Iphigenie
auf Tauris - Goethe
Analyse; 1 Auftritt, 4 Aufzug
Im Folgenden analysiere ich den ersten Auftritt des
vierten Aufzugs, indem ich den Text knapp inhaltlich zusammenfasse und
einordne, den Aufbau des Monologs darstelle, äußeres und inneres Geschehen
voneinander abgrenze und Iphigenies Göttervorstellung erläutere. Zuletzt
untersuche ich die Frage, inwieweit in dieser Szene von autonomen Handeln die
Rede sein kann.
Im ersten Auftritt des vierten Aufzugs des Dramas
,Iphigenie auf Tauris' von Johann Wolfgang von Goethe hält Iphigenie einen
Monolog. Er ist eine Art Lobpreisung, durch die ihre Göttervorstellung deutlich
wird. Sie sagt, wenn die Götter einem Menschen Not, Leid oder Kummer berieten,
dann sorgten sie auch gleichzeitig dafür, dass dieser geplagte Mensch einen
Freund hat, der ihm hilft. Aus dem weiteren Verlauf des Monologs geht hervor,
dass Iphigenie selbst dieser Mensch ist, in dessen Gemütszustand sich Glück und
Freude mit Kummer und Sorge abwechseln. Und in Pylades sieht sie den helfenden
Freund. In ihrem Monolog lobt Iphigenie die Taten des Pylades und beschreibt
dem Zuschauer, wie er ihr geholfen hat. Danach geht sie auf den Plan ein, mit
dem die beiden Freunde den König Thoas überlisten wollen. Sie erklärt, dass
Orest und Pylades gerade auf dem Weg zum versteckten Schiff mit den übrigen
Gefährten sind und dass ihre Aufgabe ist, die vereinbarte Ausrede vorzutragen,
mit der ihre Opferung hinausgeschoben werden soll.
Des Weiteren trägt Iphigenie ihre Sorgen und
Gewissensbisse vor. Im Mittelpunkt steht hierbei die Lüge, zu der sie sich
genötigt sieht. Am Ende des Monologs hört Iphigenie sich nähernde Schritte.
Damit leitet Goethe zum zweiten Auftritt des vierten Aufzugs über, in dem Iphigenie
nämlich ein Gespräch mit Arkas, dem Boten des Königs, führt. Der Text ist
hintern den Auftritt von Orest, Iphigenie und Pylades einzuordnen, in dem es um
die Lösung Orests vom Fluch und seine Heilung vom Verfolgungswahn und der Lebensmüdigkeit
geht. Nach dem Text folgt wie eben erwähnt der Dialog zwischen Iphigenie und
Arkas, in dem das Mädchen den Boten anweist, dem König den Aufschub der
Opferung mitzuteilen. In diesem Auftritt lügt Iphigenie, denn sie will ja nicht
das Bild der Diana weihen, sondern es rauben und mit ihrem Bruder und dessen
Freund nach Griechenland fliehen. Der vierte Aufzug in diesem geschlossenen
Drama mit Fünf-Akt-Struktur ist der Akt der fallenden Handlung. Er hat eine
retardierende Funktion. Die Handlungsweise Iphigenies läuft auf die Lösung des
Konflikts zu. Der Zuschauer weiß nur nicht, ob sie in einer Katastrophe endet
oder nicht. Damit birgt der vierte Aufzug das Moment der letzten Spannung. Die
Spannung beim Zuschauer kommt dadurch zustande, dass er nicht weiß, ob
Iphigenie mit ihrer Lüge tatsächlich Erfolg haben wird, zumal sie selbst immer
noch an der Richtigkeit dieser Vorgehensweise zweifelt.
Den Monolog von Iphigenie kann man in fünf Abschnitte
aufteilen. Im ersten Abschnitt (Verse 1369 - 1381) lobpreist Iphigenies die
Götter. Dieser Abschnitt besteht aus einem einzigen Finalsatz. Dadurch wird
Iphigenies unerschütterliche Überzeugung von der dort benannten Eigenschaft der
Götter unterstrichen. Außerdem stehen die Verse dieses Abschnitts ein Stücken
eingerückt, so als ob sie ein feststehendes Gesetz wären, das Iphigenie hier
zitiert. Der zweite Abschnitt (Verse 1382 - 1394) ist eine Anrufug der Götter,
dass sie Pylades Segen spenden sollen. ,,O segnet, Götter, unseren Pylades und
was er immer unternehmen mag!" (Verse 1382f). Wie in der
Inhaltszusammenfassung schon erwähnt lobpreist Iphigenie hier ihren Freund
Pylades. Sie vergleicht ihn mit dem ,,Arm des Jünglings in der Schlacht"
(Vers 1384) und mit dem ,,leuchtenden Aug eines weisen Greises (Vers 1385). Sie
sagt, er bewahre die Ruhe und könne durch seine Gelassenheit dem Ratlosen Rat
und Hilfe geben (Verse 1386 - 1389). Im dritten Abschnitt (Verse 1395 1401)
geht Iphigenie auf die weiteren Absichten des Planes ein. Hier gibt sie unter
Anderem den wichtigen Hinweis, dass Pylades sich die Worte ausgedacht hat, die
Thoas in die Irre führen wollen und die Iphigenie lügen lassen. ,,...und haben
kluges Wort mir in den Mund gegeben, mich gelehrt, was ich dem König antworte,
wenn er sendet und das Opfer mir dringender gebietet." (Verse 1398 1401).
