Iphigenie auf Tauris – 1 Aufzug
– 1 Auftritt
Lineare Analyse
Der erste Auftritt des
ersten Aufzugs von Johann Wolfgang von Goethes Drama "Iphigenie auf
Tauris" ist ein innerer Monolog der Hauptfigur Iphigenie. Schauplatz der
Handlung - nicht nur dieser Szene, sondern des ganzen Stücks - ist der Hain vor
dem Tempel der Göttin Diana. Iphigenie beschreibt hier ihre Lage zwischen
ihren Pflichten im Exil auf Tauris und ihrer Sehnsucht nach der griechischen
Heimat. Nachdem ihr Vater, Agamemnon, sie Diana opfern wollte, wurde sie von
eben jener gerettet und und als Priesterin nach Tauris gebracht. Das Stück
spielt einige Jahre danach.
Iphigenie leitet ihren
Monolog damit ein, dass sie in einen Hain geht (V.1-6): Sie tritt in die
Schatten der Wipfel. Während der Schatten fest auf den Boden geworfen wird,
ragen die Wipfel lebendig ("rege", V. 1) in den Himmel. Dieser
Kontrast (oben/unten, hell/dunkel, fest/bewegt) zeigt Iphigenies der Göttin
Diana untergeordnete Stellung auf (der Hain wird mit Dianas Tempel verglichen).
Zugleich steht Iphigenie aber auch, indem sie in den Schatten der Wipfel, ergo
der Bäume getreten ist, unter dessen Schutz. Dabei stellt sie sich als
Individuum ("ich", V. 4) in eine höhere Ordnung ("der Göttin
stilles Heiligtum", V. 2), was dem klassischen Menschenbild entspricht.
Die Beschreibung der
Umgebung ist sachlich und rational ("rege", "alt",
"dicht belaubt", "still", V. 1ff.). Dies lässt sich als
Kennzeichen der Unterdrückung von Neigungen bzw. Affekten verstehen, wie sie
ebenfalls typisch für das Idealbild des klassischen Menschen ist. Diese sind
jedoch trotzdem vorhanden, werden aber distanziert als mit
"schaudernd" attribuiertes Gefühl benannt und dem Leser durch die
Beschreibung im Ansatz nachvollziehbar gemacht, dem ein düsteres
("Schatten", V. 1), herbstliches ("dicht belaubt", V. 2)
Bild vermittelt wird.
Das ungute Gefühl beim
Betreten der Schatten bzw. des Haines empfindet sie jedes Mal, wie schon beim
ersten Mal. Sieht man die Schatten als Metapher, so lassen sie sich auch als
priesterliche Praktiken - in den Diensten der Göttin - verstehen, die sie
regelmäßig, aber eben "mit schauderndem Gefühl" (V. 4) ausführt.
Iphigenie meint jedoch,
dass sich ihr "Geist" (V. 6), ergo ihr Verstand, nicht an den Prozess
oder Zustand "gewöhnt" (V. 6). Die Wortwahl betont die Ratio
Iphigenies, die hier ihre ihre Emotionen zügelt.
In den Versen 7 bis 9
konkretisiert Iphigenie die angedeuteten Aussagen des Vorsatzes: Sie ist
wirklich bereits seit einigen Jahren ("so manches Jahr", V. 7) auf der
Insel und es ist eine höhere Macht ("Ein hoher Wille", V. 8), ergo
die Göttin, die sie dort hält. Auch die Schutzfunktion wird hier durch die
Partizipien "bewahrt" und "verborgen" ausgedrückt: Die
Göttin bewahrt sie im Verborgenen (nämlich ohne Kenntnis ihrer
Angehörigen und bis dato ohne Offenlegung der Identität vor dem König) vor dem
Tod, nachdem sie sie vor diesem geborgen
d.h. gerettet hat. Iphigenie ergibt
sich dieser höheren Macht, unterwirft sich ihr also als Priesterin.
