„Glück
ist...“
Vor
mir auf dem Wohnzimmertischchen liegt der Bücherstapel, den ich
dieses Mal aus der Bibliothek habe mitgehen lassen. Eine Vielzahl an
Büchern, die ich zu lesen gedenke, aber schlussendlich wohl nicht
einmal anrühren werde. Mein Blick fällt auf eines der Bücher, ein
philosophisches Buch. Eigentlich kann ich mit Philosophie überhaupt
nichts anfangen. Wieso ich es mitgenommen habe? Keine Ahnung. Ich
glaube das Bild darauf hat mich einfach fasziniert. Eine komische
Menschenfigur mit Koffer, die blödsinnigerweise einem Marienkäfer
hinterherjagt. Der Titel des Buchs von Francois Lelord lautet
„Hecotrs Reise oder die Suche nach dem Glück“.
In
Gedanken durchstreife ich noch einmal die vielen Regale der
Bibliothek, lasse meinen Blick schweifen. Da gibt es die Rubrik für
Krimi-Freunde, die durch die Lektüre eines Buches einmal die Welt
eines Kriminalpolizisten erleben wollen, oder die Liebesromane für
all die Menschen, die ein erfülltes Leben lieber in Romanen suchen
als sich selber darum zu kümmern. Es gibt alte Bücher und neue
Bücher, gelbe, braune und bunte Bücher, Romane, Novellen, Krimis,
Thriller, Dramen, Gedichtbände, Kurzgeschichten, Fachliteratur,
Kinderbücher, Jugendbücher, Hörbücher und Lebensratgeber. Ich
bleibe bei letzterer stehen und blättere gedankenverloren durch
einige der Exponate, wobei ich mich insgeheim nach dem Sinn bzw.
Unsinn all dieser Ratgeber frage. Keiner der Autoren folgt doch nur
ansatzweise seinen eigenen Lebensweisheiten. Unzählige Bücher wie
„Hectors Reise“ reihen sich hier aneinander: „Glück ist...“,
„So finden Sie ihr persönliches Glück“, „eine Anleitung zum
richtigen Leben“. Gibt es denn keine Antwort auf die Frage nach dem
Glück, oder wieso sprießen die neuen Bücher unzähliger Autoren,
die sich mit dem Thema Glück beschäftigen en mass aus dem Boden?
Bei
der Rubrik „Philosophie“ stoße ich auf Sigmund Freud, der mir
den Zweck des Lebens als Streben nach Glück erklärt. Laut Freud
kann dieses Ziel positiv oder negativ sein. Das negative Ziel sei, so
Freud, das Fehlen von Schmerz; das positive Ziel das Erreichen des
höchsten Lustgefühls. Je nachdem was der Mensch anzustreben gedenke
verändere sich seine Haltung. Dieses Ziel, also das Glück, kann ich
aber laut Freud gar nicht erreichen, da es in der Schöpfung nicht
vorgesehen sei durchgehend glücklich zu sein. Das was wir als Glück
empfinden sei lediglich ein Moment, niemals jedoch ein
längerfristiger Zustand.
Ich
bin geplättet. Lieber Herr Freud, wollen Sie dem modernen Menschen,
der sich mit Ratgebern eindeckt und all den Zunder kauft, den es eben
zum Thema „Wie werde ich glücklich, die 10 Schritte zum wahren
Glück“ gibt, etwa sagen, dass er nicht dauerhaft glücklich werden
kann? Heißt das nun wirklich, dass unsere Suche niemals zu einem
fruchtbaren Ergebnis kommen wird? Das können Sie doch nicht ernst
meinen? Wieso suchen denn dann all die Menschen nach dem Glück, wenn
es nur Fiktivum ist?
Enttäuscht
stelle ich Freud zurück. Vielleicht ist die moderne Weisheit der
Freud´schen Theorie einfach nicht das, was der Wahrheit entspricht,
sondern lediglich die Resignation eines von der Welt enttäuschten
Philosophen und Psychoanalytikers, der sich zu sehr ins einen
Hirngespinsten verrannt hat. Naja, zumindest hoffen kann ich doch
noch. Wie wäre es mit Platon oder Sokrates, aha, Aristoteles. Was
sagen denn die alten Griechen zum Glück?
