Ingeborg Bachmann –
Hermetische Lyrik
Interpretation von „Früher Mittag“ und „Anrufung des Großen
Bären“
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. - 1 -
2. Programmatik der
hermetischen Lyrik. - 2 -
3. Hermetische Lyrik am
Beispiel Ingeborg Bachmanns. - 4 -
3.1. Gedichtinterpretation:
„Früher Mittag“. - 6 -
3.2. Gedichtinterpretation:
„Anrufung des Großen Bären“. - 11 -
4. Schlusswort - 14 -
5. Literatur - 15 -
6. Anhang (2 Gedichte) - 16 -
1.
Einleitung
Theodor
Wiesengrund Adorno (1903 – 1969) schrieb in seinem Essay „Kulturkritik und
Gesellschaft“ (1951):
„Nach Auschwitz ein Gedicht
zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die
ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“
Diese
zentrale These des deutschen Philosophen und Soziologen weist daraufhin, dass
nicht nur das Reine und Schöne, sondern auch Auschwitz Teil der deutschen
Kultur ist. Demnach ist Kultur, die auch für die Situation in der Gesellschaft
verantwortlich ist, als vielseitiger Begriff zu verstehen. Die oben angeführte
meistzitierte These Adornos fechtet demzufolge nicht nur die Dichtung, sondern
die gesamte Kultur in der deutschen Gesellschaft an und zeigt auf, in welch
schwieriger Situation sich insbesondere die deutsche Lyrik nach der „Stunde
Null“, nach dem Jahr des Zusammenbruchs des faschistischen deutschen Reichs und
der zuvor mit sich getragenen Geschehnisse, befand. Es eröffnete sich daraus die
Frage, wie Lyrik nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges mit den damit
verbundenen Massenmorden der Nationalsozialisten noch möglich und in der Lage war,
das Geschehene verarbeiten und möglicherweise darstellen zu können.
In
der vorliegenden Hausarbeit möchte ich mich mit der „hermetischen Lyrik“, die
sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus den geschilderten Bedenken entwickelte,
beschäftigen. Mit der Österreicherin Ingeborg Bachmann als eine der
bedeutendsten Vertreterinnen der modernen hermetischen Lyrik werde ich auf eine
Schriftstellerin eingehen, die die hermetische Lyrik stark beeinflusst und
gelenkt hat. Vor dem Hintergrund der schwierigen Lage der Nachkriegslyrik werde
ich versuchen, die Programmatik der hermetischen Lyrik, speziell die Lyrik
Ingeborg Bachmanns, herauszuarbeiten und anhand von zwei Gedichtbeispielen
erläutern. Es folgt ein abschließendes Fazit der Hausarbeit, in der die
wichtigsten Erkenntnisse zur Thematik der hermetischen Lyrik dargelegt werden.
2.
Programmatik
der hermetischen Lyrik
Der
Begriff „Hermetik“ leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet ins
Deutsche übersetzt „fest verschlossen“. Dieser Begriff beschreibt somit die bezeichnende
Charaktereigenschaft der so genannten „hermetischen Lyrik“, einer Sonderform
poetischen Sprechens, die ihren stilistischen Ursprung in Italien hatte.
Bereits
seit der Jahrhundertwende gab es hermetische Tendenzen zu immer komplexeren
Ausdrucksformen und zu immer verschlüsselteren Bildern. Dichter wie Rainer
Maria Rilke und Stefan George schufen als Antwort auf die geistesgeschichtliche
und naturwissenschaftliche Entwicklung eine dichterische Gegenwelt und
koppelten sich somit von der gesellschaftlichen Realität, die in den Augen
vieler Schriftsteller und Lyriker unüberbrückbar war, ab. Dieses Verhalten der
Autoren wird auch als „Sprachskepsis“ bezeichnet. Man stellte sich der Reflexion
über die Sinnstrukturen des menschlichen Daseins und man beabsichtigte sich dem
„Augenblickscharakter des Daseins“ (Hoffmann
1998, S. 46) zu entziehen. Indem man immer kompliziertere sprachliche
Formen und Bilder in die Dichtung einführte, versuchte man, die komplexe
Wirklichkeit besser verarbeiten zu können. Es kamen aber im Rahmen dieser
Wirklichkeitsverarbeitung auch Zweifel auf, ob die Übertragbarkeit der außersprachlichen
Realität in Sprache überhaupt möglich sei. Hugo von Hofmannsthal thematisierte diesen
Zweifel beispielsweise in seinem „Brief des Lord Chandos“, den er in den Jahren
1901/1902 verfasste. In diesem Brief legte er dar, wie ihm das zuvor Selbstverständliche
plötzlich fragwürdig erschien (vgl. Hoffmann
1998, S. 14 ff).
Der
Zweite Weltkrieg führte noch einmal das Zerstörungspotential des Menschen und
seine mangelnde Lernfähigkeit vor Augen und machte es den Menschen noch
schwieriger, an einen Sinn des menschlichen Daseins zu glauben (vgl. Hoffmann 1998, S. 65). Nachdem auch die
Sprachskepsis durch den nationalsozialistischen Sprachmissbrauch eine
Radikalisierung erfahren hatte, ließen sich in der Lyrik der Nachkriegszeit
zwischen 1945 und 1960 verschiedene Tendenzen feststellen. Die Dichter
versuchten, eine eigene dichtungssprachliche Realität zu schaffen. Die
lyrischen Formen wie zum Beispiel die „naturmagische Schule“ (Bsp. Elisabeth
Langgässer: „Frühling 1946“, s. Hoffmann
1998, S. 37) und die Trümmerlyrik (Bsp. Günter Eich: „Inventur“, s. Hoffmann 1998, S. 14 f.) entwickelten
sich parallel, bedingten sich teilweise aber auch gegenseitig. Die hermetische
Lyrik, die dem französischen Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts sehr
ähnelte, entwickelte sich ebenso in dieser Zeit, nach dem Trauma von Auschwitz.
