Hausarbeit
Ich ziehe um
oder die Freiheit,
mit dem Schreiben „Denkgehäuse“ zu verlassen
Ich frage mich, wer und was
ich bin, wo meine Möglichkeiten und Grenzen sind und welches Leben ich führen
soll. Überlegungen dazu erscheinen mir allerdings nur sinnvoll, wenn ihnen zunächst
die Frage: „Habe ich einen freien Willen?“ vorangestellt wird. Am Beginn meiner
ersten schriftlichen Auseinandersetzung mit dieser philosophischen Frage bin
ich ahnungslos durch die vielgestaltige Literatur geirrt, unfähig mich auf
einen thematischen Teilaspekt oder auf eine bestimmte Perspektive zu konzentrieren.
Wo finde ich einen systematischen und mit meiner Lebenswirklichkeit verbundenen
Ansatz um der Sache tatsächlich auf den Grund gehen? Ich entschloss mich, um Grundlegendes
zu finden, tiefer und immer weiter in die Geschichte der Philosophie zurückzugehen.
Ausgerüstet hatte ich mich in meinen philosophischen Laienstand mit einem
Journal, eine Art Tagebuch, das mich auf meinem Schreibprozess begleiten sollte
und mit einer besonderen Sichtweise. Kritzelnd und skizzierend wollte ich das
Phänomen der Willensfreiheit aus dem Blickwinkel der Existenzphilosophie
betrachten, die betont, dass die philosophische Wahrheit an mich als Individuum
gebunden ist. Das heißt, die im täglichen Prozess des Schreibens über das Thema
sich formenden Überzeugungen sind für mich, ohne einen Ausschließlichkeitsanspruch
nach außen hin vertreten zu können, eine verbindliche Wahrheit. Diese individuelle
Sichtweise erschien mir bei einem Thema über die Freiheit, deren Begriff selbst
individuell und wandelbar ist, gerechtfertigt und machte mich außerdem darin unbefangen,
Gedanken und Ansichten anderer anzunehmen oder abzulehnen. So vorbereitet begab
ich mich lesend und schreibend auf die Suche nach dem freien Willen. Der entstandene
Text ist ein Abbild meiner gedanklichen Reise, die durch die philosophischen Epochen
zurück ins Mittelalter bis hin zur Patristik und von dort wieder bis in die
Gegenwart mit ihren jeweils verschiedenen Auffassungen von Willensfreiheit
führt.
Das ist zuviel, höre ich die kritische
Stimme des Dozenten, der verlangt auf nur zehn Normseiten von Freiheit zu reden.
Recht hat er, erst in der Begrenzung lässt sich Freiheit finden und so werde
ich einzelne Epochen lediglich tangieren und nur die Philosophen erwähnen, die
für mich Wichtiges zur Klärung des Begriffs der (Willens-) Freiheit und in
welchem Sinne der Mensch frei ist, beigetragen haben.
Zunächst verschaffe ich mir
begriffliche Klarheit. Nach welcher Freiheit frage ich? Ich gehe von einem
anthropologischen Freiheitsbegriff aus. Als Naturwesen ist der Mensch
determiniert, weist aber im Unterschied zum Tier, das in seinem Verhalten
instinktgeleitet ist, eine biologische Instinktunsicherheit auf. Eine
Unsicherheit, die dazu führt, dass er sich entscheiden muss. Die Befähigung sich
zu entscheiden hat der Mensch durch den aufrechten Gang und damit Freiwerden
seiner Hände und der Erweiterung seines Gesichtsfeldes erworben. Auf diese Weise
hat er sich eine Naturdistanziertheit geschaffen, eine Distanz, die ihm Spielraum
bietet. Raum, in dem er sein Vermögen zur rationalen Beurteilung der Situation
und zur Suspension der Befriedigung der unmittelbaren Wünsche, bezogen auf das,
was für eine Zukunft als gut und besser beurteilt wird, gestaltet. In dieser
menschlichen Fähigkeit des „Einklammernkönnens“ von Wünschen, der Verzicht auf
eine gegenwärtige Befriedigung zugunsten einer zukünftigen, die er für besser
hält, manifestiert sich nach Ernst Tugendhat die Willensfreiheit. Meine Präferenz
diesen anthropologischen Freiheitsbegriff als Ausgangspunkt meiner thematischen
Überlegungen zu wählen, ist eng verbunden mit dem eigentlichen Problem der
Willensfreiheit, dem Problem der Verantwortlichkeit. Wir Menschen können genau wegen
dieser Struktur der Willensfreiheit für unser Handeln verantwortlich gemacht
werden. Wenn der Mensch wirklich die Fähigkeit hat, die Befriedigung seiner Wünsche
zu suspendieren und nach Gründen zu handeln, dann liegt es an ihm und er ist
dafür verantwortlich zu machen.
