Im Spiegel von Margret Steenfatt
Interpretation einer Kurzgeschichte
Die vorliegende Kurzgeschichte ‚im
Spiegel’ von Margret Steenfatt aus dem Jahr 1984, handelt von einem Jungen
namens Achim, dem vorgehalten wird, nichts aus seinem Leben zu machen,
woraufhin er ins Nachdenken kommt und sich im Spiegel betrachtet. Er malt seinem Gesicht im Spiegel eine Maske auf und zertrümmert
diesen anschließend. Dann verlässt er das Haus um seine Leute zu treffen.
„ ‚Du kannst nichts’,
[...] ‚du machst nichts’,
‚aus dir wird nichts’“ (Z.1-2), werfen ‚sie’ (Z.1 und 4) ihm vor. ‚Sie’ sind
vermutlich seine Eltern, bei denen er noch wohnt, wobei diese abschätzige
Bezeichnung bereits Achims Distanz und sein entfremdetes Verhältnis ausdrückt.
Achim, so lässt sich vermuten, befindet sich in der Pubertät. Offensichtlich
machen sich Achims Eltern Sorgen um seine Zukunft, das spürt Achim, obwohl er
selbst ratlos ist: „Was war das für ein NICHTS, von dem sie redeten und vor dem
sie offensichtlich Angst hatten“ (Z.4-6). Um sich selbst aus seinem
lethargischen Zustand hochzurappeln macht er die Musik an (vgl. Z.17f), dessen
Liedzeile seinen momentanen Gemütszustand ausdrückt: „ ‚Weil sie dich verplant
haben, kannst du nichts anderes tun als aussteigen und nachdenken’“ (Z.24f). Offenkundig
haben seine Eltern seine Zukunft geplant, wie die ‚Dead Kennedys’ singen und er
weiß dem nichts anderes entgegenzusetzen als Boykott. Er steht morgens nicht
auf um einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, er reagiert nicht und bleibt
‚unter Decken und Kissen vergraben’ (Z.6f), unsichtbar, nicht existent.
Achim verfällt
ins Grübeln und starrt an die weiße Zimmerdecke, die ihm wie ein Spiegel seiner
selbst erscheint – wie eine leere Hülle, wie ‚ein unbeschriebenes Blatt Papier,
ein ungemaltes Bild, eine tonlose Melodie’ (Z.12ff). Während seine Eltern wohl seine
Tatenlosigkeit in Bezug auf Schule oder Ausbildung meinen – schließlich liegt
er zum wiederholten Male bis mittags ‚nach eins’ im Bett und es ist ‚Wieder mal
zu spät’ (beides Z.11) für eine geregelte Tätigkeit, fasst er ihren Vorwurf
eher als Angriff auf seine Identität, sein Ich, bzw. seine Existenz, auf, deren
Findung und Bestimmung für ihn offensichtlich ein Problem ist, denn sein
Nachdenken gipfelt in der Feststellung sein Leben sei ein ‚ungelebtes’ (Z.15), was
offenbart, dass auch er selbst mit seiner derzeitigen Situation unzufrieden ist
und bisher wohl in den Tag hinein vor sich hin gelebt hat, ohne sinnvolle
Beschäftigung. Diese Monotonie und Langeweile bestätigt sich auch durch seinen
Blick aus dem Fenster, der ‚immer dasselbe’ (Z.29) sieht, nämlich: „Straßen,
Häuser, Läden, Autos [und] Passanten“ (Z.28f). Offensichtlich gibt es in Achims Leben keine
Abwechslung, er erlebt nichts, was ihn motivieren und damit aus seinem tristen
Lebenswandel reißen würde.
