hausarbeit

Jean Echenoz: Roman­ana­lyse Un an ein post­mo­derner Krimi­nal­ro­man?

4.427 Wörter / ~21 Seiten sternsternsternsternstern_0.75 Autorin Marie L. im Sep. 2013
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Seminararbeit
Romanistik

Universität, Schule

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - HHU

Note, Lehrer, Jahr

gut, 2009

Autor / Copyright
Marie L. ©
Metadaten
Preis 5.00
Format: pdf
Größe: 0.25 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern_0.75
ID# 33681







Romananalyse


Jean Echenoz : Un an- ein postmoderner Kriminalroman?


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Inhaltsanalyse

2.1 Das Fragment und die Person des Jedermanns

            2.2 Die Symbolizität der Schauplätze

            2.3 Echenoz’ Bildsprache

3 Grafische Figurenkonstellation

4 Figuren

4.1 Victoire

            4.2 Félix

            4.3 Louis - Philippe

4.4 Noëlle

            4.5 Gérard

4.6 Goretex und Lampoule

            4.7 Castel und Poussin

5 Epochenzuordnung

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis


1 Einleitung


Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit der Romananalyse am Werk Un an des französischen Romanciers Jean Echenoz. Erschienen im Verlag Les Éditions de Minuit, der bekannt ist für seine avantgardische Autorenschaft lässt sich der Roman zu der „ecriture minimaliste“ zählen.

Echenoz’ Schreibstil, Formgestaltung und Bildsprache werden auf den folgenden Seiten genauer analysiert. Ebenfalls wird auf die verwendete Erzählstruktur Echenoz’ eingegangen, welche nach Gérard Genette untersucht wird.

Kann man den Roman Un an als postmodernen Kriminalroman ansehen? Wie gestaltet der Autor seine Erzählung und was ist der Gedanke hinter der Verwendung des Fragments? Lesen sich aus Echenoz’ Werken mögliche autobiografische Rückschlüsse und was lässt seine Romane so realistisch erscheinen? Diese und weitere Fragen, sollen im Laufe dieser Romananalyse zu klären sein.

Die Protagonistin des Romans ist die 26 – jährige Victoire, deren Leben im Laufe von fast einem Jahr, durch den Leser begleitet wird.

Mit Hilfe eines Analysekatalogs, der auch im Seminar verwendet wurde, werden die Inhaltsstruktur, die Epocheneinordnung und auch die Figuren, die eine wichtige Rolle in diesem Roman spielen, analysiert. Ein wesentlicher Schwerpunkt wird dabei jedoch auf die Hauptfiguren gelegt.

2 Inhaltsstruktur


2.1 Das Fragment und die Person des Jedermanns

Paradoxie, Ironie, Pluralität der Sinnverwiesenheit und konzise Schreibweise[1] sind neben zahlreichen anderen Charakteristika die Merkmale des Schreibstils des französischen Romanciers Jean Echenoz, welcher seine Leser am Ende seiner Romane mit einem Gefühl der Ratlosigkeit zurücklässt. Auf diese Weise kann das Rätsel zwei Arten von Lösungen, bezüglich der gegebenen Informationen, herbeiführen.

Nämlich ein Ende, was unbeschließbar bleibt, dem sog. „récit indécidable“[2] mit andauernder Dunkelheit oder jedoch die Lösung einer banalen, gar harmlosen Antwort, welche die Leserschaft hungrig zurücklässt.[3] Diese gegen Ende bestehende Unentschiedenheit wird auch an der von Klaus Semsch verwendeten Metapher des zu vervollständigenden Puzzles[4], deutlich. Laut einer Studie von Jean-Claude Lebrun und Wolfgang Asholt trägt vor allem die Akzentuierung auf das Fragment einen wesentlichen Bestandteil zur Unschlüssigkeit des Verständnisses bei.

So verbindet Echenoz in seinem „roman à double action“[5] zwei diametrale Erzähltaktiken indem er auf der einen Seite einen Erwartungsaufbau beim Leser zulässt, der jedoch im nächsten Zug wieder gebrochen wird.

Nach der außerliterarischen Wirklichkeit dürfe bei Echenoz demnach nicht gefragt werden, da die narrativen Brüche nur in der Linearität der Literaturimmanenz einen Sinn ergeben[6], so Semsch.

