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Hausübung
Philosophie

Alice Salomon Fachhochschule Berlin - ASFH

1, Gedscholdt, 2011

Juliana M. ©

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sternsternsternsternstern
ID# 34712







Hausarbeit

Ich ziehe um

oder die Freiheit, mit dem Schreiben „Denkgehäuse“ zu verlassen

 

Ich frage mich, wer und was ich bin, wo meine Möglichkeiten und Grenzen sind und welches Leben ich führen soll. Überlegungen dazu erscheinen mir allerdings nur sinnvoll, wenn ihnen zunächst die Frage: „Habe ich einen freien Willen?“ vorangestellt wird. Am Beginn meiner ersten schriftlichen Auseinandersetzung mit dieser philosophischen Frage bin ich ahnungslos durch die vielgestaltige Literatur geirrt, unfähig mich auf einen thematischen Teilaspekt oder auf eine bestimmte Perspektive zu konzentrieren. Wo finde ich einen systematischen und mit meiner Lebenswirklichkeit verbundenen Ansatz um der Sache tatsächlich auf den Grund gehen? Ich entschloss mich, um Grundlegendes zu finden, tiefer und immer weiter in die Geschichte der Philosophie zurückzugehen. Ausgerüstet hatte ich mich in meinen philosophischen Laienstand mit einem Journal, eine Art Tagebuch, das mich auf meinem Schreibprozess begleiten sollte und mit einer besonderen Sichtweise. Kritzelnd und skizzierend wollte ich das Phänomen der Willensfreiheit aus dem Blickwinkel der Existenzphilosophie betrachten, die betont, dass die philosophische Wahrheit an mich als Individuum gebunden ist. Das heißt, die im täglichen Prozess des Schreibens über das Thema sich formenden Überzeugungen sind für mich, ohne einen Ausschließlichkeitsanspruch nach außen hin vertreten zu können, eine verbindliche Wahrheit. Diese individuelle Sichtweise erschien mir bei einem Thema über die Freiheit, deren Begriff selbst individuell und wandelbar ist, gerechtfertigt und machte mich außerdem darin unbefangen, Gedanken und Ansichten anderer anzunehmen oder abzulehnen. So vorbereitet begab ich mich lesend und schreibend auf die Suche nach dem freien Willen. Der entstandene Text ist ein Abbild meiner gedanklichen Reise, die durch die philosophischen Epochen zurück ins Mittelalter bis hin zur Patristik und von dort wieder bis in die Gegenwart mit ihren jeweils verschiedenen Auffassungen von Willensfreiheit führt.

 

Das ist zuviel, höre ich die kritische Stimme des Dozenten, der verlangt auf nur zehn Normseiten von Freiheit zu reden. Recht hat er, erst in der Begrenzung lässt sich Freiheit finden und so werde ich einzelne Epochen lediglich tangieren und nur die Philosophen erwähnen, die für mich Wichtiges zur Klärung des Begriffs der (Willens-) Freiheit und in welchem Sinne der Mensch frei ist, beigetragen haben.

 