Die hermetischen Tendenzen des Sprachgebrauchs der Jahrhundertwende wurden in
dieser Phase intensiviert. Die hermetische Lyrik war durch eine verschlüsselte,
chiffrierte
Sprache gekennzeichnet und war durch eine undurchdringliche und rätselhaft
wirkende Semantik charakterisiert. Man kann daher auch von einer Dissonanz
zwischen dem Bezeichnenden und Bezeichnetem sprechen. Durch die Verwendung von
Chiffren, eine Verringerung der Wörter und Wortwiederholungen entstand eine komplett
neue Syntax der hermetischen Lyrik. Diese Form von Lyrik wird daher auch als
„Dichtung an der Grenze des Sagbaren“ (Hoffmann
1998, S. 46) bezeichnet. Hermetische Lyrik war gekennzeichnet durch
ihren sozialkritischen Charakter, und zwar im Hinblick auf die
gesellschaftliche Entwicklung während der Nachkriegszeit. Der Gebrauch der
Sprache, der aus dem Misstrauen gegenüber dem alltäglichen Ausdruckswert
hervorging und eine Reaktion auf den Sprachmissbrauch des Faschismus darstellte,
war bewusst distanziert. Der lyrische Sprachgebrauch, der von Ausdrucksnot,
aber auch von Ausdruckszwang gekennzeichnet war, schlug somit einen neuen Weg
ein, der einen Bruch mit den Konventionen der Sprache bedeutete. Die Hermetik
als eine experimentelle Form von Lyrik war eine Loslösung von herkömmlichen
Gedicht- und Sprachstrukturen, die nach den traumatischen Erlebnissen zu
Kriegszeiten keine Anwendung mehr finden konnten.
Da
beim erstmaligen Lesen hermetischer Gedichte aufgrund der verdichteten und
schwierigen Sprache zunächst eine völlige Unverständlichkeit hervorgerufen wird,
wird der Leser dazu aufgefordert, sich mit einer guten Beobachtungsgabe und
einer hohen Aufmerksamkeit mit dem hermetischen Gedicht auseinanderzusetzen. Hinsichtlich
dieser Anforderung, die auch als Herausforderung an den Leser ausgelegt werden
kann, spricht Paul Celan (1920 – 1970) von einer „besonderen Form von Konzentration,
des Sich-Einlassens auf die Welt“ (s. Hoffmann
1998, S. 65) und zitiert den französischen Philosophen Nicole Malebranche
(1638 – 1715): „Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.“ (s. Hoffmann 1998, S. 65). Um hermetische
Lyrik begreiflich zu machen, muss ihre sprachliche Struktur genau dechiffriert
werden. Die Dechiffrierungsleistung der Leserschaft steht somit vor dem
Verstehen eines Gedichts. Nach der Entschlüsselung der hermetischen Lyrik, wird
oft versucht, eine eindeutige Interpretation zu entwickeln. Eine „richtige“
Interpretation der hermetischen Texte im engeren Sinne gibt es allerdings nicht,
da bei den meisten hermetischen Gedichten mehrere Interpretationsansätze zulässig
sind. Die Analyse hermetischer Gedichte darf daher nicht auf eine
Deutungshypothese eingeschränkt werden. Dieses beruht darauf, dass der lyrische
Text der Hermetik allein auf einen Zusammenhang im Bewusstsein des Autors verweist.
Je chiffrierter die Texte und je undurchschaubarer die Inhaltswelt des
Gedichtes ist, desto höher ist die Qualität des hermetischen Textes einzuordnen.
3. Hermetische
Lyrik am Beispiel Ingeborg Bachmanns
Ingeborg
Bachmann (1926 – 1973) war eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen und Lyrikerinnen
der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die sich mit der hermetischen Lyrik
befasste. Die Lyrik Bachmanns ist sehr vielschichtig. Sie thematisiert vorwiegend
die gesellschaftliche Wirklichkeit, die in der modernen Lyrik nach 1945 immer
wieder eine bedeutende Rolle spielte. Vor allem ihre beiden veröffentlichten
Gedichtbände „Die gestundete Zeit“ (1953) sowie „Anrufung des Großen Bären“
(1956), die den Kern ihrer Lyrik bilden, finden in Diskussionen über die
wichtigsten Werke der modernen hermetischen Lyrik immer wieder Erwähnung. Im
Folgenden werde ich mich zunächst einmal mit diesen beiden wichtigen
Gedichtbänden Bachmanns befassen und anschließend zu Interpretationen zweier
Gedichte der Lyrikerin, überleiten.
Der
Gedichtband „Die gestundete Zeit“ wurde im Herbst 1953 in der von Alfred
Andersch (1914 – 1980) herausgegebenen Buchreihe „Studio Frankfurt“
veröffentlicht (s. Albrecht/ Göttsche
2002, S. 57). Bereits der Titel des Gedichtbands, der auch Titel eines der
Gedichte des Bandes ist, wirkt provokativ und ironisch. Die Stundung von Zeit,
deren Fortschreiten man normalerweise unterlegen ist, könnte hier als
Machtmotiv verstanden werden. Es stellt sich die Frage, wer dazu in der Lage
ist, Zeit stunden zu lassen. Der Gedanke an eine „Übermacht“ entgegen der
natürlich gegebenen Verhältnisse wird hinsichtlich dieser Überlegung erzeugt
und erinnert an die Politik und Ideologie des NS-Regimes (Stichwort: „Machtergreifung“).