Obwohl sich Echenoz vehement gegen die Bezeichnung als „postmoderner Minimalist“[7] wehrt, suggeriert die Bezeichnung Lebruns für Echenoz als „accélérateur de particules“[8] etwas anderes. Zu Beginn des Schreibprozesses steht eine „idée fixe“[9], um welche der folgende Plot konstruiert wird. Dabei wählt der Romanautor und zugleich studierte Soziologe seine Figuren mit einem „regard sur un état de la société française“[10] aus, welcher einen „symptomatischen Ausschnitt“[11] aus der gegenwärtigen Gesellschaft  wiedergebe.

Er unterhält mit seinen sozialen und psychologischen Betrachtungen von Alltagserfahrung der postindustriellen französischen Gesellschaft[12] und schafft es trotz der Banalität der Idee, und diesbezüglich entstehenden Betitelung als Minimalist, seine Inhalte nicht im Sand verlaufen zu lassen.

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Ebenso klassisch für die Figuren, so Semsch, sei ihr „Einzelkämpfertum“[13] nach zu vorigem Zusammenleben in einer Partnerschaft. Dieses Kriterium wird auch in dem vorliegenden Roman Un an deutlich, wo sich die junge Victoire nach dem angeblichen Tod ihres Partners Félix auf die Flucht ins Unbekannte begibt.

Die Protagonistin Victoire versucht ihrem, durch den verstorbenen Partner, in Schutt liegendem Leben zu entrinnen und bricht sturzartig auf, um etwaigen Anschuldigungen bezüglich Felix’ Tod zu entgehen.

Die übereilte Flucht über Bordeaux hin zu einem zunächst am Atlantik gelegenen Städtchen namens Saint – Jean – de – Luz verläuft vollkommen unüberlegt und wahllos, lediglich durch Knobeln bestimmt sie diesen vorübergehenden Aufenthaltsort. Victoires vollständige Flucht, über den Zeitraum eines ganzen Jahres verläuft planlos und umherirrend, weswegen Martin Heidegger ihre Person als „zigzaguer“[14] betitelt.

Da Victoire gar nicht weiß vor wem oder was sie eigentlich flieht (S.13)[15] schildert Heidegger dieses Verhalten als „passiv-reaktive Flucht einer um-wegigen Seins-besorgung“[16]. Echenoz versucht hierbei die Umwege und zickzackartigen Verläufe auch formal in seinem Roman zum Ausdruck zu bringen.

Hierbei bedient er sich trotz stark fragmentarischen Erzählzügen der klassischen Erzähllogik, welche nach der Analysemethode von Genette im Bezug auf die Zeitstruktur zu untersuchen sei. Bezüglich der Maxime Ordnung, lässt sich in dem vorliegenden Roman eine eindeutige Anachronie festmachen, da sich schon allein das fragmentarische Erzählen, welches einzelne Situationen „„ausschneidet“ und in einen anderen, interpretierten Kontext einsetzt““[17], dafür ausspricht.

Ferner jedoch ist auch die intermittierende Erzählrhythmik wie die Prolepsen („une équipe d’adolescentes á queues de cheval, apareils dentaires et sacs de sport, en route vers le match nul“ (S.11)) und die Analepsen („Elle savait avoir passé la matinée seule après le départ de Félix“(S.9)), welcher sich der Romanautor bedient, bezeichnend dafür, dass es sich nicht um einen chronologischen Aufbau handeln mag.

Um des weiteren auf die zweite Maxime, die Dauer einzugehen, biete es sich an dieser Stelle an, eine Brücke zum Romantitel zu schlagen.

Un an zu Deutsch Ein Jahr. Dieser Titel indiziert bereits, dass es sich in diesem Werk möglicherweise um ein Geschehen handelt, welches sich in einer Zeitspanne von etwa einem Jahr abspielt. Bezugnehmend zur Analyse ist nun deutlich, dass Erzählzeit und erzählte Zeit hier gar nicht zeitdeckend übereinstimmen können, sondern die erzählte Zeit, die Zeit des Geschehens wesentlich länger ist als die Erzählzeit, welche auf knapp 111 Seiten, das Jahr von Victoire (Februar (S.8) bis November (S.110)) erzählt und es sich somit um einen zeitraffenden Erzähldiscours handelt.

Ferner bedient sich Echenoz auch nur dem singulativem Erzählen, was bedeutet, dass er einmalig geschehene Ereignisse auch nur einmal erwähnt. Dennoch wirken diese möglichst kurzgefassten Strukturen nur partiell gekürzt; an wieder anderen Stellen, beschreibt Echenoz in einer unglaublichen Präzision Licht – und Wetterverhältnisse (S.22) und bedient sich auch Wiederholungen von Bildern und Symbolen gleichen Charakters oder antonymischen.