Er stellt sich vor den Spiegel
und sieht die Vorwürfe bestätigt: Er erblickt seine unscheinbare Gestalt: ‚lang,
knochig, graue Augen im blassen Gesicht, hellbraune Haare, glanzlos’ (Z.21f). Nichts zeichnet ihn als Person besonders aus – eher starrt sein nichtssagendes
Spiegelbild ihm wie ein Schatten seiner selbst entgegen. Wie um sich zu
vergewissern, dass er existiert, zeichnet Achim sein Spiegel-Ich nach und
streicht ‚über Wangen, Augen, Stirn und Schläfen’ (Z.34f), doch er spürt ‚nichts
als Glätte und Kälte’ (Z.36). Die Oberfläche, die der Spiegel abbildet,
bestätigt somit die Behauptung ‚nicht’ zu sein.
Wie aus
Protest beginnt er dieses kühle, leblose Äußere, das auch seine innere Leere
und Ausdruckslosigkeit spiegelt, zu überzeichnen – und zwar im doppelten
Wortsinn: er überschminkt sein Spiegelgesicht mit einer Maske in nichtfarbigem
Schwarz und Weiß, und betont noch mit Blau (vgl. Z.40-57) und steigert damit
zugleich den Eindruck ins Groteske. Achim ‚grinst[e]’ (Z.55): Die Maskierung
oder die Tarnung seines Nicht-Ich ist ihm vorübergehend gelungen. Er versteckt
sich, nicht nur im Bett vergraben, sondern auch hinter einer leblosen Maske,
die er seinem Spiegelbild aufschminkt, um zu überdecken, wie es tatsächlich in
ihm aussieht.
Jedoch nur
kurz kann er sich über seine Identitätskrise hinwegtäuschen. Seinen Eltern und
dem Spiegel kann er eine Maske vorhalten, doch seinem wahren Selbst kann er
nicht entrinnen und so taucht ‚wie ein Spuk’ (Z.60) sein Gesicht neben der ‚Spiegelmaske’
(Z.62) auf, als er beiseite tritt (vgl. Z.59). Frustriert und enttäuscht
darüber, dass ihm sein Seelen-Spiegel vorgehalten wird, schlägt er voller Selbstaggressionen
in sein Spiegelbild und zertrümmert den Spiegel. Achim ist mit sich und seinem
Leben über die Maßen unzufrieden. Der Spiegel hat seine negative
Selbsteinschätzung bestätigt und hält weder Antworten noch Identitätsstiftendes
für ihn bereit.
Doch der
Schlag, mit dem er den Spiegel zertrümmert, befreit ihn zugleich und hat
kathartische Wirkung: Das Blut, das ihm warm aus der Schnittwunde an der Hand
rinnt, versichert ihn seiner Existenz, seines Lebens und verleiht ihm die Farbe,
die zuvor fehlte und nun sogar Signalwirkung hat: „Sein Gesicht [wurde] rot
verschmiert“ (Z.70). Nur aus sich selbst heraus, mithilfe seiner Lebenskraft,
für die das Blut symbolisch steht, kann er sich Farbe und damit Ausdruck
verleihen – von außen lässt sich nur eine Maske aufschminken, aber keine
Identität verleihen. Die blutrote Färbung seines Gesichtes ist ein Symbol für
seine eigene Farbe, die Farbe seines Blutes, er ist also kein Nichts, sondern
ein Jemand.
Der Spiegel, den schon die
Überschrift in eine besondere Stellung hebt und der ein Symbol für die
oberflächliche Betrachtung ist, ist zerstört; Achim bekennt sich zum Leben und
zu sich selbst, was das Blut repräsentiert. Im gleichen Zug
erteilt er so auch den Vorwürfen seiner Eltern eine klare Absage und bestätigt
sein Dasein. Er kehrt sich vom Spiegel ab und erteilt damit der oberflächlichen
Identitätsabschreibung eine klare Absage. Er rafft sich auf, zieht sich an
(vgl. Z.70f) und geht zu ‚seinen Leuten’ (Z.74). Seine Freunde fungieren für
Achim offensichtlich identitätsstiftend, für sie ist er ein Jemand, das wird
durch die Verwendung des Personalpronomens ‚seinen’ deutlich, im Gegensatz zu
seinen Eltern, die er nur als ‚sie’ (Z.1) bezeichnet und die damit als gesichts-
und charakterlose Personen erscheinen.