Interpretation
„Die getreue Antigone“von
Elisabeth Langgässer
Viele Menschen wagen es nicht sich die bedeutsamsten Fragen
zu stellen. Wieso bin ich hier? Was wird aus mir? Wo komme ich her? All diese
Fragen haben keine Antwort, doch anhand dieser Frage kann man die Menschheit in
zwei verschiedene Klassen einteilen; die, die Angst vor der Wahrheit haben und
ihr Leben leben ohne jeglichen Grund und Anlass zu hinterfragen und jene, die
das Leben nicht nur leben wollen, sondern auch verstehen. Diese hinterfragenden
Menschen handeln oftmals weniger egoistisch und sind humaner. Ein Beispiel für
einen solchen Menschen ist Carola aus der Kurzgeschichte „Die getreue Antigone“
von Elisabeth Langgässer.
Carola, deren Bruder im KZ von Mauthausen umgekommen ist,
pflegt das Grab eines unbekannten Soldaten zusammen mit ihrem Freund, der sie
davon abbringen will.
Im ersten Abschnitt werden die Lage und das Aussehen des
Grabes geschildert. Es liegt inmitten von Schrebergärten. Dies ist ein
symbolischer Gegensatz von Tod, gezeichnet durch das Grab und Leben,
symbolisiert durch die Schrebergärten. Um diesen Ort bildlicher zu gestalten
nutzt Langgässer einen Vergleich (Z.1f) indem sie es mit einer Insel, umgeben
von Wasser vergleicht. Das Grab befindet sich in einem heruntergekommenen
Zustand, was daraus schließen lässt, dass man den verstorbenen Mensch nicht
besucht. An der Haltung des Begleiters von Carola wird deutlich, dass er gerne
an einem anderen Ort wäre. Dieser schaut ihr gelangweilt zu. Beide Figuren
vertreten gegensätzliche Positionen: Carola will den Frieden der Toten
bewahren, doch für den jungen Mann ist der Tod der Endpunkt allen Seins und
nicht wert, über ihn hinaus zu schaffen: Die Gegenwart allein zählt.
Im zweiten Absatz erfahren wir, dass sich die Kurzgeschichte
gegen Anfang Sommer bzw. Ende Frühling abspielt. Es weht kein frischer Wind und
die Sommerhitze fängt an sich breit zu machen. Auch nach den charakteristischen
Pflanzen, wie die Maiglöckchen oder den Narzissen entspringen erstmal keine
neuen Pflanzen. Die meisten Menschen assoziieren Sommer mit Freiheit und Lust
am Leben, Sonne und Wärme, doch diese Beschreibung eines Sommeranfangs wirkt
trist und farblos, was das Empfinden der beiden ausdrücken soll. „Wenn der Rot-
und Weißdorn vorüber ist, kommt eine zeitlang gar nichts“. Das verdeutlicht das
Ende eines Lebensabschnitts. Es wird deutlich, dass der vergangene
Lebensabschnitt kein schöner bzw. leichter war, doch noch erfährt der Leser
nicht den Grund dafür. Langgässer baut somit Spannung auf indem sich der Leser
fragt was geschehen sein könnte.
Die Überleitung zum dritten Absatz bildet ein Gespräch.
Carola und ihr Begleiter unterhalten sich über das Fehlen der Blumen, wenn der
Rot- und Weißdorn vorüber ist. Anhand der Ironie, die der junge Mann nutzt (Z.
21) wird nochmals deutlich, dass er sich an diesem Ort nicht wohl fühlt. Er
verspottet Carola, die sich weigert für das Grab Zweige abzureißen, verliert
sich in Gedanken und lässt das Geschehen bizarr erscheinen, während Carola das
Gegenteil bewirkt, indem sie liebevoll das Grab säubert. Carola scheint sich
nicht unwohl zu fühlen. Sie verbindet diesen Ort nicht mit dem Ende des Lebens,
sondern sie hat den Tod als Teil des Lebens akzeptiert. An diesem Ort fühlt sie
sich geborgen und beruhigt.