Echenoz formuliert außerordentlich genaue Beschreibungen des „urbanen Setting[s]“[18], welche reale Schauplätze Frankreichs wiedergeben. „Mit Schnitt und Montage überträgt er zum Beispiel Möglichkeiten filmischer Ästhetik auf die Illusionsbildung im Roman“[19]. Sei es der „banlieue parisienne oder [der] paysage rural“[20], sie werden so wiedergegeben als konstruiere sich die Szenerie in einer cinegraphischen[21] Manier im Auge des Rezipienten.

Dennoch käme vielmehr Gewichtung der „Symbolizität“[22], sprich einer gewissen Seelenlandschaft, der Schauplätze zu, so Semsch. So haben die realistisch beschriebenen Settings weniger materielle Bedeutung sondern vielmehr moralische.[23]

Das Schema des Fortschreitens konzentriert sich demnach auf die Transformation der Protagonistin. So wird Victoire mit einem Schlag aus der kosmopolitischen Stadt Paris heraus gerissen; heraus aus einem Leben in einer Partnerschaft und dem Komfort einer Wohnung. Fortan reist sie über Bordeaux nach Saint – Jean – de – Luz.

An dieser Stelle setzt Echenoz eine gezielte Pause ein, um auf diese Weise die Örtlichkeiten näher zu beschreiben und den Leser in die „Vorstellungswelt des Romans“[24] zu bringen.

Die beschriebene Siedlung am Rande der Stadt, deren Abgeschiedenheit, wie eine erste Erlösung durch die engelartige (Vgl. S.15) Gestalt Noëlles ist, und ein Zufluchtsort für die Rückbesinnung auf sich selbst scheint, bestimmt für Victoire einen Aufenthaltsplatz für die nächsten drei Monate. Auch das brache Inventar des Hausrates, wie verschlissene Decken und alte Zahnbürsten (S.21) sind bedeutungstragend zu interpretieren und spiegeln die symbolisch Victoires verlorene Seele wider.[25] Durch ihre Naivität und Unachtsamkeit wird sie von ihrem Geliebten Gérard bestohlen und Etappen des Niedergangs setzen nachfolgend ein.

Echenoz verwendet, im Gegensatz zu der im Nouveau Roman auftretenden „Erzählfigur ohne Tiefe“, einen auktorialen Erzähler. Dieser allwissende Erzähler greift wiederholt durch Kommentare in die Erzählung ein, bedient sich dem unglaublichen Kniff von Ironie, welche Sjef Houppermans als Knalleffekt des Humors echenozienne bezeichnet, und integriert mit der mehrmalig verwendeten Wir-Form (Vgl. S.46) den Leser ins Geschehen.

Eine „doppelte Enthüllung“, die zunächst auf einen Missstand ironisch hinweise, um nachfolgend ein Gefühl beim Leser zu erzeugen. Diese ironische Verzerrung wird beispielsweise an dem folgenden Satz deutlich, wo Victoire bemerkt, dass sie in der „dernière extrémité la pute à l’occasion“ (S.46) erwägen müsse. Die Irrfahrt führt Victoire nach Mimizan-Plage.

Schlussendlich nur noch mit einem „belle bicyclette anglaise á sept vitesses“ (S.50) und den notwendigsten Kleidungsstücken gewappnet, schläft sie wenige Tage später zum ersten Mal unter freiem Himmel (Vgl. S.56).


2.3 Echenoz’ Bildsprache

Wie bereits auf der vorigen Seite kurz angerissen, bedient sich der Romanautor mehrmaligen Wiederholungen in ähnlicher oder konträrer Art und Weise.

So ziehen sich vorrangig Bilder wie Spiegel, Engel, die Allgegenwärtigkeit des Zufalls und der Willkür wie ein Leitfaden durch das gesamte Werk. Die Willkür und der Zufall sind durchgängige Leitmetapher in Un an, so lässt Victoire ihre Aufenthaltsorte durch das Los (Vgl. S. 13), die Vorgabe eines dreimonatig befristeten Mietvertrags (Vgl.

S.17), der Willkür („Pourquoi Mimizan. Pourquoi pas. “ (S.49)) oder aber schlichtweg des netten Namens wegen (Vgl. S.63), bestimmen. Nichts verläuft geradlinig.

