Hilde
Domin „Bitte“
Gedichtinterpretation
Die
Gliederung des vierstrophigen, reimlosen Gedichts „Bitte“ von
Hilde Domin scheint recht übersichtlich: Nachdem dem Leser in der
ersten Strophe die bedrängende Situation, in der sich das chorische
Wir, nämlich die von der Judenverfolgung betroffene Gemeinschaft,
nahe gelegt wird, und in der zweiten Strophe eine Möglichkeit,
dieser Situation durch Wünsche zu entfliehen, negiert wird, taucht
am Anfang der dritten Strophe wiederum das Wort „Bitte“ auf. Aus
ihm heraus entwickelt sich schließlich der einzig „taugliche“
Weg, die beschriebene Situation zu bewältigen
Die
erste, als einzige nur aus vier Zeilen bestehende Strophe bildet
aufgrund dieser Kürze und ihrem Tatsachenbeschreibungscharakter
sozusagen das Fundament, auf dem die nachfolgenden Strophen aufgebaut
sind.
Die
erste Zeile erinnert an eine jüdische Immersionstaufe, jedoch nicht
im positiven Sinne, wie der passive und damit unfreiwillige Charakter
und die zweite Zeile verdeutlichen. Denn wir werden „mit dem Wasser
der Sintflut gewaschen“, und zumeist gilt die Sintflut in der
Geschichte als eine durch den Zorn eines Gottes ausgelöste
Säuberung, die ihren Ursprung im Fehlverhalten der Menschheit hat.
Der
biographische, bzw. der geschichtliche Hintergrund ist unverkennbar:
Hilde Domins Eltern zählten nicht zu
den orthodoxen Juden: Sie feierten weder jüdische Feste noch
jüdische Gebräuche, sondern hielten sich an das christliche
Weihnachts- und Osterfest. Erst in den Emigrationsjahren wurde Hilde
Domin das Schicksal des Judentums aufgezwungen, indem sie aufgrund
der „Minimaldefinition“ Hitlers zur (offiziellen) Jüdin gemacht
wurde und somit wie tausend andere an den schmerzhaften Erfahrungen
der Heimatlosigkeit teilnehmen musste. Hitlers Ziel bestand darin,
als eine Art Gott, die Welt zu säubern und systematisch von den
Juden zu befreien. Das Schuldigsein der jüdischen Bevölkerung
bestand in eben dieser Konfession. Dass dieses Schicksal nicht nur
äußere, sondern auch seelische Schäden verursachte, wird in den
Zeilen drei bis vier deutlich, in denen wir nicht nur bis auf die
Haut, sondern bis auf die Herzhaut durchnässt werden. Das Herz
bleibt jedoch als Innerstes unberührt, was zu zeigen scheint, dass
Hitler dem jüdischen Menschen nicht sein Selbst nehmen konnte, so
sehr die Situation auch die Seele zu belasten schien. Der Zustand des
Durchnässtseins wird hier noch lautmalerisch durch die Häufung der
Laute S und Z in „Wasser“, „durchnässt“ und „Herzhaut“
in den Zeilen zwei bis vier verstärkt.
In der
zweiten Strophe beschreibt das chorische Wir die Möglichkeit der
grausamen Situation durch Wünsche zu entfliehen, negiert diese aber
dann. Hierbei geht es zum einen um den „Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze“ (vgl. Z. 5-6), womit die Heimat
gemeint ist, und zum anderen um den Wunsch, den Blütenfrühling
halten zu wollen (vgl. Z. 10) und verschont zu bleiben (vgl. Z. 11).
Ein ewiger Blütenfrühling jedoch hätte zur Folge, dass die Zeit
still stehen würde, der Mensch würde nicht mehr altern und könnte
somit auch keine weitere Reifung erfahren. Keine Weiterentwicklung
würde ebenso durch das Verschontbleiben folgen, denn erst durch die
Auseinandersetzung mit Problemen und das Beschäftigen mit
Konflikten, kann der Mensch durch dessen Überwindung an Stärke
gewinnen und sich weiter entwickeln.
Die
Aussage der zweiten Strophe wird durch das zweimalige „taugt nicht“
(vgl. Z. 9 u. Z. 12) verstärkt. Auch die Tatsache, dass vor dem
zweiten „taugt nicht“ zwei Wünsche stehen, noch dazu in zwei
völlig parallel gebauten Sätzen, erzeugt eine Spannung und macht
schließlich die Nutzlosigkeit der beschriebenen Wünsche deutlich.
In der
dritten Strophe folgt nun endlich die Beschreibung dessen, was taugt,
nämlich die Bitte, „dass bei Sonnenaufgang die Taube den Zweig vom
Ölbaum bringe. Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei, dass noch
die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden.“ (vgl.
Z. 15-19). Wir sollen bitten, dass wir wie Noah auf seiner Arche
durch die Taube als Hoffnungsträger erfahren, dass es wieder Land
gibt, das nicht mehr von dem Wasser der Sintflut bedeckt ist. Wir
sollen bitten, dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei, die wir
zusammen mit dem Blütenfrühling aufgeben mussten, und dass noch die
am Boden liegenden Blätter der Rose, als Sinnbild für eine der
schönsten Blüten überhaupt, eine leuchtende Krone, also ein
Zeichen des Sieges bilden.
In der
vierten Strophe wird der Inhalt der Bitte fortgeführt. Das Bild der
Flut wird um die Bilder der Löwengrube und des feurigen Ofens
erweitert. Hierbei handelt es sich beide Male um Motive aus dem Alten
Testament.
In die
Löwengrube wurde Daniel wegen seines Glaubens geworfen, und wer das
Gesetz übertrat, sollte ein Opfer des feurigen Ofens werden. Eine
Rettung vor der Sintflut, der Löwengrube oder des feurigen Ofens
konnte nur durch Gott erfolgen, der die wahre Gerechtigkeit
kannte.
Demzufolge
lässt sich sagen, dass sich die Bitte an Gott, nicht unbedingt im
streng gläubigen Sinne, richtet. Nur im Glauben, der Hoffnung
schenken soll, kann die Stärke gefunden werden, „immer
unversehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen
zu werden“ (vgl. Z. 23-26). Das bedeutet, je stärker wir durch das
Bewältigen von Konfliktsituationen werden, desto leichter fällt es
uns auch, unser Innerstes, unser Herz, zu bewahren. Hier tritt wieder
das Motiv des Nichtverschontbleibens aus der zweiten Strophe auf. Nur
im Kampf mit den Problemen des Alltags und ihrer Überwindung, reift
der Mensch und gewinnt eine neue Qualität, mit der er stets aufs
Neue zu sich selbst entlassen werden wird.