In dieser Weise verstandene Willensfreiheit,
die unmittelbaren Wünsche mit Sicht auf ein künftiges Wohl einzuschränken, ist
an zwei Voraussetzungen gebunden. Zum einen muss ich mich willentlich zu meinem
Wollen verhalten, also aus meiner Identität heraus und zum anderen geschieht mein
Wollen im Hinblick darauf, was ich für gut und besser halte. Insbesondere die
zweite Komponente zieht für mich einen Schwall an Fragen nach sich. Worauf gründet
sich mein Urteil, dieses oder jenes für mein zukünftiges Wohl für gut und
besser zu halten? Ist es ein subjektives Empfinden, ein allgemeingültiger
ethischer Maßstab, den ich mir angeeignet habe oder was sind das für Gründe, die
bestimmen wie zu leben gut ist und mich urteilen lassen? Kann ich erkennen, was
das Bessere ist und wenn das der Fall sein sollte, bin ich in der Lage mein
Wollen zu steuern, mein Wollen willentlich zu beeinflussen?
Nein, das kann der Mensch nicht, unterbricht mich
der Geist Augustinus und verweist auf seine Veröffentlichung „De Civitate
Dei – Vom Gottesstaat“ um 412. Der Mensch ist durch den Sündenfall genealogisch
bedingt böse und das begründet die Unfähigkeit des Menschen, sein Wollen willentlich
zu beeinflussen. Augustinus argumentiert dabei mit einem Willensbegriff, der den
Willen in zwei Momente unterteilt. Er unterscheidet zwischen dem liberum arbitrium
und der voluntas. Das liberum arbitrium ist das Vermögen der reflektierenden
Selbstbewertung und die voluntas das faktisch bestehende, durch die Richtung
auf ein Objekt gerichtete Streben. Somit ist der Wille als solcher in sich
gespalten, in ein Urteilen und in ein Streben. Aus dieser Unterscheidung und
der ererbten Disposition des Menschen resultiert für Augustinus, die Wahrnehmung
der Existenz des Guten und die Unfähigkeit des Menschen, das Gute zu tun. Die
menschliche Willensschwäche verhindert es, dass die freie Entscheidung des
Menschen für das Gute oder das Böse willentlich umgesetzt werden kann. Somit kann
er das Gute zwar wollen, aber er kann sein Streben nicht darauf ausrichten.
Dazu bedarf es der göttlichen Gnade, die ihm zuteil werden kann. Erst durch die
göttliche Gnade wird der Mensch wieder frei, das Gute nicht nur zu wollen,
sondern es auch zu erreichen.
Auf dem Spannungsverhältnis dieser Willensmomente
argumentiert auch Luther. Er stellt noch deutlicher heraus, dass es lediglich um
den Willen als Strebevermögen geht, welches insofern für den Menschen nicht
frei ist, weil der Wille sich nicht ändern kann. Luther meint, dass der
menschliche Wille schon ausgerichtet bzw. durch Affekte schon festgelegt ist
und nicht fähig ist, sich anderswohin zu wenden, als er schon ist. Die anthropologische
Konstellation des Menschen, sein Geprägtsein durch Affekte wie Liebe und Hass,
Freude und Trauer, Hoffnung und Angst richten sein Wollen aus. Von sich aus
bzw. aus sich selbst heraus ist der Mensch nicht in der Lage seinen Willen zu ändern,
sich willentlich dem Guten zu zuwenden und besitzt demzufolge keinen freien
Willen. Kann ich diese Erkenntnis annehmen? Hatte ich nicht zuvor bei Kant
gelesen, dass sich die Freiheit des Menschen gerade in der Hervorbringung des
guten Willens manifestiert? Und sollte diese Freiheit noch nicht oder nur in
Ansätzen vorhanden sein, dass es möglich ist, sich diese durch die Anstrengung
des Denkens zu erarbeiten?