Aristoteles
beschreibt in seiner Schrift „Nikomachische Ethik“ das Glück als
das höchste Gut. Er bestätigt so in gewisser Weise die Thesen
Freunds bzw. bestätigt Freud wohl eher Aristoteles, da Freud einige
Generationen nach dem berühmten Griechen gelebt hat. Laut
Aristoteles strebe der Mensch nach dem Glück ohne andere
Intentionen. Das Glück sei ein Ziel, das keinem anderen Ziel
verpflichtet, sondern nur sich selbst und daher das vollkommene Ziel
schlechthin sei. Das Glück ist somit das Endziel. Mein Glück ist
das, was ich anstrebe und erst zuletzt erreichen werde.
„Mami,
was ist das?“, fragt neben mir ein kleines Mädchen mit Zöpfen
eine neben ihr stehende Frau, die einen Lottoschein in Händen hält.
„Das ist ein Lottoschein, meine Süße“, erklärt sie. „Wenn
wir die richtigen Zahlen ankreuzen und dann gaaaaaaanz viel Glück
haben, gewinnen wir viel Geld.“ „Mama, was ist Glück“, fragt
die Kleine weiter. Sichtlich angestrengt denkt die Frau nach. „Das
ist eine gute Frage, Lotta. Lass mich mal überlegen. Glück ist,
wenn dir etwas tolles passiert, das du nicht beeinflussen kannst.
Wenn du zum Beispiel zufällig auf der Straße einen Fünf-Euroschein
findest, das ist Glück.“
Dieses
Glück ist aber nicht dasselbe Glück das Freud oder Aristoteles
beschreiben haben, denke ich. Es muss also mehrere Formen von Glück
geben. Zum einen das Glück, das Lotta den fünf Euro finden lässt,
und zum anderen das Gefühl glücklich zu sein. Ersteres ist eher ein
Mittel, das dem Menschen etwas beschafft, das er nicht erwartet
hätte, und Letzteres ist ein Zustand des vollkommenen Glücks, des
Gefühls, das auch Aristoteles beschreibt. Das Glück als Mittel ist
ein Zufallserlebnis. Es ist nicht bewusst beeinflussbar. Dieses Glück
erfahren wir, wenn wir sechs aus 49 Richtige haben und dann den
großen Gewinn einstreichen oder beim Roulette auf die richtige Zahl
setzen. Es ist ein punktuelles Glück, das jedoch zeitlich sehr
begrenzt ist.
Was
der Mensch jedoch anzustreben gedenkt ist nicht das momentane Glück,
sondern das endzeitliche Glücksgefühl, denke ich und widerspreche
insgeheim der jungen Frau mit dem Kind. Glück liegt also auch im
Auge des Betrachters. Während ich weiter durch die Reihen streife
komme ich an die Abzweigung zwischen Technik- und Romanrubrik.
Technik, hat das eigentlich auch etwas mit Glück zu tun? - Aber
klar! Die Technik ist auch ein Berufszweig und ein Beruf, der Spaß
macht, der kann auch glücklich machen. Wer Spaß an seiner Arbeit
hat, wer mit seiner Arbeit anderen Menschen helfen kann oder etwas
erschafft, das persönliche Befriedigung erzeugt, der ist glücklich.
Auf St. Louis, einer kleinen Insel in Amerika, lebt zum Beispiel ein
Muscheltaucher, der jeden Tag mit seinen Freunden aufs Meer
hinausfährt, um nach großen Muscheln zu tauchen, die er
anschließend auf dem Markt verkauft. Er wird „Sea Soldier“
genannt, da er der einzige ist, der bei jedem Wetter auf die offene
See hinaus fährt und sich von nichts und niemandem, nicht einmal dem
Wetter, von seiner Arbeit abhalten lässt. Für ihn ist das Gefühl
unter Wasser die höchste Erfüllung. Es ist sein Leben. Und dann
gibt es da noch die Kindergärtnerin in Arnach, die es liebt mit den
Kindern etwas beizubringen oder Mensch-ärgere-dich-nicht mit ihrnen
zu spielen. Sie findet ihre Erfüllung, indem sie der Folgegeneration
etwas mitgibt und ihr hilft auf eigenen Beinen zu stehen. Oder nehmen
wir den Professor für Mathematik, dem nichts mehr Freude bereitet
als abstrakt-mathematische Probleme zu bearbeiten und zu lösen.
Jeder dieser Menschen ist zufrieden und glücklich. Dabei sind jedoch
alle drei Personen auf ihre eigene Art glücklich. Die
Kindergärtnerin hätte vermutlich nicht so viel Freude an der
Mathematik und der Professor kann wahrscheinlich mit dem Tauchen
nicht viel anfangen. Es ist also immer auch subjektiv, was „Glück
ist...“.