Die Stundung von Zeit könnte allerdings auch dafür stehen, die Zeit nicht
genutzt zu haben. So wäre daraus abzuleiten, dass sowohl ein politischer, als
auch ein gesellschaftlicher und individueller Neuanfang zu einem bestimmten Zeitpunkt
möglich gewesen wäre, die Chance aber zu diesem Augenblick vertan worden ist. Stundung
von Zeit könnte aber auch für eine Schonfrist für die Menschen stehen, die
ihnen gewährleistet wird, um sich auf einen Neubeginn vorbereiten zu können. Es
zeigt sich, dass der Umgang mit dem Zeitbegriff sehr wandelbar ist. Die
Erkenntnis bleibt, dass schon der Titel des Gedichtbands den Leser zum
Nachdenken anregt und bereits Spekulationen über eine Auslegung zulässig sind.
Der
Gedichtband „Die gestundete Zeit“ enthält 24 Gedichte und gliedert sich
kompositorisch. Die Gedichte umfassen erzählerische Elemente und sind metaphern-
und klangreich. Lediglich zwei der 24 Gedichte aus „Die gestundete Zeit“ sind
im Reimschema aufgebaut. „Die gestundete Zeit“ thematisiert in erster Linie die
politisch-sozialen Zeiterscheinungen mitsamt ihren einschneidenden Folgen. Wichtige
inhaltliche Komponenten sind dabei „Erinnerung“ und „Gedächtnis“, „Tod“ sowie „Verlassenheit“.
Die Natur besitzt in den Gedichten Ingeborg Bachmanns ebenfalls eine tragende Rolle.
Aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Nachkriegswelt wird in
dem Gedichtband, der insgesamt appellativ wirkt und Aufmerksamkeit erregt, nicht
übersehen. Es wird von den Lesern neben einer stetigen Wachsamkeit auch ein
Aufbruch erfordert, was in einigen Gedichten unter anderem auch der
Adressatenbezug in Form des „du“ verdeutlicht wird.
Der
zweite Gedichtband Ingeborg Bachmanns, „Anrufung des Großen Bären“, wurde im
Herbst 1956 veröffentlicht, gliedert sich in vier Teile mit zyklischer Struktur
und beinhaltet insgesamt 31 lyrische Texte. Die Gedichte sind in den Jahren
1954 – 56 entstanden, zur Zeit des Italien-Aufenthalts Bachmanns (s. Albrecht/Göttsche 2002, S. 67).
In
„Anrufung des Großen Bären“ liegt gegenüber dem Gedichtband „Die gestundete
Zeit“ eine formale Veränderung vor. Die Gedichte sind in sich strenger
konzipiert und zeigen eine Rückkehr zum traditionellen Reim und zur Metrik auf.
Mehr als die Hälfte der Gedichte liegen in Reimform vor. Die zyklische Struktur
des Gedichtbandes bewirkt im Gegensatz zum ersten Gedichtband, in dem die
Gedichte als geschlossene Einzelwerke vorzufinden waren, eine übergreifende
Sprachbewegung, bei der auf das lyrische Ich ein höheres Augenmerk gelegt wird.
Für den zweiten Gedichtband ist ebenfalls charakteristisch, dass die Gedichte
einen Landschaftsbezug aufnehmen und es somit zu einer starken Bewegung und
Lebendigkeit innerhalb der lyrischen Texte und des gesamten Werkes kommt.
Der
zweite Gedichtband knüpft auf der inhaltlichen Ebene an die Gedichte ihres
vorhergehenden Bandes an, thematisiert aber insbesondere noch die Erfahrung des
Sprachverlustes. Die Sprachbetrachtung wird zwar auch in „Die gestundete Zeit“
behandelt, wird aber in diesem später veröffentlichten Band noch intensiver
betrachtet. Bachmann arbeitet metaphernreich und verwendet mystisch-märchenhafte
Bilder, die bedrohlich wirken. Ihre Lyrik enthält viele Bilder, die mit den
Leitmotiven „Dunkelheit“ und „Tod“ verbunden werden können und die in Verbindung
mit naturmagischen Elementen zum Ausdruck gebracht werden. Die Entfremdung des
Individuums mit einer damit verbundenen Bedrohung bzw. Verzweiflung an der
Existenz wird in dem zweiten Gedichtband sehr häufig behandelt. Bachmann kommt
dieser Entfremdung mit Bildern aus der Natur, Kunst, Religion, Märchen und
Liebe entgegen, die für eine Flucht in eine andere, fantasievollere Welt stehen
könnten und Hoffnung auf Besserung bewirken lassen. Somit fließen in die Lyrik
Bachmann sowohl negative als auch positive Aspekte ein, die sich auch in den
beiden folgenden Gedichtinterpretationen abzeichnen.
3.1.
Gedichtinterpretation:
„Früher Mittag“[3]
Das
Gedicht „Früher Mittag“ wurde im Jahr 1953 im Gedichtband „Die gestundete Zeit“
veröffentlicht. Die äußere Form des Gedichts, welches sich aus 37 unterschiedlich
langen Versen aufbaut, ist durch eine unregelmäßige Struktur und Enjambements gekennzeichnet
(= Hakenstil). Das Gedicht wird mit einer achtzeiligen Strophe eröffnet, geht
dann in einen kürzeren Abschnitt über und leitet zu einer Folge von drei fünfzeiligen
Strophen über, die von Einzeilern eingerahmt werden. Es folgen daraufhin wiederum
kürzere Versabschnitte, die das Gedicht abschließen.
Auffällig
sind die beiden Fünfzeiler, die aufgrund der parallelen semantischen Struktur ihres
Beginns (V.13, V. 18: „Sieben Jahre später“) hervorragen, über einen halben
Kreuzreim verfügen und durch diese Anordnung an ein Volkslied erinnern. Innerhalb
dieser beiden Strophen wird das Augenmotiv (V. 17 und V. 22)wiederholt, was
zusätzlich eine parallele Struktur erzeugt. Aber nicht nur hier sind
Parallelitäten zu finden, sondern auch in der Konstruktion der beiden
dreizeiligen Strophen (V. 9 – 11 und V. 33 – 35), deren Inhalt sich, betreffend
der jeweils ersten Verse dieser Strophen (V. 9 und V. 33), ähnelt. Daneben gibt
es auch in den beiden Einzelversen (V. 12 und V. 28) eine gleichlaufende
Struktur: Die Ausdrücke emotionaler Empfindungen in Form von „Schmerz“ (V. 12)
und „Hoffnung“ erfahren eine Personifizierung (= Allegorie) und werden auf
diese Weise zu einem greifbareren Teil der dargestellten Situation in diesem
Gedicht.