„Befrage die Erfahrung … “ fordert
Luther Erasmus von Rotterdam in seiner Streitschrift „"De servo
arbitrio" (1525) auf und ermutigt damit auch mich, meine subjektiven Wahrnehmungen
ins Spiel zu bringen.
Meine Erfahrungen sind uneindeutig. Sowohl das Geprägtsein meines Willens als
auch mein Wollen, mich willentlich zum Guten zu beeinflussen, habe ich schon
mehrfach wahrgenommen. Sind diese Erfahrungen ein Hinweis darauf, dass es unterschiedliche
Wahrheiten zu unterschiedlichen Zeitsituationen gibt? Oder ist es ein
Fingerzeig auf unterschiedliche Perspektiven, die ich in der Wahrnehmung meiner
Erfahrungen einnehme? Ich möchte keine meiner Erfahrungen leugnen und suche einen
gedanklichen Weg, der diesen Widerspruch von Willensfreiheit und Prädestination
bzw. Determination akzeptiert.
Kant hat es mit dem Ansatz seiner
Zwei-Welten-Lehre versucht. Der Determinismus gilt in der phänomenalen Welt und
die Freiheit in der noumenalen. Andere Philosophen unterscheiden in eine
normative und in eine empirische oder in eine subjektive und objektive Ebene oder
bemühen eine innerliche und äußerliche Sichtweise. Aber ist so eine
Problemlösung haltbar, die die Welt in zwei Perspektiven teilt? Wird die Antwort
auf die Frage der Willensfreiheit dann nicht beliebig, einmal so, einmal anders
und nächstes Mal? Ich möchte eine fundamentale Wahrheit, eine die mir den Grund
legt, die mich weiterführt auf meiner Suche danach wer und was ich bin, wo
meine Möglichkeiten und Grenzen sind und welches Leben ich führen soll. Kann ich
diese Wahrheit finden oder bin ich bereits bei der Erkenntnis eines nur
beschränkten menschlichen Erkennens? Ist es mir überhaupt möglich zu wissen, dass
ich unfähig bin für bestimmte Erkenntnisse?
Eine Verwirrung geht um in
mir, die mir Angst macht. Ein Zustand, der sichtbar wird in dem Durcheinander
in meinem Zimmer. Stapel von Büchern und Schreibblöcken, versehen mit Klebezetteln,
roten hämisch herausragenden Zungen, wirren Notizen auf scheinbar wahllos
ausgedruckten Seiten. In den vergangenen Wochen habe ich mich mit den
verschiedensten denkbaren Positionen in der langen Geschichte der kontroversen
Auseinandersetzungen um das Thema Willensfreiheit beschäftigt. Das Thema
betrifft mich als Mensch existenziell und die Zunahme an Wissen stellt täglich
mein Lebens- und Denkmuster in Frage. Ich habe als erwachsener Mensch mein
Gedankengebäude, das mir Schutz und Halt im Leben bietet. Nun rüttelt mein
erschriebenes neues Wissen an den Grundpfeilern des Baus. Wenn das wahr ist,
dass ich keine Willensfreiheit habe, wäre alles bisher nur eine unnütze
Selbsttäuschung.
Einerseits kann ich den mir
neu angeeigneten Gedanken, dass es bereits entschieden ist, was ich will und damit
wer ich sein soll, nicht verdrängen. Andererseits suche ich noch eine Möglichkeit,
dass diese Schlussfolgerung fehlerhaft ist. Vorherbestimmtsein des Willens - ich
befürchte, mich bzw. meine Identität, zu verlieren, denn mein Wille das bin
doch ich, oder?
Meine existenzphilosophische
Sichtweise ist durch die Erkenntnis über die Unsicherheit meines möglichen
Wissens ins Wanken geraten und so klammere ich mich an mein verbliebenes Ausrüstungswerkzeug.
Mit meinem täglichen Journalschreiben will ich den Spielraum des Schreibens mit
seinen Funktionen nutzen. Das Schreiben als monomediales Kommunikationsmittel
ermöglicht es, die komplexe Welt in die lineare Folge eines Textes zu bringen. Ich
hoffe, durch die Linearität des Schreibens mir eine Übersicht, Klarheit und
Logik in der mehrdimensionalen Wirklichkeit zu schaffen, die in den
vielfältigen philosophischen Perspektiven für mich nur noch verschwommen wahrzunehmen
ist. Neben dieser ordnenden Funktion weisen Studien dem Schreiben eine epistemische
Funktion zu.
