Günter Kunert: Der verlorene Enkel
Ausführliche Interpretation
Inhaltsverzeichnis
1.) Basissatz. 1
2.) Inhaltsskizze. 1
3.) Hauptteil 1
4.) Haupteil: 3
5.) Schluss 5
1.)
Basissatz
Die Parabel „Der
verlorene Enkel“ von Günter Kunert handelt von den Folgen von unterschiedlichen
Lebensauffassungen zwischen den Generationen.
2.)
Inhaltsskizze
Von einem bäuerlichen
Eltern- und Großelternpaar wird die Rückkehr des Sohnes, bzw. Enkels intensiv
erwartet. Obwohl die alltäglichen Arbeiten routinemäßig verrichtet werden, ist
die Aufmerksamkeit der Daheimgebliebenen allein darauf ausgerichtet,
irgendwelche Anzeichen zu erspähen, die die reumütige Rückkunft des Ausreißers ankündigen.
Das jahrelange Warten hat weder das Spähen noch das Fantasieren, welche Strafmaßnahmen
sie dem nie zurückkehrenden Sohn, bzw. Enkel angedeihen lassen werden,
merklich abgeschwächt.
3.)
Hauptteil
Der Titel der Parabel -
in Anlehnung an das biblische Gleichnis „Der verlorene Sohn“ - lässt darauf
schließen, dass es sich um eine Variante des Heimkehrermotivs handelt.
Das ist in der Tat der
Fall, wobei ausschließlich von dem Standpunkt der Daheimgebliebenen aus
berichtet wird. Diese werden nicht als einzelne Individuen charakterisiert,
sondern mit dem Personalpronomen „sie“ (Z. 19) anonym gehalten und als eine
Gruppe zusammengefasst, was durch die Synekdoche „acht Augen“ (Z. 2) noch
unterstrichen wird. Eine Differenzierung findet lediglich auf der Ebene der
Rollenzuweisung innerhalb der Familie statt, wo dann von „Enkel“ (vgl. Titel),
„Vater, Mutter, Sohn und Schwiegertochter“ (Z. 1f), wie von „Großvater(…) (und)
Großmutter „ (Z. 14)“ die Rede ist.
Der Text gliedert sich auffallend
in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt charakterisiert die Erwartung und zwar
in doppelter Hinsicht. Zum einen wird die Art des Wartens besonders ausführlich
dargestellt, zum andern wird die fantasierte Szene theatralisch
heraufbeschworen, in welchem Zustand der junge Mann heimkehren wird.
Überraschend an dem
Warten ist, dass die Angehörigen dies mit einer übertriebenen, fast
bedrohlichen Intensität tun, indem sie angestrengt spähen, was durch die
bereits erwähnte Synekdoche, die vier Personen bestehen nur aus „acht Augen“
(Z. 2), oder die Charakterisierung des Sohnes als „menschliches Periskop“(Z.
10) zum Ausdruck kommt. Auch der Gehörsinn ist geschärft, lauscht (vgl. Z. 6)doch
der Vater dem leisesten „Trittgeräusch“ (Z. 7) hinterher, wie wenn er einen
Eindringling oder Einbrecher ertappen wolle. Dabei geht es um den „Moment“ der
Genugtuung, wenn, wie sie es fantasieren, der Sohn, bzw. Enkel reumütig
heimkehrt, weil er erkannt hat, dass nur der heimatliche Hof und die Familie
das einzig lebenswerte Umfeld für ihn sind. Übertrieben und ironisch wirkt die
wie eine kitschige Filmszene entworfene Rückkehr des Sohnes, bzw. Enkels, der
als ein Gestrandeter mit letzter Kraft in den heimischen Hof stolpert, „wankt“
(Z. 13) und unter „Tränen des Glücks“ (Z. 13) die „Heimaterde“ (Z. 14)küsst.
Auch im zweiten
Abschnitt der Parabel werden die Fantasien der Angehörigen ausgeleuchtet, die
sich diesmal auf ihre Reaktionen auf eine eventuell erfolgte Heimkehr beziehen.
Überraschend dabei ist, dass sie nicht freudig, sondern missgünstig und
sanktionierend reagieren, denn man muss „ein Exempel(…) statuieren“(Z. 17f). Die
Strafen sind zunächst übertrieben hoch, werden dann aber langsam gemildert, um
dann doch wieder erhöht zu werden. Durch die dreifache Wortwiederholung im
ersten Satz des zweiten Abschnitts („Worte um Worte“), „Abend um Abend“ , „bunter
und bunter“ (Vgl. Z. 16f))), der nach dem Doppelpunkt in dem „seit Jahren“ (Z.