Ein weiteres wichtiges Symbol ist der Spiegel[27], der die Veränderungen, der zuvor recht attraktiven und ihrer Reize bewussten Protagonistin, widergibt. Stets aufs Neue wird Victoire mit der Vergänglichkeit der Jugend und ihrer Schönheit konfrontiert. An insgesamt vier Stellen verwendet Echenoz die Metapher des Spiegels.

Bereits zu Anfang des Romans, wo sich Victoire im Spiegel der Zugtoilette betrachtet, ihren Anblick nicht erträgt (Vgl. S.9) und vor ihrer eigenen Person flüchtet. Das zweite Mal wird sie im Mietshaus in Saint – Jean – de – Luz mit ihrem Spiegelbild konfrontiert, als sie nach der Enttäuschung durch Gérard, ebenfalls die Spuren ihrer Misere in ihrem Gesicht entdeckt (Vgl.

S.43). Die dritte Auseinandersetzung ihrer Selbst, erfährt Victoire im Laufe ihres Lebens als Obdachlose, als sie sich im Spiegel einer Apotheke sieht und realisieren muss, dass sie der soziale Abstieg in allen Facetten eingeholt hat (Vgl. S. 59).

Nun rieselt der paradox gewählte Name Victoire, wie eine absolute Niederlage dahin, da sie nicht nur alles Materielle hat hinter sich lassen müssen, sondern sich nun auch von ihrer Schönheit verabschiedet hat. Ebenso verfährt Echenoz mit der Ausgangs- und Endposition der Irrroute. Wie begonnen endet die Irrfahrt an einem Bahnhof.

Gestartet am Bahnhof Montparnasse, dessen Bahnhofshalle an eine Leichenschauhalle erinnerte (Vgl. S. 8); scheint der Bahnhof von Saint – Lazare ihr neue Hoffnung zu geben[28].

Lässt man alles noch einmal Revue passieren, setzt sich nach und nach das aus thematischen Wiederholungen gestaltete Puzzle zu einem Ganzen zusammen und die zunächst absurd wirkenden Fragmente, verlieren ihren arbiträren Charakter und spinnen ein sinngebendes Netz.

Abschließend lässt sich noch festhalten, dass Un an keine Kapiteleinteilung besitzt; der Roman dennoch durch zahlreiche Schauplatz- und Figurenwechsel eine Struktur erhält. So wird mit jeder weiteren erlittenen Niederlage Victoires ein neues  Kapitel aufgeschlagen bis man auf der letzten Seite angekommen, auf einen „cliffhanger“[29] stößt und denkt es müsse noch weitergehen.

Doch genau dies ist die Besonderheit des Fragments, das sich auf den auschnitthaften Erkenntnischarakter der fragmentarischen Denkweise und Wirkungsabsicht bezieht und damit Gedanken nicht erschöpfen, sondern neues Denken aktivieren soll[30].





3 Grafische Figurenkonstellation



                                                                                                                                        [31]


4 Figuren


4. 1 Victoire

Victoire ist die Protagonistin des Romans Un an. Sie ist die zentrale Figur, welche über den Zeitraum von etwa einem Jahr begleitet wird und deren Leben mit all seinen Auf und Abs beschrieben wird.

Victoire ist eine junge, unverheiratete Frau im Alter von sechsundzwanzig Jahren (S.9), welche schon sehr früh jeglichen Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat. Außer ihren Partner Félix scheint sich nicht viele Bekannte zu haben. Von Natur aus ist sie eine misstrauische Person (S.19) und kann sich nur schwer gegenüber ihren Mitmenschen öffnen.

Soziale Kontakte zu knüpfen fällt ihr schwer. Dies ist auch der Grund, warum die meisten ihrer Arbeitsverhältnisse überwiegend von kurzer Dauer gewesen sind und sie daher meist auf die finanziellen und verwalterischen Maßnahmen ihres Freundes Félix angewiesen ist (Vgl. S.20).

Victoire ist sich durchaus ihren Stärken und Schwächen bewusst. Sie weiß genau wie sie ihre weiblichen Reize einzusetzen hat und kann sich an Angeboten von Männern nicht beklagen. Sie weiß sehr wohl wer ihr gefällt und wer nicht. (Vgl. S. 32 ff.) Mit ihren Schwächen hat sie sich arrangiert, so hat sie die Eigenart angenommen, eine Vielzahl von Fragen zu stellen (S.19) um auf diese Weise Fragen bezüglich ihrer eigenen Person zu entgehen.