Auch der Grund dafür, weshalb
sie sich verstandesmäßig nicht in die Situation eingliedern kann, wird hier
konkretisiert: Sie fühlt sich seit Anfang an "fremd" (V. 9) im Exil.
Im Folgenden (V. 10-14)
erklärt sie, weshalb sie sich so fremd fühlt. Sie empfindet Heimweh und vermisst
ihre Freunde und Verwandten (die "Geliebten", V. 10). Die
Interjektion "ach!" (ebd.) und ihre "Seufzer" (V. 13)
drücken ihre Beklemmung aus. Doch sie vermag sie noch nicht zu verbalisieren.
Auch hier deutet sie
wieder ihre Abhängigkeit von höheren Mächten an. Indem sie sagt: "Mich
trennt das Meer" (V. 10) wird klar, dass es nicht ihr eigener Wille ist.
Die aktivische Formulierung (denkbar wäre ja auch die passivische Formulierung
"ich werde getrennt") unterstreicht die aktive Fremdeinwirkung in
diese Situation. Diese Fremdeinwirkung durch das Meer, symbolisch für die
höhere Macht, wird auch durch die "Welle" (V. 13) verdeutlicht, die
regelrecht agonal "gegen" (ebd.) ihre stillen Klagen (in Form der
Seufzer) nur Unverständnis erwidert. Dafür stehen die "dumpfe[n]
Töne" (V. 14), die "brausend" (ebd.) zu ihr gebracht werden; mit
dieser Metapher verbindet man ein unverständliches Rauschen, in dem die stillen Klagen untergehen.
Dabei ist es hier die
"Seele" (V. 12), die sich hier nach Griechenland ("dem Land der
Griechen", ebd.) sehnt. Diese steht sinnbildlich für ihre Emotionen und
steht dem Geist kontrastiv
gegenüber. Während ihre Vernunft ergo im Exil verweilt, sich dort der höheren
Macht unterordnet, aber fremd fühlt, sehnt sie sich emotional ("mit der
Seele suchend", V. 12) nach ihrer Heimat zurück, von der sie durch das
Meer und das "Ufer" (V. 11), das hier wie eine Grenze wirkt, getrennt
wird.
Tatsächlich zeigt König
Thoas im 3. Auftritt des 1. Aktes auch kein Verständnis für die Heimweh der
Iphigenie und droht ihr sogar mit der Wiedereinführung der Menschenopfer.
Iphigenies Metapher entpuppt sich damit als eine vorausdeutende, sich
bestätigende Angst vor der Unmenschlichkeit des Thoas. Dabei hat sie ihn, den
Barbaren, zuvor zivilisiert, wie auch die ganze Insel. Es zeigt sich, dass auch
ihre rationale Beschreibung des Ortes, als Rationalisieren und damit
Humanisieren zu verstehen ist, was aber eben nur von ihr ausgeht.
Es folgt von Vers 15
bis 22 eine Klage darüber, dass Iphigenie sich, getrennt von der Familie,
einsam und bekümmert fühlt, und dass ihre Gedanken stets abschweifen hin zu dem
Haus ihres Vaters.
Sie verbindet damit
Erinnerungen ihrer Kindheit, denn sie denkt an Freundschaften ("Mitgeborne
spielend [...]/ Mit sanften Banden", V. 21f.). Sie verbindet damit
ausschließlich positive Gefühle, was u.a. an der Verwendung der Worte
"Glück" (V. 17), "Sonne" (V. 19) und "Himmel" (V.
20) in diesem Zusammenhang ersichtlich wird, auch in Gegenüberstellung zu den
Schatten und dem Schauder auf Tauris..
Doch diese Erinnerungen
formuliert sie in der dritten Person und zudem unter Verwendung maskuliner
Personalpronomen ("dem", "der", "Ihm",
"seines", V. 15ff.), wodurch erneut Distanz aufgebaut wird zwischen
sich selbst und der Heimat. Iphigenie scheint sich kaum noch zu erhoffen,
wirklich je wieder nach Griechenland zu gelangen.