Die
Feststellung „schon ist Mittag“, die sich an verschiedenen Stellen innerhalb
des Gedichtes wiederholt (V. 3, 23, 37) und sich in ähnlicher Form im
Gedichttitel wiederfindet, wirkt refrainartig. Der Text wird durch diese
Formulierung als Ganzes gefestigt, da die Strophen auf diese Weise miteinander
verbunden werden. Demnach liegt hier eine Gedichtform vor, die im ersten Moment
sehr bruchstückhaft, unregelmäßig und unterbrechend wirkt, aber auf den zweiten
Blick aufgrund der parallelen äußeren und inhaltlichen Strukturen durchdacht scheint.
Bereits
in der ersten und längsten Strophe des Gedichts (V. 1 – 8) fällt auf, dass
Ingeborg Bachmann viele Naturbilder verwendet. Meiner Ansicht nach wird in
dieser Strophe ein Neubeginn, hier als sich eröffnender Sommer (V. 1)
beschrieben. Dass etwas vermutlich Erschreckendes und Gewaltsames vorgefallen
sein muss, zeigen die Begriffe „Scherben“ (V. 5), „geschundener Flügel“ (V. 6)
und „entstellte Hand“ (V. 7). Etwas Zerstörerisches scheint nun nicht mehr
gegenwärtig zu sein, da sich die Natur nun zu regenerieren scheint: unter
anderem grünt nun die Linde (V. 1), der Strahl im Brunnen regt sich (V. 4), der
Flügel des Märchenvogels hebt sich (V. 5 f.) und das Korn erwacht (V. 8). Die
Atmosphäre wirkt verträumt („Märchenvogels“, V. 6) und ländlich, was mit der
Äußerung „weit aus den Städten gerückt“ (V. 2) belegt werden kann. Es zeigt
deutlich, dass die zerstörerische Gewaltwelle nicht nur die Stadt, sondern auch
die ländliche Idylle getroffen hat. Aus der ersten Strophe des Gedichts „Früher
Mittag“ könnte man die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland
ableiten. Die Gewalt des Nationalsozialismus und des Krieges hatte starke und
folgenreiche Auswirkungen auf Mensch und Natur. Nur langsam scheint sich Frieden
einzustellen, das Leben zu regenerieren und ein Aufbruch zu beginnen.
Der
von Bachmann geschilderte Steinwurf (V. 7) könnte eine Anspielung auf das
Bibelwort „Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein“ sein. Es stellt
sich allerdings die Frage, warum die Hand vom Steinwurf entstellt ist. Möglich
wäre zum einen die Vermutung, dass die Hand selbst von einem Stein getroffen
worden ist und ihre Entstellung somit darauf beruht, dass sie die Schuldige war.
Zum anderen könnte der Vers aber auch so ausgelegt werden, dass die Hand frei
von Schuld sein wollte und sie zu viele Steine geworfen hat, so dass es zu
einer Entstellung der Hand gekommen war. Da diese Hand im erwachenden Korn
verschwindet (V. 7 – 8), denke ich aber, dass die angesprochene Hand die des
Täters ist, der nicht frei von Schuld ist. Das Korn wird über diese Hand (= die
Schuldigen und Mitschuldigen im Nationalsozialismus) wachsen, so dass sie eines
Tages nicht mehr zu sehen sein wird und in Vergessenheit gerät.
Schuldzuweisungen werden somit beendet und wie hier dem Erdboden gleichgemacht.
Der
folgende Abschnitt gliedert sich in drei Verse. Diese zweite Strophe des
Gedichts beginnt damit, dass beschrieben wird, dass Deutschlands Himmel, als
etwas Machtvolles dargestellt, die Erde schwärzt (V. 9). Dass Deutschlands
Himmel die Erde schwärzt, zeigt, dass die Geschehnisse noch ihre Schatten
werfen, Folgen mit sich ziehen und noch nichts in Vergessenheit geraten ist.
Ein enthaupteter Engel des deutschen Himmels sucht ein Grab für den Hass (V.
10), was darauf hindeutet, dass auch diese himmlische Figur von Gewalt
betroffen war, nun aber versucht, damit abzuschließen und Frieden zu finden. Zum
ersten Mal im Gedicht wird an dieser Stelle ein Adressatenbezug hergestellt.
Der enthauptete Engel „reicht dir die Schüssel des Herzens“ (V. 11), was
bedeutet, dass der Engel versucht, sein gutmütiges Verhalten, die Vergebung,
weiterzutragen, auch wenn er selbst von den Folgen der Gewalt gekennzeichnet
ist.
Der
folgende Einzeiler („Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel“, V.
12) deutet darauf hin, dass Schmerz in dieser geschilderten Zeit noch vorhanden
ist, aber allmählich verschwindet. Es wirkt hierbei so, als wenn man dem
Schmerz über eine weite Entfernung in der Landschaft hinterherschauen würde. Es
ist an der Zeit gekommen, von ihm Abschied nehmen zu müssen und ihn gehen zu
lassen.
Die
nächsten beiden fünfzeiligen Strophen beginnen mit der Formulierung „Sieben
Jahre später“ (V. 13, 18). Der Gedichtband „Die gestundete Zeit“ wurde 1953
veröffentlicht. Man kann nun annehmen, dass das Gedicht schon früher verfasst
worden ist, vermutlich im Jahr 1952, sieben Jahre nach Kriegsende. Die Formulierung
„Sieben Jahre später“ könnte somit der Situationsbeschreibung der
Nachkriegszeit dienen.