Im vierten Abschnitt (Verse 1401 - 1415) kommen
Iphigenies Zweifel, Ängste und Befürchtungen zum Ausdruck. Es tauchen Worte wie
,,Ach!" (Vers 1401), ,,Weh!" (Vers 1404) und ,,O weh der Lüge!"
(Vers 1405) auf. Hier wird deutlich, dass Iphigenie bestrebt ist, das Ideal der
schönen Seele, wie Schiller es formuliert hat, zu erreichen. In den folgenden
Versen erkennt man Iphigenies Neigung zur Wahrheit: ,,O weh der Lüge! Sie
befreit nicht, wie jedes andre wahrgesprochene Wort, die Brust; ..."
(Verse 1405ff).
Der fünfte und letzte Abschnitt (Verse 1415 - 1420)
stellt einen Übergang zur nächsten Szene dar. Iphigenie lauscht und hört den
Boten herannahen und beschreibt, welches Gefühl sie dabei hat. ,,Es schlägt
mein Herz, es trübt sich meine Seele," (Vers 1418). Das ist ein Hinweis
auf die Geschehnisse des zweiten Auftritts. Neben den inhaltlichen Aspekten,
die in dieser Abfolge von Abschnitten zum Ausdruck kommen, komponiert Goethe
hier einen Wechsel zwischen innerem und äußerem Geschehen. Zum inneren
Geschehen gehören Gedanken, Gefühle und Vorstellungen Iphigenies. Diese kommen
in dem ersten und vierten Abschnitt zum Ausdruck (Verse 1369 - 1381 und 1401 -
1415).
Zum äußeren Geschehen gehören die Handlung, der Handlungsablauf
und Tatsachen, von denen Iphigenie in ihrem Monolog berichtet. Dies geschieht
in den Abschnitten zwei, drei und fünf (Verse 1382 - 1401 und 1415 - 1420). Dadurch
entsteht ein Wechsel zwischen reflexiven und berichtenden Teilen. Iphigenies
Göttervorstellung ist nicht stringent und erfährt im Laufe der Ereignisse einige
Ambivalenzen. Zunächst denkt sie, dass die Götter für alles verantwortlich seien.
Sie könnten einen Menschen so beeinflussen, dass er verwirrt ist und keinen Ausweg
findet, dass er Kummer und Verzweiflung erleidet, aber auch so, dass er Freude
und Glück erfährt (Verse 1369ff). Iphigenie führt also den Ursprung jeder Gefühlsregung
auf den Willen und die Macht der Götter zurück. Iphigenie hält die Götter für
weise Wesen, die allwissend sind, die die Geschehnisse auf der Erde gerecht
beurteilen und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überblicken können. Das
geht sehr deutlich aus folgendem Zitat hervor: ,,Du hast Wolken, gnädige Retterin,
einzuhüllen unschuldig Verfolgte, und auf Winden dem ehrnen Geschick sie aus
den Armen, über das Meer, über der Erde weiteste Strecken, und wohin es dir gut
dünkt, zu tragen. Weise bist du und siehest das
Künftige; nicht vorüber ist dir das Vergangene, ..." (Verse 538 - 545). Dem
Monolog Iphigenies im ersten Auftritt des vierten Aufzugs kann man außerdem noch
entnehmen, dass Iphigenie den Göttern einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zuschreibt.
Das heißt, wer lügt oder ungerecht handelt, wird bestraft; wer eine gute Absicht
verfolgt, wird unterstützt und wer Verwirrung und Not leidet, dem wird geholfen.
Deshalb fürchtet Iphigenie die Lüge so sehr. In ihrem Monolog bringt sie ein bildhaftes
Beispiel: ,,... und sie (die Lüge, A.d.V.) kehrt, ein losgedruckter Pfeil, von einem
Gotte gewendet und versagend, sich zurück und trifft den Schützen." (Verse
1408ff). An dieser Stelle kann man schon Iphigenies weiteres Handeln
voraussagen. Da sie an diese Eigenschaften der Götter glaubt, muss sie der
Überzeugung sein, dass sie durch ihre Lüge die Rache der Götter auf sich lenken
und sich und Orest und Pylades dadurch ins Verderben führen wird. Iphigenie
entschließt sich, die Wahrheit zu sagen. Einerseits könnte man sagen, sie tut
dies, weil sie auf die Hilfe der Götter vertraut. Sie glaubt nicht, dass die
Hilfe der gerechten Götter in Form eines Freundes auftaucht, der sie zu einer
Lüge animiert. Andererseits könnte man ihr Handeln auch als Zeichen von
Autonomie deuten, und zwar, wenn man annimmt, dass Iphigenie in Pylades die von
den Göttern angebotene Hilfe sieht. Ihre Zweifel zeigen dann Ansätze von
Autonomie und richten sich gegen die Pläne des von den Göttern gesandten
Helfers. Wäre sie nur bedingungslos göttergläubig, würde sie ohne zu zweifeln
dem Helfer Pylades Folge leisten.
Betrachtet man die Dinge so, muss man Iphigenie das
Vermögen zu freiem und autonomen Handeln zuschreiben. Bezüglich dieser Szene
kann ansatzweise von autonomem Handeln gesprochen werden. Autonom zu handeln
bedeutet selbstbestimmt zu handeln, also frei zu sein von den Befehlen und
Anweisungen anderer, zum Beispiel denen des Königs, der Götter oder auch Orests
und Pylades'. Um autonom zu handeln, muss man aber vor allen Dingen seine
eigene Vernunft gebrauchen. Man kann hier eine Entwicklung von Iphigenie
beobachten. Zunächst steht sie völlig unter dem Einfluss der Götter, da sie gewillt
ist, dem von ihnen gesandten Retter zu gehorchen.