Nun klagt Iphigenie
über das klassische Geschlechterverhältnis (V. 24-34). Denn im Gegensatz zum
Mann, der sowohl im Zivilleben als auch im Krieg herrscht, im Ausland autonom
ist und der Besitztümer, Anerkennung und Erfolg bis hin zu einem ehrenvollen
Tod hat, sieht sie die Lage der Frau weitaus unvorteilhafter. Ihre
Handlungsmöglichkeiten seien eingeschränkt und abhängig von den Männern. Sie
müssen ihrem Gatten gehorchen, selbst wenn er rau
(vgl. V. 30). ist. Sie klagt über dieses Geschlechterverhältnis, kritisiert es
aber nicht direkt. So sieht sie es als "Pflicht" an, dem Mann zu
gehorchen, jedoch auch als "Trost". Diese scheinbare
Widersprüchlichkeit spiegelt Iphigenies Charakter wieder: Einerseits ist sie
unzufrieden mit der Lage, andererseits hat sie sich mit dieser abgefunden und
gewinnt ihrer Pflichterfüllung etwas positives ab. Diese nimmt sie als gegeben
hin durch ein "feindlich Schicksal" - wieder also bestimmt durch eine
höhere Macht, die gegen sie
wirkt, sprich, durch die Götter. Widersprüchlich ist auch dieser Ausspruch,
denn Diana ist sie ja zutiefst dankbar. Und diese möchte sie nicht anzweifeln
("Ich rechte mit den Göttern nicht", V. 23). Dass sie jedoch
überhaupt einen aus ihrer Sicht göttergegebenen Zustand als
"beklagenswert" (V. 24) benennt, zeigt, dass sie über die Welt
reflektiert und somit trotz des Bewusstseins, von der göttlichen Übermacht
abhängig zu sein, ihren Verstand gebraucht. Kritische Ehrfurcht vor den Göttern
spiegelt sich im Verlauf des Dramas häufiger wieder, so besonders im Parzenlied
des 4. Aktes. Somit entspricht sie auch in diesem Punkt dem klassischem
Idealbild. Deutlicher wird
Iphigenie bezieht die
unterschiedlichen Geschlechterrollen der Frau im allgemeinen auf sich selbst.
Ihr Schicksal sieht sie als eine Frau "in der Ferne" (V. 32) als ganz
besonders schlimm an. Sie benennt in diesem Zusammenhang Thoas, den König von
Tauris, der um ihre Hand buhlt. In Analogie zum angesprochenen Zusammenhang zwischen
Pflicht und Trost in der Rolle der Untergeordneten beschreibt sie Thoas als
"ein edler Mann" (V. 33), nachdem sie zuvor wohl eben diesen als
"rauen Gatten" (V. 30) meint. Dieser, so Iphigenie, hält sie in
"ernsten, heil'gen Sklavenbanden fest" (V. 34). Der Widerspruch
zwischen Heiligkeit und Sklaventum erklärt sich daraus, dass Iphigenie sich
zwar als Gefangene fühlt, sie aber zum Zwecke der Priesterinnenschaft in dieser
steht. In "Sklavenbanden" zu stehen macht dennoch deutlich, dass Iphigenie
die Unfreiheit als eine aufgezwungene empfindet. Die "ernsten" (V.
34) Sklavenbanden, in denen sie
sich gerade gefangen sieht, stehen auch im unmittelbaren Kontrast zu den
"spielend[en]" (V. 21), sanften
Banden in Griechenland, an die sie sich erinnert. Obwohl Iphigenie
die soziale Stellung der Frau im allgemeinen beklagt, also auch in
Griechenland, empfindet sie diese also nur auf Tauris in Bezug auf ihre eigene
gegenwärtige Situation als so negativ.