Zusammenfassend kann man sie als eine Person charakterisieren, die weder für sich selbst noch für andere Verantwortung übernehmen kann, kinderlos bleiben (Vgl. S. 65) will und sich dem Schicksal fügt.


4. 2 Félix

Félix lässt sich trotz seiner offensichtlich geringsten Anwesenheit zu den Hauptfiguren zählen, da seine Person der ausschlaggebende Punkt für den Aufbruch Victoires zur Flucht ist.

Über seine Person, sowohl charakterlich als auch äußerlich lassen sich aufgrund der spartanischen Angaben nur Vermutungen anstellen.

Möglicherweise ist er Künstler, da er seine Vormittage im Atelier (S.9) verbringt. Finanziell kümmert er sich um seine Partnerin Victoire (S.20). Merkwürdig ist, dass er keinerlei Nachforschungen zu Victoires abrupten Verschwinden anstellt, was eine gewisse Gleichgültigkeit suggeriert und die Frage aufwirft, ob er Victoire wirklich aufrichtig geliebt hat.


4. 3 Louis-Philippe

Die Figur von Louis-Philippe nimmt in dem vorliegenden Roman wohl die fragwürdigste und geheimnisvollste Rolle ein. Engelgleich und wie „Phönix aus der Asche“ erscheint er aus dem Nichts und begleitet Victoire während verschiedener Etappen durch ihr Jahr.

S.31). Seinen mysteriösen Charakter erhält Louis-Philippe dadurch, dass er stets und an jedem noch so fernen Ort Victoire auf zu spüren weiß (Vgl. S.10).

Er scheint irgendwie mit ihr in Verbindung zu stehen, über sie zu wachen und bei ihr zu sein. Letztlich wissend, dass Louis-Philippe schon am Anfang des Romans tot (Vgl. S. 111) ist und Victoire demnach gar nicht wahrhaftig hat begleiten können, gewinnt seine Person einen großen Anteil mystischer Gestalt, welche den Leser zum Nachdenken und Illusionieren anregt.

Fragen wie: In welcher Beziehung standen Victoire und Louis-Philippe zu einander? Welcher Sinn steckte hinter seiner Begleitung Victoires? Und warum trat er auf, um Victoire zu sagen, sie dürfe vorerst nicht nach Paris zurückkehren? ergeben sich in der Rezension des Romans.


4. 4 Noëlle Valade

Noëlle Valade besitzt ein kleines, am Stadtrand von Saint – Jean – de – Luz gelegenes Häuschen, welches sie nach dem Tod einer Verwandten geerbt hat (S.15), selbst nicht bewohnen mag und daher vermietet. Noëlle ist eine imposante und selbstbewusste Frau mittleren Alters mit frühzeitig ergrautem Haar (S.15), die ihr Leben in vollen Zügen zu genießen scheint.

An Angeboten des männlichen Geschlechts scheint es ihr jedoch nicht zu mangeln.

Ihre Art ist aufgeschlossen, was daran deutlich wird, dass sie Victoire umgehend anbietet, sie bei ihrem Vornamen (« appelez-moi Noëlle »(S.18)) zu nennen. Gegenüber Victoire empfindet sie kein Misstrauen und beschränkt die für die Vermietung notwendigen Formalitäten (S.17) nur auf das Nötigste.

Des Weiteren wirkt sie leicht arrogant und sehr penibel. Auf ihre Mitmenschen wirkt sie, als schwebe sie über dem Erdboden (S.15) und als führe sie ihr korallfarbenes Cabrio, auf welches sie Kleidung und Make-up (S.15) abstimmt, lediglich mit Hilfe magnetischer Kräfte (S.19).


4. 5 Gérard

Gérard ist der vier Jahre (S.33) jüngere Liebhaber von Victoire. Ein charmanter Taugenichts, welcher in den Tag hineinlebt. Über seine berufliche Laufbahn oder sein Privatleben erfährt der Leser nicht sehr viel. Lediglich, dass er Tag für Tag zur gleichen Zeit in der selben Bar (S.33) sich mit seinen Freunden trifft.

Rein äußerlich ist er ein hübscher, sehr schlanker junger Mann von 22 Jahren, welcher mit seinem vielfältigen Lächeln (S.33) recht gut bei den Frauen auf Anklang stößt. Obwohl er mit einer jungen Frau namens Bille enger befreundet ist (S.33), lässt er sich auf eine Affäre mit Victoire ein. Sein ganzer Stolz ist sein beigefarbenes Auto der Marke Simca Horizon (S.35), welchen er sorgsam pflegt und mit dem er Frauen zu imponieren versucht.