Zunächst verschaffe ich mir begriffliche Klarheit. Nach welcher Freiheit frage ich? Ich gehe von einem anthropologischen Freiheitsbegriff aus. Als Naturwesen ist der Mensch determiniert, weist aber im Unterschied zum Tier, das in seinem Verhalten instinktgeleitet ist, eine biologische Instinktunsicherheit auf. Eine Unsicherheit, die dazu führt, dass er sich entscheiden muss. Die Befähigung sich zu entscheiden hat der Mensch durch den aufrechten Gang und damit Freiwerden seiner Hände und der Erweiterung seines Gesichtsfeldes erworben. Auf diese Weise hat er sich eine Naturdistanziertheit geschaffen, eine Distanz, die ihm Spielraum bietet. Raum, in dem er sein Vermögen zur rationalen Beurteilung der Situation und zur Suspension der Befriedigung der unmittelbaren Wünsche, bezogen auf das, was für eine Zukunft als gut und besser beurteilt wird, gestaltet. In dieser menschlichen Fähigkeit des „Einklammernkönnens“ von Wünschen, der Verzicht auf eine gegenwärtige Befriedigung zugunsten einer zukünftigen, die er für besser hält, manifestiert sich nach Ernst Tugendhat die Willensfreiheit. Meine Präferenz diesen anthropologischen Freiheitsbegriff als Ausgangspunkt meiner thematischen Überlegungen zu wählen, ist eng verbunden mit dem eigentlichen Problem der Willensfreiheit, dem Problem der Verantwortlichkeit. Wir Menschen können genau wegen dieser Struktur der Willensfreiheit für unser Handeln verantwortlich gemacht werden. Wenn der Mensch wirklich die Fähigkeit hat, die Befriedigung seiner Wünsche zu suspendieren und nach Gründen zu handeln, dann liegt es an ihm und er ist dafür verantwortlich zu machen.

 

In dieser Weise verstandene Willensfreiheit, die unmittelbaren Wünsche mit Sicht auf ein künftiges Wohl einzuschränken, ist an zwei Voraussetzungen gebunden. Zum einen muss ich mich willentlich zu meinem Wollen verhalten, also aus meiner Identität heraus und zum anderen geschieht mein Wollen im Hinblick darauf, was ich für gut und besser halte. Insbesondere die zweite Komponente zieht für mich einen Schwall an Fragen nach sich. Worauf gründet sich mein Urteil, dieses oder jenes für mein zukünftiges Wohl für gut und besser zu halten? Ist es ein subjektives Empfinden, ein allgemeingültiger ethischer Maßstab, den ich mir angeeignet habe oder was sind das für Gründe, die bestimmen wie zu leben gut ist und mich urteilen lassen? Kann ich erkennen, was das Bessere ist und wenn das der Fall sein sollte, bin ich in der Lage mein Wollen zu steuern, mein Wollen willentlich zu beeinflussen?

Nein, das kann der Mensch nicht, unterbricht mich der Geist Augustinus  und verweist auf seine Veröffentlichung „De Civitate Dei – Vom Gottesstaat“ um 412. Der Mensch ist durch den Sündenfall genealogisch bedingt böse und das begründet die Unfähigkeit des Menschen, sein Wollen willentlich zu beeinflussen. Augustinus argumentiert dabei mit einem Willensbegriff, der den Willen in zwei Momente unterteilt. Er unterscheidet zwischen dem liberum arbitrium und der voluntas. Das liberum arbitrium ist das Vermögen der reflektierenden Selbstbewertung und die voluntas das faktisch bestehende, durch die Richtung auf ein Objekt gerichtete Streben. Somit ist der Wille als solcher in sich gespalten, in ein Urteilen und in ein Streben. Aus dieser Unterscheidung und der ererbten Disposition des Menschen resultiert für Augustinus, die Wahrnehmung der Existenz des Guten und die Unfähigkeit des Menschen, das Gute zu tun. Die menschliche Willensschwäche verhindert es, dass die freie Entscheidung des Menschen für das Gute oder das Böse willentlich umgesetzt werden kann. Somit kann er das Gute zwar wollen, aber er kann sein Streben nicht darauf ausrichten. Dazu bedarf es der göttlichen Gnade, die ihm zuteil werden kann. Erst durch die göttliche Gnade wird der Mensch wieder frei, das Gute nicht nur zu wollen, sondern es auch zu erreichen.