Das bedeutet, Schreiben kann eine wissensentwickelnde Funktion übernehmen. Dabei
geht es um den Aspekt, dass Schreiben eine Form des Weiterverarbeitens eigenen
Wissens ist. Gewusstes wird präzisiert, vertieft und verknüpft und erfährt in
den neuen Dimensionierungen eine Erweiterung bzw. Entwicklung.
Es wird für mich immer
deutlicher, dass die Stellung meiner Fragen und die sich daraus ergebenden Teil-
oder wiederum erforderliche Vorfragen, bestimmte Antworten nahe legen bzw. sich
von selbst ergeben lassen. Wie frei bin ich in der Auswahl meiner Fragestellungen?
Wie frei war ich in der Auswahl des Freiheitsbegriffs? Hätte ich vielleicht
besser nach einer Freiheit suchen sollen, die mehr ist als eine Freiheit des
Willens? Ich beschließe, diese Auswahlgedanken zu ignorieren und trotz aller
Beschränkungen fortzufahren und dem neuen Gedanken, dass ich keine Willensfreiheit
habe, zu folgen. Daraus ergeben sich für mich die Fragen, wessen
„Willens“-Knecht, wes Geistes Kind bin ich? Oder anders ausgedrückt: „Bin ich?“
Gibt es eine Option, dass ich ohne Willensfreiheit und dennoch frei, ein „ich“
sein kann?
Über Augustin und Luther bin
ich dem Gedanken gefolgt, dass ich aufgrund meiner Prägung (Erbsünde,
Triebstruktur) keine Wahlmöglichkeit habe, mich für das Bessere zu entscheiden.
Wenn ich nicht mehr aktiv wollen und wählen kann, dann bleibt noch die
Möglichkeit, dass ich gewollt und erwählt werde.
«Und ich hörte die Stimme
des Herrn, wie er sprach:
Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber
sprach: Hier bin ich, sende mich.» (Jesaja 6, 8)
Warum zitiere ich diese Sätze
aus dem Alten Testament? Zum einen weiß ich mich damit in der Tradition von
Luther, der sich in seiner thematischen Auseinandersetzung mit Erasmus über das
Verhältnis von Gottes Allmacht und dem menschlichen Willensvermögen
ausschließlich direkt auf biblischen Äußerungen bezogen hat. Zum anderen finde
ich in diesem Dialog meine neuen Erkenntnisse deutlich gemacht.
Jesaja berichtet von seiner
Berufungssituation zum Propheten durch Gott. Eine Frage von Gott und eine
Antwort Jesajas. Ist es ein freier Wille, den ich in der Antwort Jesajas finde?
Ist es Jesajas Wille gesandt zu werden oder ist er nur Akteur in einer Beauftragung,
die von Gott schon lange geplant ist? Solche Fragen hätte ich mir noch vor
nicht allzu langer Zeit gestellt. Heute interpretiere ich den geschilderten Sachverhalt
anders. In den letzten Wochen des ordnenden und Gedanken entwickelnden
Schreibens habe ich eine umwerfende Erfahrung von Freiheit gemacht: Freiheit ist
das „Kippen“ der Situation als ganzer, ist ein Wechsel der Perspektive.
Einen Perspektivwechsel in
einem philosophischen Essay zu wagen bedarf erklärender Worte. Auf der Suche
nach Antworten zur existenziellen Frage nach einer möglichen Willensfreiheit
bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die Philosophie keine letzten
Antworten geben kann, weil diese nicht mehr in einer möglichen menschlichen
Erkenntnis liegen. Der Philosoph verweist am Ende auf eine Transzendenz oder er
führt den Gedanken in einer theologischen Sichtweise fort. Auf der Suche nach
Denkern, die mir die Leere füllen, die bei bloßen existenzphilosophischen
Betrachtungen bleibt, bin ich auf zwei Persönlichkeiten gestoßen. Da ist zum
einen der Theologe Karl Barth. In seinem veröffentlichten Vortrag „Das Geschenk
der Freiheit“ betrachtet er in konsequenter Weise nicht vom Menschen her, sondern
von Gott aus das Thema Freiheit und fasziniert mich mit seinen klaren Gedanken,
als Mensch in Freiheit zu sein. Zum anderen habe ich in Paul Tillich einen
Philosophen und Theologen gefunden, der existenzielle Fragen und theologische
Antworten in eine Wechselbeziehung setzt, die mich in meiner Wirklichkeit
erfassen und mir einen Zusammenhang offenbaren, der von Veränderung geprägt ist.