Um zu zeigen, dass Carola das Grab immer wieder pflegen geht
bedient sich Langgässer einer Aufzählung („September, Oktober […] November,
Dezember“ Z. 32f). Der Begleiter Carolas versteht ihre Geste nicht. Er ist der
Meinung, dass sie ein Blödsinn treibt. Im vierten und fünften Absatz erfährt
man den Grund für das fehlende Vertrauen des Begleiters gegenüber Carola. Der
verstorbene Soldat könnte ein SS Offizier gewesen sein. Dem jungen Mann fällt
es schwer zu akzeptieren, dass Carola dem NS- Soldaten verziehen hat. Sie
erweist die Grabesehren, die sie für ihren Bruder nicht leisten kann, als
Zeichen der Versöhnung, weil sie nicht weiß, wer in dem Grab bestattet ist. Ihr
Verhalten ist ganz auf den Frieden der Toten gerichtet, egal ob es ein Freund
oder Feind sein sollte. Es geht ihr dabei vielmehr um die Überlebenden, die dem
Tod der Opfer einen Sinn geben und den Hass unter den Menschen überwinden
sollen. Carola strebt nach dieser Ruhe und erhofft sich diese mithilfe des
Gebots der Nächstenliebe zu erlangen.
Gegen ende des fünften Abschnitts bis in das sechste hinein
wandelt sich das Gespräch zwischen den beiden in eine Diskussion, bei der
deutlich wird, dass Carola den Tod ihres Bruders noch nicht verkraftet hat,
denn als der junge Mann erzählen will, was die SS Männer mit ihrem Bruder gemacht
hätten können, hält sie sich ihre Ohren zu. Aus Angst und Schmerz fällt ihr das
Atmen schwer und sie beginnt zu keuchen. Bei dem Begleiter entwickeln sich Wut
und Eifersucht, denn er kann sie nicht verstehen und weiß nicht wieso sie dem
Mann so viel Zeit und Mühe opfert. Er droht ihr sich von ihr abzuwenden, indem
er illegalen Geschäften nachgeht, doch Carola bleibt am Grab und zeigt ihm,
dass sie nicht gehen wird ehe sie fertig ist. Der Begleiter sieht die Sturheit
Carolas und greift in seiner Verzweiflung auf Lügen zurück. Er bietet ihr
Schokolade, Strümpfe und Likör an. Diese drei Sachen verbindet er mit Wärme und
Freude, doch Carola verzichtet darauf und fragt ihn ganz direkt wieso er sie
anlügt. Die Antwort findet sie selbst heraus und meint der junge Mann hätte sie
aus Traurigkeit angelogen. Sie versteht, dass er sich unwohl fühlt und der Tod
für ihn ein trostloses Geschehen ist.
Im siebten Abschnitt versöhnen sich die beiden wieder. Das
wird daran deutlich, dass der junge Mann sich wie ein verlaufener Hund den Kopf
auf Carolas Schoß legt. Langgässer nutzt einen Vergleich um auch dieses Bild
deutlicher zu machen. Durch diese Gestik entwickelt sich beim Leser ein
vertrautes Gefühlt des Trostes. Carola hat sich von dem Streit noch nicht erholt
und denkt an ihren Bruder. Im nächsten Abschnitt versucht Carola immer wieder
ein Gespräch mit dem jungen Mann anzufangen. Sie will sich mit dem Tod ihres
Bruders und mit dem Sterben auseinandersetzen und fragt sich ob er qualvoll
gestorben sei. Der Begleiter geht nicht tiefer auf ihre Frage ein. Für ihn
macht es keinen Sinn über vergangenes zu reden und findet es sei zu spät über
so etwas zu reden, da ihr Bruder schon Tod ist und sich nichts daran ändern
würde, doch Carola beharrt darauf, denn sie kann den Tod nur verdauen, indem
sie darüber spricht. Carola, die nicht offen mit ihm darüber reden kann, nickt
und stimmt ihm mechanisch zu. Daran wird deutlich, dass sie sich trotzdem
Gedanken darüber macht und versucht nochmals den Begleiter zu einem Gespräch zu
bringen. Sie beschäftigt sich mit der Frage ob ihr Bruder in Frieden ruhen
würde. Der junge Begleiter beruhigt sie. Im neunten Abschnitt charakterisiert
Elisabeth Langgässer Carola als eine mitfühlende, liebende Person, was sich
anhand ihrer Kindheitserinnerungen zeigt. Carola hatte immer Angst um ihre
Spielsachen, wenn sie sie draußen vergessen hatte und sorgte sich um sie. Das
Gespräch wird von Carola getragen, die redet ohne dass der junge Begleiter
etwas sagt. Er scheint sie nicht zu verstehen und liegt auf ihrem Schoß ohne
auf etwas einzugehen. Carola wendet sich daher an den Soldaten und fragt ihn ob
das Sterben schwer sei. Als Antwort darauf bewegt sich der Wind und lässt durch
die Sonnenstrahlen ein kleines Licht funkeln. Langgässer verwendet hier eine
Personifikation (Z. 77f) um zu verdeutlichen, dass es kein Zufall war das
gerade in dem Moment der Wind weht, sondern dass es als Antwort an Carola
verstanden werden kann. Das Licht ist dabei ein Symbol von Leben und Stärke. Im
Dunkeln fühlt man sich einsam und schwach, doch wenn man etwas sehen kann steht
man mit beiden Füßen fest auf dem Boden und man hat keine Angst zu fallen.