Der
„Brunnen“ (V. 15), der in der ersten fünfzeiligen Strophe (V. 13 – 17)
beschrieben wird, kann als Symbol für das Gedächtnis stehen. Der Brunnen ist
dazu in der Lage, etwas rasch zu verbergen und kann sehr tief reichen. Man kann
nicht einsehen, wie weit der Brunnen reicht. Er beinhaltet Spuren, die nicht
leicht zugänglich, die man eventuell sogar verdrängt hat, aber in jedem Fall
noch vorhanden sind. Die Spuren alter Zeiten wirken daher beunruhigend auf den
Leser. In dieser Strophe gibt es wiederum einen Adressatenbezug. An den
Adressaten wird appelliert, nicht zu tief in den Brunnen hineinzuschauen (V.
16). Demnach ist es zwar möglich, sich an das Geschehene zu erinnern, dennoch sollte
das Vergangene aber eher ruhen und oberflächlich betrachtet werden. Es wird
davon gesprochen, dass die Augen über gehen könnten (Augenmotiv, V. 17). Daraus
lässt sich ableiten, dass die Gefahr bestehen könnte, zu tief in die Vergangenheit
zu blicken und möglicherweise auch etwas aufzudecken, was den Prozess der
Verarbeitung und des Vergessens stark beeinträchtigen könnte.
Die
zweite fünfzeilige Strophe (V. 18 – 22) zeigt, dass „die Henker von gestern“
(V. 20) noch in der beschriebenen Gegenwart präsent sind und sich im
Verborgenen, hier das Totenhaus, zueinander gesellen. Das Motiv der Augen (V.
22) findet sich auch hier wieder. Das Sinken der Augen könnte hier als
Beschämtheit und Wegsehen verstanden werden.
Die
darauf folgende Strophe (V. 23 – 27) beginnt mit der bekannten Feststellung
„schon ist Mittag“ (V. 23). Die Wendung erfährt nun eine größere Bedeutung als
noch in der ersten Strophe (V. 3), in der sie durch die beiden folgenden Verse
(V. 4 – 5), die ebenfalls mit dem Wort „schon“ begannen, abgeschwächt wurde. In
dieser Strophe erfolgt eine Situationsbeschreibung: Das Eisen wird gekrümmt (V.
24), die Fahne wird gehisst (V. 25) und der Adler bleibt fortan geschmiedet (V.
26 – 27). In dieser Strophe kommt zum Vorschein, dass sich etwas regt. Waffen
werden geschmiedet und geschärft, was einen bedrohlichen und aggressiven
Eindruck erweckt. Es könnte eine Anspielung auf das Wettrüsten im Kalten Krieg,
der nach Ende des Zweiten Weltkrieges eintrat, sein. Nach kurzer Zeit könnte
sich wieder ein politischer Konflikt entwickeln. Dass das Eisen sich nicht im
Feuer, sondern in der Asche krümmt, könnte bedeuten, dass das kriegerische
Feuer erst kurz zuvor erloschen ist und das dass Eisen, was für Robustheit und
Stärke steht, aufgrund der Auswirkungen immer noch reagiert und sich krümmt.
An
diese Strophe schließt sich ein Einzeiler an, in der die Hoffnung allegorisch,
in personifizierter Form, erblindet im Licht kauert (V. 28). Dieses könnte
bedeuten, dass eine Hoffnung zwar vorhanden, aber aufgrund des aufkommenden Konflikts
durch den Kalten Krieg, erniedrigt worden ist. Diese Hoffnung aufzubauen, ist
möglich, worauf auch die nächste Strophe (V. 29 – 32) Bezug nimmt. An dieser
Stelle gibt es wieder einen klaren Adressatenbezug. Hier kommt es zu einem
Appell an das „du“, die Hoffnung zu befreien, in dem ihre Fessel gelöst werden
sollen (V. 29), sie die Halde herabgeführt werden (V. 30) und man ihr die Hand
auf das Auge legen soll (V. 31). Es zeigt sich, dass ein Handeln möglich ist,
so dass die Hoffnung auf einen Ausweg bestehen kann.
Die
nächste und vorletzte Strophe (V. 33 – 35) nimmt Bezug auf die zweite Strophe
(V. 9 – 11) des Gedichts, indem zunächst beschrieben wird, dass Deutschlands
Erde den Himmel schwärzt. Es kommt hier demzufolge zu einer Inversion des
Beginns der zweiten Strophe. Der Himmel wird dunkler und schwärzt sich
allmählich. Während dieser Schwärzung des Himmels ist eine Wolke auf der Suche
nach Worten (V. 34), deren Intention aufgrund ihrer Position im dunklen Himmel
sehr schwierig zu sein vermag. Die Wolke könnte als eine Vertreterin der
hermetischen Schriftsteller verstanden werden. Da sich die hermetischen Autoren
in einer schwierigen literarischen Situation befanden (= geschwärzter Himmel),
suchten sie nach passenden Worten oder zogen sich sogar zurück ins Schweigen.
Die Wolke ist dazu in der Lage, Krater mit Schweigen zu füllen (V. 34). Es
zeigt, dass auch Schweigen eine Wirkung haben kann und dazu imstande ist, etwas
zu bewegen. Mit „Sommer“ (V. 35) könnte die Nachkriegszeit gemeint sein, die
auch schon in der ersten Strophe des Gedichts angesprochen wurde. Es könnte in
diesem Fall daraufhin deuten, dass erst einige Zeit vergehen muss, bis die
Wolke, also der hermetische Schriftsteller, von seiner Umgebung erhört und wahrgenommen
wird.