17)gipfelt, wird deutlich, dass sich die Gedanken der Angehörigen gebetsmühlenartig
um nichts anderes drehen, als darum, wie sie ihren Groll an dem Heimkehrenden
auslassen können. Das Vergehen des Sohnes, bzw. Enkels besteht darin, dass er
„weglaufen wollte“(Z. 20), dass er seine Rolle im Rahmen der Großfamilie nicht
einnehmen wollte (vgl. Z. 21f) und sich mit den Verhältnissen „zwischen
Schweinen und Ziegen“ (Z. 22) zu leben nicht arrangieren konnte. Das
Unverständnis der Angehörigen zeigt sich darin, dass sie seine Motive als
Trotzreaktion abstempeln oder ihm „andere(..) niedrige(…) Bewegründe“ (Z. 23)
unterstellen.
Die beiden Abschnitte
sind sprachlich parallel aufgebaut, indem zunächst ein parataktischer Satz in
einem Doppelpunkt mündet, dem eine Apposition angeschlossen ist. Danach folgen
von Appositionen und Reihungen geprägte lange hypotaktische Sätze, die manchmal
auch Ellipsen aufweisen. Dieser Satzbau erinnert an hastig Gesprochenes oder
Gedankenfetzen, womit der Leser durch den personalen Erzählstil in die
Gedankenwelt der Protagonisten hineingenommen wir, hier also in die Fantasien
und Gedanken- und Gesprächsinhalte der Angehörigen (vgl. Z. 12 ff.; Z. 17-25).
Der erste Teil des
ersten Abschnitts (Z. 1 – 11) und der erste Satz des zweiten Abschnitts sind im
auktorialen Erzählstil gehalten, in dem der Überblick über die Jahre und deren
Wiederholungscharakter deutlich wird, was übrigens noch durch das historische
Präsens unterstrichen wird. Ebenfalls im auktorialen Erzählstil steht der
Schlusskommentar, der bescheinigt, dass „kein verlorener Enkel“(Z. 26) je
zurückkehren wird, was anhand der Kettenmetapher (vgl. 27f) veranschaulicht und
begründet wird.
4.)
Hauptteil
Vergleicht man diese
Parabel mit dem Gleichnis „Der verlorene Sohn“, so scheint sie sich modellhaft
daran anzulehnen, jedoch betrachtet aus der Perspektive der Daheimgebliebenen.
Wie im Gleichnis wird der In- die- Fremde – Gezogene erwartet und wie im
Gleichnis wird er als heruntergekommen und abgehärmt fantasiert, der die
heimatliche Erde schließlich als Glücksverheißung ansieht. Dieser Fährte folgt
der Leser, wenn auch etwas befremdet durch die etwas bedrohliche Atmosphäre,
die durch das allgegenwärtige Spähen heraufbeschworen wird. Doch spätestens im
zweiten Abschnitt findet die Ernüchterung und die Abweichung statt. Anstelle
von freundlicher und alles vergebender Gesinnung begegnet man hier der
missgünstigen Haltung der Familienmitglieder, die aus ihrem Groll heraus den
Heimkehrer mit harten Strafen bedenken würden. Bezogen auf das Gleichnis wäre dies
die menschliche Haltung des älteren Sohnes, der aus Eifersucht ebenfalls keine
Gnade walten lassen würde. Hier in der modernen Parabel wird also die göttliche
Ebene - eine liebende, vergebende, menschliche Gefühlsregungen übersteigende Instanz
- gar nicht erst in Betracht gezogen.
Es ist naheliegend, die
Sachebene der Parabel als Generationenkonflikt zu deuten, da ja bereits der
Titel durch die Nennung des Begriffs „Enkel“ mindestens drei Generationen
evoziert. Dass „verloren“ - gerade in Hinblick auf die Haltung der Familie –
auch im Sinne von „schwarzem Schaf“ gedeutet werden kann, verweist auf das
Konflikthafte zwischen den Generationen. Doch woher könnte das Motiv für den
Groll, den die Familienmitglieder dem Enkel/ dem Sohn gegenüber hegen, sein?