Obwohl sie sehr vertraut miteinander umgehen - selbst sexuell aufeinander einlassen - behält Gérard die Manier bei, Victoire durchgängig zu siezen (S.34). Ein echtes emotionales Verhältnis baut sich somit nicht auf.


4. 6 Goretex und Lampoule

Goretex und Lampoule sind ein ungleiches Paar, welches sich aufgrund ihres gemeinsamen Schicksals der Obdachlosigkeit in einer Zweckgemeinschaft befindet.

Goretex ist ein großer, liebenswerter, hübscher Mann älteren Semesters (S.74 ff.), der gegenüber Lampoule, welche nur etwa halb so alt ist wie er, eine väterliche Rolle eingenommen hat. Aufgrund seines sehr nachsichtigen und sanftmütigen Charakters, mit der Unfähigkeit zum Bösartigen, wirkt der Umgang mit ihm ein wenig trist und fad (Vgl.

S.75). Dennoch scheint er eine gewisse Macht auf die ihn umgebenden Obdachlosen auszuüben (Vgl. S.74). Seine einzigen Besitztümer sind ein Goretex-Mantel, weshalb er auch seinen Kosenamen trägt (S.74), und ein namenloser Hund, von dem er sich mit Papa ansprechen lässt.


4. 7 Castel und Poussin

Castel und Poussin sind ein homosexuelles (Vgl. S. 88) Obdachlosenpaar. Beide sind Männer im Alter von etwa 50 Jahren (S.87), die in einer kleinen, niedrigen, aus Gips und anderen Materialien, zusammengezimmerten Hütte (S.85) im Umkreis von Toulouse leben.

Eigentlich heißen beide  Jean - Pierre, um aber mögliche Verwechslungen zu vermeiden, haben sie beschlossen, dass die Möglichkeit sich beim Nachnamen zu nennen, die Bessere sei (Vgl. S.87). Castel ist der männliche Part in dieser Lebensgemeinschaft. Ein gestandener Mann, mit rauer Stimme, dunklen Teint und groben Gesichtszügen.

Um über die Runden zu kommen und sich und seinen Lebenspartner zu ernähren, geht er auf die Jagd und zum Fischfang (S.88).

Poussin  hingegen übernimmt die weiblichen und häuslichen Eigenschaften (Vgl. S.90). Sein Äußeres ähnelt ein wenig dem US-Schauspieler Zero Mostel (S.84). Seine Stimme wirkt im Gegensatz zu Castels geziert und auch seine weichen Züge unterstreichen seine  feminine Seite.

Vor der Obdachlosigkeit, haben sie in der Umgebung von Paris gewohnt, wo sie gemeinsam in einer Fabrik für Elektroteile gearbeitet haben (Vgl. S.89). Es wird jedoch recht deutlich, dass sie mit ihrem Schicksal und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten überein gekommen sind. Sie haben ihre Unterkunft so schön wie nur möglich gestaltet, verbringen die Abende mit Kartenspielen, Gesprächen und den Radionachrichten (S.92).


5 Epochenzuordnung


Nach der vorhergehenden Inhaltsanalyse folgt jetzt die literaturwissenschaftliche Einordnung der Epoche betreffend.

Auch wenn es nicht den „einen Stil der Gegenwartsliteratur“[32] gibt, kann man anhand von den in der Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft von Hartmut Stenzel und Susanne Hartwig genannten sechs Kriterien der Gegenwartsliteratur den Roman Un an deutlich der Postmoderne zuordnen und damit Jean Echenoz, trotz Ablehnung in die Kaste, als postmodernen  Minimalist einfügen.


„Texte des Minimalismus“[33]

Typisch für die Texte der Postmoderne sind ihr Anteil an Minimalismus, obwohl mit umschreibenden Wörtern, Bildern und Orten unzählige Szenerien beschrieben werden, ändert sich an der gesamten Handlung des Textes meist kaum etwas. So suggeriert auch Echenoz nur eine Handlung, setzt Pausen ein um Ortbeschreibungen vorzunehmen. Doch in Wirklichkeit überspielt er auf diese Weise lediglich den Stillstand.


„Extreme „Äußerlichkeit“ des Schreibens“[34]

Quellen & Links

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