Dieses Licht ist die Antwort auf ihre Frage.
Im vorletzten Abschnitt stellt Carola nochmals eine Frage,
jedoch ist diese doppeldeutig, denn man weiß nicht ob sie sie dem Verstorbenen
oder dem Begleiter stellt, doch der Begleiter beantwortet die Frage. Sie fragt
ob er gut liegen würde, was der Mann bejaht. Er, der ebenfalls Soldat war
entspannt sich und sein finsterer Gesichtsausdruck schwindet. Man erkennt, dass
er Soldat war an dem finsteren Gesichtsausdruck wegen der unbarmherzigen Jahre,
die er hinter sich hat. Die umbarmherzigen Jahre sind die Jahre, in denen er
als Soldat tätig war. Der Begleiter versteht Carolas offenen und liebenden
Charakter daher nicht, da er erzogen wurde gegen das Böse zu kämpfen und nie
etwas demütigendes öder liebenswürdiges ihm gegenüber zu tun. Genau das macht
Carola. Sie demütigt sich indem sie das Grab eines möglichen Feindes aus liebe
zu ihrem Bruder pflegt.
Im letzen Abschnitt sprechen die beiden über die Totenmesse.
Es fehlen noch Ministranten und Carola überredet ihren Begleiter bei der
Totenmesse mitzusingen. Sie schafft es den Nihilismus des jungen Mannes zu
überwinden, sodass er sich bereit erklärt als Ministrant bei der Totenmesse
anwesend zu sein.
Carola verkörpert in dieser Kurzgeschichte das Motiv der
humanen Antigone. Die Frau, die nicht zu hassen sondern zu lieben da ist, indem
sie anderen hilft uns sich um sie sorgt. Sie möchte im reinen mit ihrem
Gewissen sein.
Die Kurzgeschichte ist in hypotaktischen Sätzen aufgebaut,
doch während der Dialoge ändert sich der Sprachstil und Elisabeth Langgässer
verwendet parataktische Sätze. Das verdeutlicht das fehlende Verständnis und
den Streit zwischen den Gesprächspartnern während der Geschichte.
Um über das Geschehen einen Überblick zu haben und alles
gleich werten zu können, verwendet Elisabeth Langgässer den auktorialen, also
den allwissenden Erzähler.
Über die Kurzgeschichte verteilt gibt es jeweils
Zeitdehnung, Zeitraffung und Zeitdeckung. Zeitdeckung ist immer während der
Gespräche, Zeitraffung ist im allgemeinen die ganze Geschichte, da man in
Wahrheit mehr Zeit braucht, ein Grab zu pflegen und alles zu säubern und die
Zeitdehnung findet man, im zweiten Abschnitt bei der Beschreibung aller
Wandlungen in der Natur.
Schlussendlich wird deutlich, dass Elisabeth Langgässer
möchte, dass die Menschen sich mehr mit der Frage des Todes zur Zeit des
Nationalsozialismus beschäftigen. Wenn es möglich ist, soll man den Mördern
vergeben, denn das führt dazu, dass man selbst die Ruhe und den Frieden findet.
Es ist also von fundamentaler Bedeutung uns diese Fragen zu stellen, damit wir
nicht ein oberflächiges und egoistisches Leben führen, sondern lernen, zu
vergeben und zu leben.