Auf dem Spannungsverhältnis dieser Willensmomente argumentiert auch Luther. Er stellt noch deutlicher heraus, dass es lediglich um den Willen als Strebevermögen geht, welches insofern für den Menschen nicht frei ist, weil der Wille sich nicht ändern kann. Luther meint, dass der menschliche Wille schon ausgerichtet bzw. durch Affekte schon festgelegt ist und nicht fähig ist, sich anderswohin zu wenden, als er schon ist. Die anthropologische Konstellation des Menschen, sein Geprägtsein durch Affekte wie Liebe und Hass, Freude und Trauer, Hoffnung und Angst richten sein Wollen aus. Von sich aus bzw. aus sich selbst heraus ist der Mensch nicht in der Lage seinen Willen zu ändern, sich willentlich dem Guten zu zuwenden und besitzt demzufolge keinen freien Willen. Kann ich diese Erkenntnis annehmen? Hatte ich nicht zuvor bei Kant gelesen, dass sich die Freiheit des Menschen gerade in der Hervorbringung des guten Willens manifestiert? Und sollte diese Freiheit noch nicht oder nur in Ansätzen vorhanden sein, dass es möglich ist, sich diese durch die Anstrengung des Denkens zu erarbeiten?

„Befrage die Erfahrung … “ fordert Luther Erasmus von Rotterdam in seiner Streitschrift „"De servo arbitrio" (1525) auf und ermutigt damit auch mich, meine subjektiven Wahrnehmungen ins Spiel zu bringen[1]. Meine Erfahrungen sind uneindeutig. Sowohl das Geprägtsein meines Willens als auch mein Wollen, mich willentlich zum Guten zu beeinflussen, habe ich schon mehrfach wahrgenommen. Sind diese Erfahrungen ein Hinweis darauf, dass es unterschiedliche Wahrheiten zu unterschiedlichen Zeitsituationen gibt? Oder ist es ein Fingerzeig auf unterschiedliche Perspektiven, die ich in der Wahrnehmung meiner Erfahrungen einnehme? Ich möchte keine meiner Erfahrungen leugnen und suche einen gedanklichen Weg, der diesen Widerspruch von Willensfreiheit und Prädestination bzw. Determination akzeptiert.

 

Kant hat es mit dem Ansatz seiner Zwei-Welten-Lehre versucht. Der Determinismus gilt in der phänomenalen Welt und die Freiheit in der noumenalen. Andere Philosophen unterscheiden in eine normative und in eine empirische oder in eine subjektive und objektive Ebene oder bemühen eine innerliche und äußerliche Sichtweise. Aber ist so eine Problemlösung haltbar, die die Welt in zwei Perspektiven teilt? Wird die Antwort auf die Frage der Willensfreiheit dann nicht beliebig, einmal so, einmal anders und nächstes Mal? Ich möchte eine fundamentale Wahrheit, eine die mir den Grund legt, die mich weiterführt auf meiner Suche danach wer und was ich bin, wo meine Möglichkeiten und Grenzen sind und welches Leben ich führen soll. Kann ich diese Wahrheit finden oder bin ich bereits bei der Erkenntnis eines nur beschränkten menschlichen Erkennens? Ist es mir überhaupt möglich zu wissen, dass ich unfähig bin für bestimmte Erkenntnisse?

 

Eine Verwirrung geht um in mir, die mir Angst macht. Ein Zustand, der sichtbar wird in dem Durcheinander in meinem Zimmer. Stapel von Büchern und Schreibblöcken, versehen mit Klebezetteln, roten hämisch herausragenden Zungen, wirren Notizen auf scheinbar wahllos ausgedruckten Seiten. In den vergangenen Wochen habe ich mich mit den verschiedensten denkbaren Positionen in der langen Geschichte der kontroversen Auseinandersetzungen um das Thema Willensfreiheit beschäftigt. Das Thema betrifft mich als Mensch existenziell und die Zunahme an Wissen stellt täglich mein Lebens- und Denkmuster in Frage. Ich habe als erwachsener Mensch mein Gedankengebäude, das mir Schutz und Halt im Leben bietet. Nun rüttelt mein erschriebenes neues Wissen an den Grundpfeilern des Baus. Wenn das wahr ist, dass ich keine Willensfreiheit habe, wäre alles bisher nur eine unnütze Selbsttäuschung.