Zunächst scheint es die
Tatsache zu sein, dass er ohne ersichtlichen und nachvollziehbaren Grund,
einfach „aus purem Trotz und anderen niedrigen Beweggründen“ (Z. 22f), den Hof
verlassen hat. Während für die Angehörigen das Leben auf dem Hof, die
Gleichförmigkeit der Arbeit und die Weitergabe der Traditionen von Generation
zu Generation Sicherheit und Selbstbestätigung bedeutet – um die Metapher
aufzugreifen, wäre das für sie „das melodiöse Klirren“ (Z. 27)der Ketten - ,
können sie nicht im geringsten nachvollziehen, dass jemand andere Ambitionen
und Lebensentwürfe haben könnte. Zwar spielt das Schauen und Ausschauhalten bei
ihnen eine große Rolle, doch ist es kein offenes, sondern ein einengendes,
einfangendes Schauen, das eifersüchtig die eigenen engen Grenzen bewacht. Wenn
er wieder unter ihre Augen käme und sie „seiner habhaft geworden“ (Z. 26)
wären, dann wäre der Status quo wieder hergestellt, denn „darauf richtet sich
alles Interesse und alles Mühen“(Z. 25). Sie haben kein Interesse an Neuem oder
Andersartigem. Und genau darin liegt der Affront, dass der Sohn, bzw. Enkel sie
und ihre Lebensweise in Frage stellt, indem er beschlossen hat zu gehen und ein
Leben außerhalb dieser engen Grenzen zu führen. Er hat „das Gewicht der
Ketten“ (Z. 27), das durch die Erwartungen und Einschränkungen seitens der
Familie an ihm hing, von sich geworfen und ist nun frei.
Die Familienmitglieder
wollen und können ihn jedoch nicht gedanklich aus dem Familiensystem
entlassen, denn sie haben ihn fest in ihrer Generationenfolge eingeplant. Fehlt
er, so entsteht Unordnung und Unsicherheit in Bezug auf ihre eigene Rolle, was
ein weiterer Grund für ihren Groll ist. Aus ihrer Perspektive scheinen ihnen
ihre bereits angetretenen Rollen und Entwicklungsmöglichkeiten genommen: Der
Großvater wird wieder zum Vater, der Vater wieder zum Sohn. Sie erleben es als
Rückschritt. Und gerade dadurch, dass sich gedanklich alles um den „verlorenen“
Sohn oder Enkel dreht, vernachlässigen sie ihre eigentlichen Aufgaben und
lassen beispielsweise den Hof immer mehr verfallen (vgl. Z. 26), weil sie nur
dem „Anschein“ (Z. 5) nach arbeiten, statt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Erhalt
des Hofes zu widmen. Auch definieren sie sich nur über ihre Rollen innerhalb
der Familie, statt sich in irgendeiner Weise um Individualität zu bemühen.
Es ist mehr als
verständlich, dass der Sohn, bzw. Enkel dieses „Gewicht“ an Rollenerwartungen,
verbunden mit der Unmöglichkeit sich zu einem eigenständigen Individuum zu
entwickeln, abstreift und dass er im „Klirren“ der Ketten – unter diesen
Bedingungen – nichts „Melodiöses“ entdecken kann.
Psychologisch und auch
gesellschaftlich gesehen ist eine Ablösung von der älteren Generation dringend
notwendig. Kunert entwirft jedoch ein sehr pessimistisches Bild von der Haltung
der Daheimgebliebenen, die borniert und unflexibel jegliche Neuerung
verweigern. Gewiss ist dies eine Überzeichnung, die jedoch biographisch zu
deuten ist. Kunert war DDR-Bürger und spiegelt hier in „Der verlorenen Enkel“ die
Haltung der in der ehemaligen DDR Daheimgebliebenen wider, die denen, die in
den Westen geflohen sind, nur mit Unverständnis und Groll begegnen können.
5.)
Schluss
Zieht man Kafkas
Parabel „Die Heimkehr“ zum Vergleich heran, so fällt auf, dass es sich bei
Kunert um eine von den Angehörigen erwünschte Heimkehr, bei Kafka um eine
tatsächliche Heimkehr handelt.
Die geschilderte
Atmosphäre zwischen den Angehörigen und dem Heimkehrer wirken ähnlich
angespannt und bedrückend. Während die Angehörigen in Kunerts Parabel
feindselig und sanktionierend reagieren würden, sind es in Kafkas Parabel eher
die Gegenstände, die auf ein ablehnendes, bedrohliches Klima hinweisen. In
beiden Parabeln findet keine Begegnung statt, weil die „Heimkehrer“ eine
unüberbrückbare Distanz zu den anderen Familienmitgliedern fühlen, die daher
rührt, dass sie in Bezug auf ihre etwas andere Lebensführung nur auf
Unverständnis stoßen. Deshalb suchen sie auch von sich aus keine Annäherung:
der Enkel wird nie zurückkehren und der Sohn wird nicht die Türe öffnen. Sie
können ihre Sensibilität und Andersartigkeit nur durch diese Art von Abgrenzung
behaupten.
Während bei Kafka s
Parabel mehr die Verlorenheit des Individuums im Vordergrund steht, wirft Kunert
die Frage auf, welche Rolle das Individuum innerhalb eines Systems spielt und inwiefern
das ausscherende Individuum den das System und den Generationenvertrag ins
Wanken bringt.