Das
Gedicht schließt damit ab, dass das Unsägliche, „leise gesagt, übers Land“ geht
(V. 36). „Das Unsägliche“, das Restriktionen unterliegt und daher „leise
gesagt“ werden muss, könnte für die Worte der hermetischen Autoren stehen, die nun
nach der Suche gefunden worden sind und ausgesprochen werden müssen. Möglich
wäre aber auch, dass die Sequenz „schon ist Mittag“ (V. 37) als das Unsägliche
verstanden werden kann und nun leise über das Land hinausgetragen wird. Es
bleibt die Frage nach dem Wohin der Bewegung des Unsäglichen. Möglich wäre
durchaus eine Verbreitung des Unsäglichen, aber auch ein Verschwinden aus der
Landschaft. Die Zukunft des Unsäglichen ist demnach ungewiss.
In
dem Gedicht „Früher Mittag“, welches von Metaphern und Chiffren durchzogen ist,
kann die Nachkriegssituation herausgelesen werden. Die als bedrohlich
empfundenen Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und ihre Folgen (V. 1 - 8),
das Empfinden der gegebenen Gegenwart mitsamt der Vergangenheitsbewältigung (V.
9 – 22), die aktuellen Einflüsse des Kalten Krieges (V. 23 – 27) und die
Hoffnung auf Zukunft, die sich auch im Finden von Worten widerspiegelt (V. 28 –
37) und einen Verarbeitungsprozess darstellt, finden Erwähnung. Die Wendung
„schon ist Mittag“ kann an den verschiedenen Stellen des Gedichts
unterschiedlich aufgefasst werden. In der ersten Strophe scheint sie zunächst neben
den Naturbildern ein eher beiläufiger Ausdruck zu sein, der darauf hindeutet,
dass es bereits an die Zeit eines Aufbruchs gekommen ist und das Leben nun von neuem
erwacht. In Vers 23 erlangt die Formulierung „Schon ist Mittag“ eine größere
Aufmerksamkeit, da sie nun am Satzanfang vorzufinden ist. Der Mittag könnte
hier beispielsweise als zeitlicher Wendepunkt des Tages betrachtet werden und
zeigen, dass ein Prozess (hier: Wettrüsten) mitten im Gange und bereits vieles
geschafft worden ist. Zum Abschluss des Gedichts taucht die Formulierung erneut
auf (V. 37). Sie gibt, da sie die letzten Worte des Gedichts bilden, noch
einmal Anstöße zum Nachdenken. An dieser Stelle wird die Situation, in der sich
das Nachkriegsdeutschland befindet, geschildert: Eine ungewisse Zukunft steht
bevor. Es gibt genügend Möglichkeiten, in der jetzigen Situation eine
Veränderung hervorzurufen. Andererseits könnte „schon ist Mittag“ als
bedrohliches oder überraschend schnelles Fortschreiten der Zeit gesehen werden,
so dass ein Zeitdruck erzeugt wird und dementsprechend, wenn auch leise gesagt,
zu einem Handeln aufgerufen wird. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das
Unsägliche im Land in der Lage dazu ist, sich zu entwickeln.
Das
Gedicht ist entsprechend der hermetischen Auslegung vielschichtig und schwierig
zu dechiffrieren. Ingeborg Bachmann arbeitete mit vielen, komplexen Bildern,
deren Interpretationen nicht leicht ausfindig zu machen sind. Es gibt viel Raum
für Spekulationen und Sichtweisen, die den Zugang zu dem Gedicht „Früher
Mittag“ sehr schwer gestalten. Die Deutungen einiger Bilder sind mir verwehrt
geblieben, wie zum Beispiel die genaue Auslegung der Figur des Märchenvogels in
der ersten Strophe und die des geschmiedeten Adlers auf dem Felsen (V. 25 – 27).
Es zeigt noch einmal, wie schwer der Zugang zu der Lyrik Ingeborg Bachmanns
ist.
3.2.
Gedichtinterpretation:
„Anrufung des Großen Bären“
„Anrufung
des Großen Bären“ ist sowohl Namensgeber des zweiten Gedichtbandes als auch ein
Gedicht aus diesem Band, welcher im Jahr 1956 veröffentlicht wurde. Im
Folgenden werde ich versuchen, das Gedicht „Anrufung des Großen Bären“ zu
analysieren.
Das
reimlose Gedicht besteht aus 28 Versen, die vier, immer kürzer werdende Strophen
aufbauen. An einigen Stellen sind die Verse wie auch in dem Gedicht „Früher
Mittag“ mit Enjambements miteinander verbunden (= Hakenstil). Die erste Strophe
(V. 1 – 11) besteht aus elf Versen, die zweite Strophe (V. 12 – 18) aus sieben
Versen und die letzten beiden Strophen (V. 19 – 23 und 24 – 28) aus jeweils
fünf Versen.
Das
Gedicht wirkt zunächst sehr undurchsichtig. Auffällig ist bereits zu Beginn des
Gedichts, dass der Bär den Bezugspunkt des Gedichtes darstellt. Der Große Bär erweist
sich in diesem Gedicht als eine mysteriöse Figur, die nach Anrufung durch die
Menschen auf die Erde kommt und eine Gefahr von Gewalt darstellt. Bei genauerer
Betrachtung des Gedichts eröffnet sich ein Perspektivenwechsel auf die Figur
des Bären:
In
der ersten Strophe (V. 1 – 11) wird von einer Gruppe („wir“, V. 7) das
Sternenbild des Großen Bären angerufen und angefleht herabzukommen. Auch die
Nacht wirkt bereits, da sie als „zottige“ (V. 1) beschrieben wird und daher dem
Erscheinungsbild des Bären nahe kommt, düster und bedrohlich. Die Anrufung der
Gruppe, die einer göttlichen Anbetung ähnelt, kommt einem Appell sehr nahe. Man
wendet sich an ein Sternenbild, was von der Erde sehr weit distanziert und
daher unerreichbar scheint. Die Faszination für dieses Sternenbild des Großen
Bären kommt in dieser ersten Strophe sehr gut zur Geltung. Dieser Bär wird in
der ersten Strophe sehr genau beschrieben: Er ist ein „Wolkenpelztier“ mit
„alten Augen“ (V. 2) bzw. „Sternenaugen“ (V. 3), der „Pfoten mit den Krallen“
(V. 5) besitzt und scharfe halbentblößte Zähne (V. 9 f.) hat. Die Anrufenden
sind voller Ehrfurcht („gebannt“, V. 8) vor diesem Bären, dennoch wünschen sie
sich, dass der Bär herab kommen möge (V. 1). Der Bär erhält durch die Beschreibung
eine große Macht, die beängstigend wirkt. Das Sternenbild wird personifiziert
und enthält die natürlichen Eigenschaften eines lebendigen Bären. Die
Anrufenden haben sich zur Aufgabe gemacht, die Herden, die potentielle Opfer
des Bären sein könnten, zu bewachen (V. 7). Die Anrufenden zeigen demnach bei
der Anrufung des Bären sehr viel Mut und begeben sich auch selbst in Gefahr.