 

Einerseits kann ich den mir neu angeeigneten Gedanken, dass es bereits entschieden ist, was ich will und damit wer ich sein soll, nicht verdrängen. Andererseits suche ich noch eine Möglichkeit, dass diese Schlussfolgerung fehlerhaft ist. Vorherbestimmtsein des Willens - ich befürchte, mich bzw. meine Identität, zu verlieren, denn mein Wille das bin doch ich, oder?


Meine existenzphilosophische Sichtweise ist durch die Erkenntnis über die Unsicherheit meines möglichen Wissens ins Wanken geraten und so klammere ich mich an mein verbliebenes Ausrüstungswerkzeug. Mit meinem täglichen Journalschreiben will ich den Spielraum des Schreibens mit seinen Funktionen nutzen. Das Schreiben als monomediales Kommunikationsmittel ermöglicht es, die komplexe Welt in die lineare Folge eines Textes zu bringen. Ich hoffe, durch die Linearität des Schreibens mir eine Übersicht, Klarheit und Logik in der mehrdimensionalen Wirklichkeit zu schaffen, die in den vielfältigen philosophischen Perspektiven für mich nur noch verschwommen wahrzunehmen ist. Neben dieser ordnenden Funktion weisen Studien dem Schreiben eine epistemische Funktion zu[2]. Das bedeutet, Schreiben kann eine wissensentwickelnde Funktion übernehmen. Dabei geht es um den Aspekt, dass Schreiben eine Form des Weiterverarbeitens eigenen Wissens ist. Gewusstes wird präzisiert, vertieft und verknüpft und erfährt in den neuen Dimensionierungen eine Erweiterung bzw. Entwicklung.

 

Es wird für mich immer deutlicher, dass die Stellung meiner Fragen und die sich daraus ergebenden Teil- oder wiederum erforderliche Vorfragen, bestimmte Antworten nahe legen bzw. sich von selbst ergeben lassen. Wie frei bin ich in der Auswahl meiner Fragestellungen? Wie frei war ich in der Auswahl des Freiheitsbegriffs? Hätte ich vielleicht besser nach einer Freiheit suchen sollen, die mehr ist als eine Freiheit des Willens? Ich beschließe, diese Auswahlgedanken zu ignorieren und trotz aller Beschränkungen fortzufahren und dem neuen Gedanken, dass ich keine Willensfreiheit habe, zu folgen. Daraus ergeben sich für mich die Fragen, wessen „Willens“-Knecht, wes Geistes Kind bin ich? Oder anders ausgedrückt: „Bin ich?“ Gibt es eine Option, dass ich ohne Willensfreiheit und dennoch frei, ein „ich“ sein kann?

 

Über Augustin und Luther bin ich dem Gedanken gefolgt, dass ich aufgrund meiner Prägung (Erbsünde, Triebstruktur) keine Wahlmöglichkeit habe, mich für das Bessere zu entscheiden. Wenn ich nicht mehr aktiv wollen und wählen kann, dann bleibt noch die Möglichkeit, dass ich gewollt und erwählt werde.

 

«Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich.» (Jesaja 6, 8) 

 

Warum zitiere ich diese Sätze aus dem Alten Testament? Zum einen weiß ich mich damit in der Tradition von Luther, der sich in seiner thematischen Auseinandersetzung mit Erasmus über das Verhältnis von Gottes Allmacht und dem menschlichen Willensvermögen ausschließlich direkt auf biblischen Äußerungen bezogen hat. Zum anderen finde ich in diesem Dialog meine neuen Erkenntnisse deutlich gemacht.  