Ganz im Sinne von Paul Tillichs Definition von Glauben: „Glaube ist das
Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.“ habe ich mich
ergreifen und „umkippen“ lassen.
Mein Perspektivwechsel wirft ein
neues Licht auf den Dialog zwischen Gott und Jesaja. Es geht nicht nur um eine
gestellte Frage, eine gebotene Chance, eine eröffnete Möglichkeit, die Jesaja im
Vermögen oder Unvermögen eines freien Willens bejahen oder ablehnen kann. Es
geht um ein Sein in Freiheit. Wie ist das zu verstehen, dass Jesaja in Freiheit
sein soll, wo er sich doch beauftragen lässt und damit in ein
Abhängigkeitsverhältnis begibt?
Ich folge den Gedanken des
Theologen Barth: Ausgangspunkt ist das Wissen über Gottes eigene Freiheit, der dem
Menschen die Freiheit schenkt, die ihn von seiner Entfremdung erlöst. Der
Mensch empfängt es von Gott frei zu sein und in diesem in Freiheit sein, bejaht
er wiederum in Besinnung auf das Geschenk dieser Freiheit das von Gott gebotene
Tun. Barth sagt, dass „Gottes eigene Freiheit die Souveränität der Gnade (ist),
in der er sich selbst für den Menschen erwählt und entscheidet, und also ganz
und gar als Gott des Menschen der Herr ist.“
Dieser Satz ist für die meisten Menschen eine Herausforderung, entweder ihren
Kopf zu schütteln oder sich ganz auf ihn einzulassen um Wesentliches zu
erfassen. Gott entscheidet sich in seiner eigenen Freiheit für die Freiheit des
Menschen. In der Einleitung der Geschichte zur Berufung erzählt Jesaja, wie er Gottes
Präsenz erlebt und in seiner Gegenwart erkennt, dass er ein Sünder, ein in der
Sünde gefangener Mensch ist. Er ängstigt sich, weil er nicht er selbst ist,
weil er entfremdet ist von Gott. Gott lässt Jesaja von einem Engel die Lippen
reinigen. Er befreit ihn in diesem Bild von seiner Sünde. Gott nimmt Jesaja die
Angst und schenkt ihm seine Freiheit und das Bewusstsein für sich und seinen Auftrag.
Befreit bejaht Jesaja das von Gott (an)gebotene Tun. Jesaja antwortet auf
Gottes Frage „Wer will mein Bote sein?“ nicht: „Ich will“, sondern „Hier bin
ich“. Aus dieser Antwort lese ich, dass Jesaja nur er selbst, ein „Ich“ sein
kann, wenn er den Willen Gottes tut und sich beauftragen lässt. Jesajas „Hier
bin ich“ verdeutlicht mir ein gewolltes Dürfen in einem freien Sein.
Es gibt sie also, die Freiheit
ein „Ich“ zu sein, obwohl ich keine Willensfreiheit habe. Ein „Ich“, das die
größte Freiheit erlangt, wenn es den Willen Gottes tut. Das ist die Erkenntnis am
Ende dieser Arbeit, aus dem hier und jetzt, zu dem auch der Schreibprozess
gehört. Ich habe eine Wahrheit entdeckt, die es wahrscheinlich schon ewig gibt,
aber ich bin eben jetzt erst bereit, sie aufzunehmen und möglicherweise auch
wieder zu verdrängen. In diesem Spannungsverhältnis stehe ich als Mensch: zwischen
den ewigen Wahrheiten und dem persönlichen zeitbezogenen Erkennen können derselben.
In der mir geschenkten Freiheit vertraue ich auf die Erkenntnis zur rechten
Zeit, verbunden mit der Wahrnehmung meiner Verantwortung.
Mein Perspektivwechsel hat die
ursprüngliche Fragestellung verändert. Ich frage nicht mehr danach, ob ich Willensfreiheit
habe, sondern wo ich frei bin für etwas. Es geht mir um die Erfahrung der Errettung
aus meiner Entfremdung, um mein in Freiheit sein und dem daraus erwachsenen Dürfen.