In
der zweiten Strophe des Gedichts (V. 12 – 18) kommt es zu einem Perspektiv- und
Sprecherwechsel. Die Gestalt des Bären wendet sich in ihrer Bedrohlichkeit an
die Anrufenden der ersten Strophe. Es zeigt sich, dass der Große Bär von oben
auf die vermeintlich kleine Welt und ihre Bewohner schaut. Er stellt deutlich
klar, dass er die Welt der Anrufenden als Zapfen und die Anrufenden als
Schuppen an den Zapfen sieht. Er drückt somit seine Geringschätzung gegenüber der
Welt aus. Er verdeutlicht seine Macht, indem er beschreibt, dass er mit den
Zapfen und Schuppen spielen kann (V. 14: „treib sie, roll sie“, V. 17 f.: „schnaub
sie an, prüf sie im Maul / und pack zu mit den Tatzen“), als wenn sie seine
Beute wären und keinen Ausweg mehr hätten. Die Welt und die Menschen als Opfer
sind dem Großen Bären somit gnadenlos ausgeliefert.
In
der dritten Strophe des Gedichts (V. 19 – 23) kommt es wiederum zu einem
Sprecher- und Perspektivwechsel. Der Klingelbeutel (V. 20) gibt Hinweis darauf,
dass sich der Bär nun angeleint, somit in der vermeintlichen Macht des
Menschen, in einer Art Zirkus oder in traditioneller Sichtweise auf einem Marktplatz
befinden könnte. Die Gewalt in der Figur des Bären ist demnach nun auf der Erde
vorzufinden. Doch der Mann, möglicherweise ein Dompteur, der in der dritten
Person von sich sprechen könnte und der den Bären an der Leine hält, ist blind
(V. 21). Dieses stellt eine sehr große Bedrohung für die Menschen dar. Die
Entscheidung über die Empfindung bezüglich der gegebenen Situation „Fürchtet
euch oder fürchtet euch nicht“ (V. 19) fällt nicht schwer. Der Ausspruch
„Fürchtet euch nicht“ könnte eine Anspielung auf die Bibel sein. Darin wird von
Jesus Christus verkündet, sich nicht fürchten zu müssen. Doch aufgrund der
Blindheit des Mannes, der den Bären an der Leine hält, wird Furcht gegenüber
dem Bären erzeugt. Die Lämmer dienen als Opfergabe für den Bären und sollen gut
gewürzt sein (V. 23). Durch die Opfergabe wird gezeigt, dass dem Bären Respekt und
Ehre zu zollen ist und er als machtvolles Wesen gesehen werden kann.
Die
letzte Strophe (V. 24 – 28) lehnt sich nicht nur durch den äußerlichen Aufbau
(fünfzeilig), sondern auch inhaltlich an die vorletzte Strophe an, indem noch
einmal die Gefahr, die von dem Bären ausgehen kann, wenn er sich von der Leine
losreißen sollte, beschrieben wird. Die Drohungen seitens des Bären (V. 12 –
18) würden dann in die Tat umgesetzt werden. Die Zapfen, die von den
hochgewachsenen Tannen aus dem Paradies fallen, wären dann die Opfer des Bären.
Die Zapfen, also die Welt und die darauf lebenden Menschen, werden als groß und
geflügelt (V. 27) beschrieben, was darauf hindeutet, dass die Zapfen sich über
einen langen Zeitraum hinweg entwickelt haben müssen und eine attraktive Beute für
das Tier darstellen.
Das
Gedicht „Anrufung des Großen Bären“ ist wie auch das Gedicht „Früher Mittag“
zunächst schwer zu durchblicken. Insbesondere die Perspektivwechsel innerhalb
des Gedichtes sorgen für anfängliche Verwirrung. Der Bär, als transzendierendes
Wesen und dunkle, mystisch-märchenhafte Chiffre, vermittelt ein andauernd
bestehendes Gefühl einer ausbrechenden Gefahr, die zunächst weit entfernt,
plötzlich aber sehr nahe erscheint. Es wird eine Existenzbedrohung der
menschlichen Beziehungen in der gegenwärtigen Welt vermittelt. Das Gedicht
stellt sich somit einer unausweichlichen Präsenz von Gewalt. Deutschland und
Europa haben traumatische Erfahrungen durchlitten und eine Zeit der Gewalt
hinter sich gebracht. Es zeigt sich, dass die Gefahr von Gewalt und Schrecken
noch nicht in Vergessenheit geraten ist und es auch in der Gegenwart der
Nachkriegszeit eine Bedrohung durch eine geschichtliche Macht gibt. Aufgrund
des aufgetretenen politischen Konfliktes durch den Kalten Krieg ist es möglich,
dass die Leinen des machtvollen Bären reißen, dieser nicht mehr nur Drohungen
ausspricht und viele Menschen dem Wesen zum Opfer fallen könnten.