 

Jesaja berichtet von seiner Berufungssituation zum Propheten durch Gott. Eine Frage von Gott und eine Antwort Jesajas. Ist es ein freier Wille, den ich in der Antwort Jesajas finde? Ist es Jesajas Wille gesandt zu werden oder ist er nur Akteur in einer Beauftragung, die von Gott schon lange geplant ist? Solche Fragen hätte ich mir noch vor nicht allzu langer Zeit gestellt. Heute interpretiere ich den geschilderten Sachverhalt anders. In den letzten Wochen des ordnenden und Gedanken entwickelnden Schreibens habe ich eine umwerfende Erfahrung von Freiheit gemacht: Freiheit ist das „Kippen“ der Situation als ganzer, ist ein Wechsel der Perspektive.[3]

 

Einen Perspektivwechsel in einem philosophischen Essay zu wagen bedarf erklärender Worte. Auf der Suche nach Antworten zur existenziellen Frage nach einer möglichen Willensfreiheit bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die Philosophie keine letzten Antworten geben kann, weil diese nicht mehr in einer möglichen menschlichen Erkenntnis liegen. Der Philosoph verweist am Ende auf eine Transzendenz oder er führt den Gedanken in einer theologischen Sichtweise fort. Auf der Suche nach Denkern, die mir die Leere füllen, die bei bloßen existenzphilosophischen Betrachtungen bleibt, bin ich auf zwei Persönlichkeiten gestoßen. Da ist zum einen der Theologe Karl Barth. In seinem veröffentlichten Vortrag „Das Geschenk der Freiheit“ betrachtet er in konsequenter Weise nicht vom Menschen her, sondern von Gott aus das Thema Freiheit und fasziniert mich mit seinen klaren Gedanken, als Mensch in Freiheit zu sein. Zum anderen habe ich in Paul Tillich einen Philosophen und Theologen gefunden, der existenzielle Fragen und theologische Antworten in eine Wechselbeziehung setzt, die mich in meiner Wirklichkeit erfassen und mir einen Zusammenhang offenbaren, der von Veränderung geprägt ist. Ganz im Sinne von Paul Tillichs Definition von Glauben: „Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.“ [4] habe ich mich ergreifen und „umkippen“ lassen.

 

Mein Perspektivwechsel wirft ein neues Licht auf den Dialog zwischen Gott und Jesaja. Es geht nicht nur um eine gestellte Frage, eine gebotene Chance, eine eröffnete Möglichkeit, die Jesaja im Vermögen oder Unvermögen eines freien Willens bejahen oder ablehnen kann. Es geht um ein Sein in Freiheit. Wie ist das zu verstehen, dass Jesaja in Freiheit sein soll, wo er sich doch beauftragen lässt und damit in ein Abhängigkeitsverhältnis begibt?

 

Ich folge den Gedanken des Theologen Barth: Ausgangspunkt ist das Wissen über Gottes eigene Freiheit, der dem Menschen die Freiheit schenkt, die ihn von seiner Entfremdung erlöst. Der Mensch empfängt es von Gott frei zu sein und in diesem in Freiheit sein, bejaht er wiederum in Besinnung auf das Geschenk dieser Freiheit das von Gott gebotene Tun. Barth sagt, dass „Gottes eigene Freiheit die Souveränität der Gnade (ist), in der er sich selbst für den Menschen erwählt und entscheidet, und also ganz und gar als Gott des Menschen der Herr ist.“ [5] Dieser Satz ist für die meisten Menschen eine Herausforderung, entweder ihren Kopf zu schütteln oder sich ganz auf ihn einzulassen um Wesentliches zu erfassen. Gott entscheidet sich in seiner eigenen Freiheit für die Freiheit des Menschen. In der Einleitung der Geschichte zur Berufung erzählt Jesaja, wie er Gottes Präsenz erlebt und in seiner Gegenwart erkennt, dass er ein Sünder, ein in der Sünde gefangener Mensch ist. Er ängstigt sich, weil er nicht er selbst ist, weil er entfremdet ist von Gott. Gott lässt Jesaja von einem Engel die Lippen reinigen. Er befreit ihn in diesem Bild von seiner Sünde. Gott nimmt Jesaja die Angst und schenkt ihm seine Freiheit und das Bewusstsein für sich und seinen Auftrag. Befreit bejaht Jesaja das von Gott (an)gebotene Tun. Jesaja antwortet auf Gottes Frage „Wer will mein Bote sein?“ nicht: „Ich will“, sondern „Hier bin ich“. Aus dieser Antwort lese ich, dass Jesaja nur er selbst, ein „Ich“ sein kann, wenn er den Willen Gottes tut und sich beauftragen lässt. Jesajas „Hier bin ich“ verdeutlicht mir ein gewolltes Dürfen in einem freien Sein.