Es lässt sich die Frage
stellen, ob nicht diese Neigung nach Freiheit der Grund dafür ist, weshalb
Iphigenie den den Heiratsantrag des Thoas ablehnt. Hier wird sie ja zwischen
der Neigung, nach hause zu kommen und frei zu sein sowie der Pflicht, die sie
Diana als Priesterin schuldet und der Moral, verhindern zu müssen, dass Thoas
die Menschenopfer wiedereinführt, hin und her gerissen.
Endlich, nachdem
Iphigenie über ihre Lage im Exil klagt, spricht sie Diana direkt an (V. 35-53).
Sie gesteht ihr, dass sie ihr nur mit "stillem Widerwillen" (V. 36)
dient. Dieser äußert sich in ihren negativen Gefühlen, die sie auf Tauris
empfindet und die sie nur in Ansätzen und aus distanzierter Sicht zu
artikulieren in der Lage ist. Sie "gesteht" (vgl. V. 35) der Göttin
ihr Befinden, so als habe sie sich dadurch schuldig gemacht, und ist
"beschämt", was ihre Angst zum Ausdruck bringt, dadurch die Achtung
oder Liebe ihrer Göttin zu verlieren. Denn diese sieht sie schließlich als ihre
"Retterin" (V. 37), da sie ihr Leben bei der Opferung durch ihren
Vater verschont hat. In tiefer Dankbarkeit sieht sie es daher als ihre Pflicht an, ihr zu "freiem
Dienste" (V. 38) zu stehen, ja gar, ihr ganzes Leben diesem zu widmen.
Daraus ergibt sich die Begründung für die empfundene Scham bei diesem Geständnis. Ein freier, d.h. autonomer
Dienst steht aber ihrem Sklavenbande
entgegen, denn dieser ist stets unfrei.
Daher bereitet sie
Diana auf eine Bitte vor, indem sie ihr schmeichelt. In ihre "heil'gen
Arme" (V. 42) habe diese jene aufgenommen. Dabei handelt es sich um eine
Metapher, die Schutz ausdrücken soll, ähnlich wie die Bäume zu Beginn des
Monologs. Man nimmt in den Arm, was man schützen möchte. Das Attribut
"heil'gen" verbindet Diana mit ihrem heiligen
Hain (vgl. V. 2) und dem heiligen
Sklavenband (vgl. V. 34). Iphigenie deutet also einen Zusammenhang an zwischen
der Göttin, dem Ort, an dem sie ihr dient, und der Unterdrückung durch den
König. Dies mag als diskreter Hinweis auf die negativen Konsequenzen des
göttlichen Schutzes für die Geschützte zu verstehen sein. Zudem argumentiert
Iphigenie, Diana habe sie aufgenommen, nachdem sie als "Tochter" (V.
41) Agamemnons ("des großen Königs", ebd.) verstoßen worden war, und
spricht Diana nun auch als "Tochter Zeus'" (V. 43) an. Auf dieser
Ebene zählt sie auf, dass sie Agamemnon nach hause zurück geführt habe, zu
seiner Familie. Nun bittet sie Diana - nicht nur als Göttin, sondern eben auch
als Tochter -, es ihr gleichzutun und auch sie, noch einmal vor dem Tod zu
retten, als welchen sie ihr Leben auf Tauris bezeichnet. Hier gipfelt der
Ausdruck ihres Heimwehs mit einer direkten Bitte, die Leben und Tod (vgl. V.
53) direkt gegenüberstellt. In dem Monolog, der das Parzenlied einleitet,
wiederholt sich diese Formulierung: "Rettet mich/ Und rettet euer Bild in
meiner Seele" (V. 1716f.). Hier will sie ihren Zweifel an den Göttern
ausdrücken und fragt sich, ob sie nicht doch selbst (autonom) handeln soll.
Diese Aussage lässt sich als Steigerung der Bitte des ersten Monologs deuten,
welche dadurch als erster Ansatz dieses Zweifels zu verstehen ist.