4. Schlusswort
Ingeborg
Bachmann versuchte - Adorno zum Trotz - zu zeigen, dass es auch in einer
schwierigen Phase nach den Ereignissen, die der Zweite Weltkrieg mit sich zog,
durchaus möglich war, Gedichte zu schreiben. So entschloss sich die
Schriftstellerin dazu, ihrer Lyrik eine neue Sprache zu verleihen. Sie wollte
das ausdrücken, was sich an der Grenze des Sagbaren befand, was aber zu dieser
Zeit verarbeitet und ausgedrückt werden musste.
Ingeborg
Bachmann bemühte sich um die Erneuerung der deutschen Sprache. Dazu äußerte die
Schriftstellerin:
„Eine neue Sprache muss eine
neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur,
wenn ein Geist sie bewohnt. Der Schriftsteller müsse der Sprache deshalb
eine Gangart geben, die sie
nirgendwo sonst erhält außer im sprachlichen
Kunstwerk. Da mag sie uns
freilich erlauben, auf ihre Schönheit zu empfinden, aber
sie gehorcht einer
Veränderung, die weder zuerst noch zuletzt ästhetische
Befriedigung will, sondern
neue Fassungskraft.“
Diese
geforderte neue Sprache hat Bachmann in ihren Gedichtbänden, insbesondere in dem
Band „Anrufung des Großen Bären“ realisiert. Die von mir analysierten Gedichte
„Früher Mittag“ und „Anrufung des Großen Bären“ (Kap. 3.1 und 3.2) zeigen, dass
die Gedichte Ingeborg Bachmanns stark chiffriert, metaphernreich und somit
schwer zugänglich sind. Die Programmatik der hermetischen Lyrik (Kap. 2) konnte
anhand dieser Gedichte daher sehr gut nachempfunden werden.
In
einer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, die sie am 17.
März 1959 hielt,
schilderte sie noch einmal die Situation und die Möglichkeiten der hermetischen
Schriftsteller/innen in der Nachkriegszeit:
„Es ist auch mir gewiß, daß
wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft
nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber
haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche,
Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im
Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere
Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir
wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel,
das freilich, wenn wir uns näher, sich noch einmal entfernt.“
5. Literatur
_
v Adorno,
Theodor W.: „Kulturkritik und Gesellschaft“. In: „Lyrik nach Auschwitz? Adorno
und die Dichter“. Hrsg. von Petra Kiedaisch. Stuttgart 1995
v Albrecht,
Monika / Göttsche, Dirk: Bachmann. Handbuch – Leben- Werk-Wirkung. Verlag J. B.
Metzler, Stuttgart 2002
v Hoffmann,
Dieter: Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik seit 1945. A. Francke Verlag,
Tübingen 1998
v Lexikonartikel
„Hermetismus“ in: Bertelsmann – Wörterbuch der deutschen Sprache, Gütersloh
2004, S. 633.
6. Anhang (2 Gedichte)
Früher Mittag
1 Still
grünt die Linde im eröffneten Sommer,
2 weit aus den Städten gerückt, flirrt
3 der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag,
4 schon regt sich im Brunnen der Strahl,
5 schon hebt sich unter den Scherben
6 des Märchenvogels geschundener Flügel,
7 und die vom Steinwurf entstellte Hand
8 sinkt uns erwachende Korn.
9 Wo
Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
10 sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß
11 und reicht dir die Schüssel des Herzens.
12 Eine
Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.
13 Sieben
Jahre später
14 fällt es dir wieder ein,
15 am Brunnen vor dem Tore,
16 blick nicht zu tief hinein,
17 die Augen gehen dir über.
18 Sieben
Jahre später,
19 in einem Totenhaus,
20 trinken die Henker von gestern
21 den goldenen Becher aus.
22 Die Augen täten dir sinken.
23 Schon
ist Mittag in der Asche
24 krümmt sich das Eisen, auf den Dorn
25 ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen
26 uralten Traums bleibt fortan
27 der Adler geschmiedet.
28 Nur
die Hoffnung kauert erblindet im Licht.
29 Lös
ihr Fessel, führ sie
30 die Halde herab, leg ihr
31 die Hand auf das Aug, daß sie
32 kein Schatten versengt!
33 Wo
Deutschlands Erde den Himmel schwärzt,
34 sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen,
35 eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt.
36 Das
Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land:
37 schon ist Mittag.
Quelle:
(zuletzt abgerufen am 18.08.2007)
Anrufung des Großen Bären
1 Großer
Bär, komm herab, zottige Nacht,
2 Wolkenpelztier mit den alten Augen,
3 Sternenaugen,
4 durch das Dickicht brechen schimmernd
5 deine Pfoten mit den Krallen,
6 Sternenkrallen,
7 wachsam halten wir die Herden,
8 doch gebannt von dir, und mißtrauen
9 deinen müden Flanken und den scharfen
10 halbentblößten Zähnen,
11 alter Bär.
12 Ein
Zapfen: eure Welt.
13 Ihr: die Schuppen dran.
14 Ich treib sie, roll sie
15 von den Tannen im Anfang
16 zu den Tannen am Ende,
17 schnaub sie an, prüf sie im Maul
18 und pack zu mit den Tatzen.
19 Fürchtet
euch oder fürchtet euch nicht!
20 Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
21 dem blinden Mann ein gutes Wort,
22 daß er den Bären an der Leine hält.
23 Und würzt die Lämmer gut.
24 's
könnt sein, daß dieser Bär
25 sich losreißt, nicht mehr droht
26 und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
27 gefallen sind, den großen, geflügelten,
28 die aus dem Paradiese stürzten.
Quelle:
Anrufung_des_Gro0337en_B0344ren.html
(zuletzt aufgerufen am 17.08.2007)