 

Es gibt sie also, die Freiheit ein „Ich“ zu sein, obwohl ich keine Willensfreiheit habe. Ein „Ich“, das die größte Freiheit erlangt, wenn es den Willen Gottes tut. Das ist die Erkenntnis am Ende dieser Arbeit, aus dem hier und jetzt, zu dem auch der Schreibprozess gehört. Ich habe eine Wahrheit entdeckt, die es wahrscheinlich schon ewig gibt, aber ich bin eben jetzt erst bereit, sie aufzunehmen und möglicherweise auch wieder zu verdrängen. In diesem Spannungsverhältnis stehe ich als Mensch: zwischen den ewigen Wahrheiten und dem persönlichen zeitbezogenen Erkennen können derselben. In der mir geschenkten Freiheit vertraue ich auf die Erkenntnis zur rechten Zeit, verbunden mit der Wahrnehmung meiner Verantwortung.

Mein Perspektivwechsel hat die ursprüngliche Fragestellung verändert. Ich frage nicht mehr danach, ob ich Willensfreiheit habe, sondern wo ich frei bin für etwas. Es geht mir um die Erfahrung der Errettung aus meiner Entfremdung, um mein in Freiheit sein und dem daraus erwachsenen Dürfen.

Ausblick


„Ich ziehe um“ ist mein erstaunter Ausruf mit dem ich die Veränderung beschreibe, die mit dem Schreibprozess zum Thema Willensfreiheit einherging. Ausgerüstet mit einer existenzphilosophischen Sichtweise und meinem Journal bin ich neugierig im Sturzflug durch die Jahrhunderte gereist und habe große Denker kennen gelernt, die sich mit dem Problem der Willensfreiheit auseinandergesetzt haben. In die Diskussion bin ich mit einem anthropologischen Freiheitsbegriff eingestiegen, der dem Menschen aufgrund seiner Fähigkeit Wünsche zu suspendieren Willensfreiheit zuspricht. Ein Begriff von Freiheit, der sich als leer erweist, weil er die Frage, worauf sich der Mensch ausrichten soll, nicht mit Inhalt füllen kann. Am Ende der Reise hatte ich das Interesse an meiner Frage „Habe ich einen freien Willen?“ verloren, aber eine neue Erkenntnis gewonnen: Es geht nicht darum, ob ich Willensfreiheit habe - es geht ausschließlich um das in (Willens-) Freiheit sein.

Bei der Erarbeitung des Essays, beim täglichen Schreiben meines Journals, habe ich erfahren, dass es eine große Herausforderung ist, sich als erwachsener Mensch mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen. Damit meine ich nicht die unüberschaubare Menge an Literatur, verschiedenen Ansichten und dahinter stehenden gedanklichen Konzepten. Es ist die Tatsache, dass das Bemühen sich dieser Frage ergebnisoffen und ohne Voreingenommenheit zu stellen, Angst macht. Es ist die Angst sichere Gedankengebäude verlassen zu müssen ohne zu wissen, ob neue Antworten gefunden werden können, die wiederum für eine gewisse Zeit Halt geben können.