Ausblick
„Ich ziehe um“ ist mein erstaunter Ausruf mit dem ich die Veränderung beschreibe,
die mit dem Schreibprozess zum Thema Willensfreiheit einherging. Ausgerüstet
mit einer existenzphilosophischen Sichtweise und meinem Journal bin ich neugierig
im Sturzflug durch die Jahrhunderte gereist und habe große Denker kennen
gelernt, die sich mit dem Problem der Willensfreiheit auseinandergesetzt haben.
In die Diskussion bin ich mit einem anthropologischen Freiheitsbegriff
eingestiegen, der dem Menschen aufgrund seiner Fähigkeit Wünsche zu
suspendieren Willensfreiheit zuspricht. Ein Begriff von Freiheit, der sich als
leer erweist, weil er die Frage, worauf sich der Mensch ausrichten soll, nicht
mit Inhalt füllen kann. Am Ende der Reise hatte ich das Interesse an meiner
Frage „Habe ich einen freien Willen?“ verloren, aber eine neue Erkenntnis
gewonnen: Es geht nicht darum, ob ich Willensfreiheit habe - es geht
ausschließlich um das in (Willens-) Freiheit sein.
Bei der Erarbeitung des Essays,
beim täglichen Schreiben meines Journals, habe ich erfahren, dass es eine große
Herausforderung ist, sich als erwachsener Mensch mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen.
Damit meine ich nicht die unüberschaubare Menge an Literatur, verschiedenen Ansichten
und dahinter stehenden gedanklichen Konzepten. Es ist die Tatsache, dass das
Bemühen sich dieser Frage ergebnisoffen und ohne Voreingenommenheit zu stellen,
Angst macht. Es ist die Angst sichere Gedankengebäude verlassen zu müssen ohne
zu wissen, ob neue Antworten gefunden werden können, die wiederum für eine
gewisse Zeit Halt geben können.
Das Journalschreiben mit
seinen epistemischen und ordnenden Funktionen hat meinen Perspektivwechsel
ermöglicht und war mir ein absichernder Begleiter bei der Erfahrung, Freiheit
als Seinszustand (er)le-ben zu können. Ich habe mein Denkgehäuse verlassen und mich
angereichert mit der Erkenntnis, dass es morgen wieder eine neue Erkenntnis
geben kann. Das ist meine geschenkte Freiheit und eine Annäherung an meine
Identität.
Literatur,
die ich verwendet habe und die mir Anregungen gegeben hat
Achtner, Wolfgang (2011): Willensfreiheit und Person
in neurowissenschaftlicher und theologischer Perspektive.
In: Neue Zeitschrift für Systematische theologische und Religionsphilosophie.
Hrsg. von Christoph Schwöbel. Berlin.
|
Augustin, Frank
(2006): Freiheit
– wenn alles anders wird. In: der blaue reiter – Journal für Philosophie.
Hrsg. von Dr. phil. Dipl.-Chem. Siegfried Reusch u. a.. Stuttgart.
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Barth, Karl (1970): Gottes Freiheit für den
Menschen. Berlin
|
Berning, Johannes (2001): Schreiben als Wahrnehmungs-
und Denkhilfe. Elemente einer holistischen Schreibpädagogik. Münster
|
Bieri, Peter (1991): Das Handwerk der Freiheit.Über
die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001.
|
Gallus, Petr (2007): Der Mensch zwischen Himmel
und Erde. Der Glaubensbegriff bei Paul Tillich und Karl Barth. Leipzig.
|
Härle, Wilfried, (1987): Hirnforschung
und Predigtarbeit. Veröffentlicht in Nr. 18 der Evangelischen Zeitung für
Hamburg und Schleswig-Holstein vom 9. Mai 2010, S. 6f.)
|
Jaspers, Karl (1996): Das Wagnis der Freiheit.
Hrsg. von Hans Saner. München.
|
Paprotny, Thorsten (2003): Das Wagnis der
Philosophie, Denkwege und Diskurse bei Karl Jaspers. München.
|
Schockenhoff, Eberhard
(2004):
Beruht die Willensfreiheit auf einer Illusion?. Basel.
|
Seebaß, Gottfried (2007): Willensfreiheit und
Determinismus. Berlin
|
Steinvorth, Ulrich (1987): Freiheitstheorien in der Philosophie
der Neuzeit. Darmstadt.
|
Tillich, Paul (1961): Wesen und Wandel des
Glaubens. Weltperspektiven. Frankfurt/Main – Berlin.
|
Tugendhat, Ernst (2002): Von den Mythen der
Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurt/Main.
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