Ich
blicke mich um und schaue in die Augen der Menschen. Manche scheinen
zufrieden zu sein, andere schauen abwesend in ihre Bücher und ein
älterer Mann mit Bart schein traurig zu sein. Was ist wohl passiert?
Wieso ist er so unglücklich? Hat er seine Arbeitsstelle verloren
oder ist vielleicht seine Frau verstorben?
Glück
findet sich nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten Umfeld.
Viele Menschen finden in ihrem privaten Glück die absolute
Erfüllung. Sei es in einer harmonischen Partnerschaft oder einer
Familie. Aber auch Single-Menschen können privates Glück erfahren.
Der Kabarettist und Sachbuchautor beschreibt das private Glück ganz
allgemein als die Freude, die wir in Gemeinschaft empfinden. Freunde
kennen uns wie unsere Westentasche, können uns in schwierigen
Situationen wieder auf die Beine stellen oder uns den rechten Weg
weisen, wenn wir die Orientierung verloren haben. Wichtig ist aber
auch sich nicht von anderen abhängig zu machen, erklärt von
Hirschhausen. Wer nur auf den „doofen Prinz auf dem weißen Roß“
wartet, der verpasse das Glück. Das aktive Handeln ist der Ausgang
des Menschen aus seinem selbstverschuldeten Unglücklichsein.
Der
Mann läuft weiter und, so schwer mir es fällt dies einzugestehen,
ich fühle mich glücklicher bei seinem Anblick. Nicht, dass jemand
mich falsch versteht: Sein Unglück macht mich nicht glücklicher.
Auf keinen Fall! Was mich glücklicher macht ist eher der Vergleich
von meinem derzeitigen Gefühl mit dem des Mannes. Er ist unglücklich
und verglichen mit ihm bin ich nicht unglücklich. Ich bin glücklich!
- oder zumindest bin ich glücklicher als er. Wir können also
festhalten: Was uns glücklich macht ist der Vergleich. Glück kommt
durch den Unterschied von Glück und Unglück. Es kann keiner einen
dauerhaften Glückszustand empfinden, da etwas dauerhaftes nicht
registiert wird. Es ist einfach da. Durch den Vergleich mit anderen
oder einem vorhergegangenen Zustand, wird die Differenz errechnet und
der Zustand von Glück und Unglück erfahrbar. Ein Kind, das in
Afrika in Armut lebt ist nicht weniger glücklich als ein in
Wohlstand lebendes Kind in Europa. Beide kennen nur den jeweiligen
Zustand, da all die Kinder ihres Umfeldes
den gleichen Zustand genießen. Vertauschen wir jedoch die
Positionen, so sieht es ganz anders aus. Das arme Kind in Europa ist
unglücklich und wünscht sich den Wohlstand der anderen Kinder. Das
wohlhabende Kind in Afrika ist glücklich über den Wohlstand, doch
ist es nun nicht mehr wie die anderen Kinder und lebt vermutlich in
der Stadt, wo es wieder unter Gleichgesinnten aufwächst.
But,
es ist nicht nur das Glück im Vergleich zu anderen, das uns das
eigene Glück empfinden lässt. Es ist auch die Endlichkeit dieser
Momente. Erinnern wir uns an „Sea Soldier“. Er empfindet unter
Wasser seine höchste Glückseligkeit. Da er jedoch kein Fisch,
sondern ein Landwirbeltier ist, benötigt er als solcher O2 und muss
an Land kommen. Er schwelgt also nicht dauerhaft in diesem
Glückszustand. Würde dieser jedoch dauerhaft anhalten, so könnte
„Sea Soldier“ nicht mehr sagen wann er glücklich und wann er
nicht so glücklich ist. Glück benörigt also den Kontrast.
Nachdenklich komme ich
aus meinen Gedanken zurück in die Realität des Wohnzimmers. Noch
immer halte ich „Hectors Reise“ in meinen Händen. Worum geht es
in diesem Buch den eigentlich? Wie sucht denn Hector sein Glück? Ich
glaube in den nächsten Stunden will ich Hector begleiten, denn
vielleicht weiß er ja mehr was „Glück ist...“. Ich weiß nur,
dass Glück bestimmt kein rosarotes Marzipanschwein in Plastiktütchen
ist, das sich beim Drogeriemarkt Müller für weniger als einen Euro
zu kaufen gibt. Das Glück ist...