Das Journalschreiben mit seinen epistemischen und ordnenden Funktionen hat meinen Perspektivwechsel ermöglicht und war mir ein absichernder Begleiter bei der Erfahrung, Freiheit als Seinszustand (er)le-ben zu können. Ich habe mein Denkgehäuse verlassen und mich angereichert mit der Erkenntnis, dass es morgen wieder eine neue Erkenntnis geben kann. Das ist meine geschenkte Freiheit und eine Annäherung an meine Identität.

 

 

 

 

 

 

 

Literatur, die ich verwendet habe und die mir Anregungen gegeben hat

 

 

Achtner, Wolfgang (2011): Willensfreiheit und Person in neurowissenschaftlicher und theologischer Perspektive. In: Neue Zeitschrift für Systematische theologische und Religionsphilosophie. Hrsg. von Christoph Schwöbel. Berlin.

Augustin, Frank (2006): Freiheit – wenn alles anders wird. In: der blaue reiter – Journal für Philosophie. Hrsg. von Dr. phil. Dipl.-Chem. Siegfried Reusch u. a.. Stuttgart.

Barth, Karl (1970): Gottes Freiheit für den Menschen. Berlin

Berning, Johannes (2001): Schreiben als Wahrnehmungs- und Denkhilfe. Elemente einer holistischen Schreibpädagogik. Münster

Bieri, Peter (1991): Das Handwerk der Freiheit.Über die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001.

Gallus, Petr (2007): Der Mensch zwischen Himmel und Erde. Der Glaubensbegriff bei Paul Tillich und Karl Barth. Leipzig.

Härle, Wilfried, (1987): Hirnforschung und Predigtarbeit. Veröffentlicht in Nr. 18 der Evangelischen Zeitung für Hamburg und Schleswig-Holstein vom 9. Mai 2010, S. 6f.)

Jaspers, Karl (1996): Das Wagnis der Freiheit. Hrsg. von Hans Saner. München.

Paprotny, Thorsten (2003): Das Wagnis der Philosophie, Denkwege und Diskurse bei Karl Jaspers. München.

Schockenhoff, Eberhard (2004): Beruht die Willensfreiheit auf einer Illusion?. Basel.

Seebaß, Gottfried (2007): Willensfreiheit und Determinismus. Berlin

Steinvorth, Ulrich (1987): Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt.

Tillich, Paul (1961): Wesen und Wandel des Glaubens. Weltperspektiven. Frankfurt/Main – Berlin.

Tugendhat, Ernst (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurt/Main.

 

 

 

 

 



[1] In Unkenntnis habe ich den Begriff Erfahrung zunächst im empirischen Sinn verstanden. Mit zunehmender Sensibilisierung für Begriffsverständnisse habe ich am Ende der Arbeit entdeckt, dass Luthers Erfahrungsbegriff immer in Bezug auf Schriftauslegung zu verstehen ist. Trotz besseren Wissens habe ich den ursprünglichen Textfluss nicht unterbrochen. So bleibt das Unfertige, das einem Schreibprozess innewohnt sichtbar und es zeigt ernüchternd die Zerbrechlichkeit eines solchen Textes wegen Unwissenheit.

[2] Vgl. Molitor (1984), S. 8f. In Unkenntnis habe ich den Begriff Erfahrung zunächst im empirischen Sinn verstanden. Mit zunehmender Sensibilisierung für Begriffsverständnisse habe ich am Ende der Arbeit entdeckt, dass Luthers Erfahrungsbegriff immer in Bezug auf Schriftauslegung zu verstehen ist. Trotz besseren Wissens habe ich den ursprünglichen Textfluss nicht unterbrochen. So bleibt das Unfertige, das einem Schreibprozess innewohnt sichtbar und es zeigt ernüchternd die Zerbrechlichkeit eines solchen Textes wegen Unwissenheit.

[3] Augustin  (1987) S.21

[4] Tillich (1961) S.9

[5] Barth (1970) S.332


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