„Glückliche Fahrt“ von Goethe &
„Reisende“ von Uljana Wolf
Gedichtvergleich
Das Gedicht „Glückliche Fahrt“ wurde 1795 von Johann
Wolfgang von Goethe verfasst und handelt von einer Reise des lyrischen Ichs
über das weite Meer sowie die Überwindung einer bedrückenden Situation.
Im Gegensatz dazu wurde „Reisende“ von Uljana Wolf im
Jahr 2006, knapp zweihundert Jahre später, geschrieben, doch auch in diesem
Gedicht geht es um das Reisen, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang.
Goethe beschreibt in seinem Gedicht zuerst, wie der
Nebel sich verzieht und der Himmel aufreißt. Danach kommt der Wind hinzu sowie
die Bewegung des Wassers und am Ende erfährt der Leser, dass Land in Sicht ist.
Es wird klar deutlich, dass es sich um eine Schifffahrt handelt, bei dem das
lyrische Ich eine Entwicklung durchlebt. Anders ist es bei „Reisende“, wo der
Leser viel Interpretationsfreiraum hat was den Inhalt betrifft, da es kein
direktes lyrisches Ich gibt, sondern Uljana Wolf nur einziges Mal das Wort
„wir“ (v.1) verwendet. Eine Möglichkeit wäre den Inhalt des Gedichts als den
Weg des Lebens zu verstehen, welches in dem Gedicht durch sehr viele Bilder
dargestellt wird. Goethes Gedicht besteht aus einer
Strophe mit zehn Versen, wohingegen Uljana Wolfs Gedicht aus vier Strophen
besteht, wobei die erste Strophe drei Verse besitzt und die restlichen drei
Verse jeweils lediglich zwei Verse besitzen.
Goethes lyrisches Ich steht am Bug eines Segelschiffs, beide schauen hoffnungsvoll zum Horizont ihrer glücklichen Reise.
Auch bei den Reimen finden sich Unterschiede. Gibt es
in „Glückliche Fahrt“ wenigstens noch einen unregelmäßigen Reim, bei dem sich
beispielsweise die Verse „helle“ (v.2) und „Welle“ (v.8) reimen, enthält
„Reisende keinen einzigen Reim. Der unregelmäßige Reim vermittelt eine gewisse
Freiheit, die das lyrische Ich bei seiner Fahrt über das Meer empfindet, als
auch die Freiheit vom strengen Regelwerk der Lyrik, die vor allem die Epoche
des Sturm und Drangs prägte.
Die Kadenz in Goethes Gedicht ist bis auf die Verse
vier und zehn weiblich, diese Regelmäßigkeit drückt eine Art von Sicherheit
aus, da das lyrische Ich bereits eine Unsicherheit überwunden hat.
Der Rhythmus in diesem Gedicht ist an die Situation
angepasst. Zu Beginn ist dieser gleichmäßig, als sich der Nebel löst, während
er dann schneller wird und es dem Leser die Aufregung des lyrischen Ichs
vermittelt wird, wie beispielsweise in Vers sieben mit der Wiederholung der
Worte „Geschwind! Geschwinde!“. Anschließend wird der Rhythmus wieder
gleichmäßiger und ruhiger, sobald das Land in Sicht ist, dem Leser wird Erleichterung
vermittelt.
In „Reisende“ ist kein Metrum vorzufinden, was jedoch
eine gewisse Harmonie bewirkt und zeigt, dass es keine Normen und Regeln gibt,
was auch zu der Postmoderne passt, in welcher dieses Gedicht verfasst wurde.
Ebenfalls auffällig ist, dass in Uljana Wolfs Gedicht
keine Interpunktion vorhanden ist. Dementsprechend verwendet die Autorin weder
Punkt noch Komma, was eine gewisse Pausenlosigkeit und Ziellosigkeit zum
Ausdruckt bringt. Enjambements wie „wir erfinden uns zwischen den Bahnhöfen“
(v. 2 und v.3) verdeutlichen zu dem den Eindruck dieser Pausen- und
Ziellosigkeit.
Man weiß nicht, wohin man möchte und was einem alles
auf seiner Reise durch das Leben begegnet, diese Ahnungslosigkeit wird durch
die Kleinschreibung der Wörter im gesamten Gedicht dargestellt.
Weitere sprachliche Aspekte, die die Gestaltung des
Motives der Reise in Goethes Gedicht unterstreichen, sind zum einen der
Parallelismus „Es teilt sich die Welle, Es naht sich die Ferne;“( v.8 und v.9).
Durch diesen Parallelismus kommt etwas Schwung und Geschwindigkeit in das Werk
Goethes und verdeutlicht zudem noch die Aufregung des lyrischen Ichs endlich das
Ziel, das Land zu sehen, vor Augen zu haben. Auch die Ausrufe „Geschwind!
Geschwinde!“ (v.7) und „Schon seh ich das Land!“ (v.10) lassen den Leser
spüren, wie erleichtert und erfreut das lyrische Ich ist, nachdem es das Gefühl
des Unwohlseins vom Anfang überwunden hat.
In Vers drei wird Äolus, der Herrscher der Winde der
griechischen Mythologie erwähnt, welcher das ängstliche Band löst (vgl. v. 3).
Die Personifikation „ängstliche Band“ (v. 4) verdeutlicht das gebunden sein an
etwas, in diesem Fall das gebunden sein an die Launen der Natur, die auch die
Angst des lyrischen Ichs vor einem Unwetter hervorhebt.
Goethe verwendet zudem viele Verben der Stille wie
beispielsweise „säuseln“ (v. 5) und „rührt“ (v.6), die dem Leser deutlich
machen, dass die bedrückende Situation überstanden ist, der Nebel sich auflöst
und der Himmel heller wird (vgl. v.1ff.).
Im Gegensatz dazu verwendet Uljana Wolf in ihrem
Gedicht Verben der Bewegung wie „fortklopfen“ in Vers acht, die die
Ziellosigkeit und die Pausenlosigkeit, welche der Leser empfindet,
verdeutlichen.
Das Erfinden zwischen den Bahnhöfen (vgl. v.1ff.)
erinnert an Selbstfindung und Identitätsbildung, wenn die Bahnhöfe in Uljanas
Gedicht Stationen im Leben eines Menschen symbolisieren sollen. „Schotter und
Halme“ (v.5f.) sind Dinge, die den Weg des Reisenden beschwerlich machen. Sie
symbolisieren Hindernisse, die der Mensch auf seinem Weg nach oben überwinden
muss, wenn er sich selbst finden möchte.
Das Symbol „Weichen“ (v.6) steht sinnbildlich für
Stellen, an welchen der Weg des Menschen sich gabelt und es zwei Möglichkeit
gibt seinen Weg fortzuführen. Wenn man nun jedoch genauer drüber nachdenkt,
stellt man fest, dass die Weichen nicht vom Schaffner, der den Zug fährt,
gestellt werden sondern von anderem Personal. Jedoch beeinflusst man indirekt
die Stellung der Weichen mit seiner Destination, so stellt man diese Weiche
also nicht persönlich, sondern beeinflusst sie indirekt durch sein Handeln und
Denken.
So kann es also auch vorkommen, dass der Mensch in
gewissem Maße in eine bestimmte Richtung, eventuell sogar gegen seinen Willen,
gesteuert wird, dies wird durch das Symbol „geschiente Küsse“ (v.7) belegt. Die
Gesellschaft hat eine feste Vorstellung von Dingen wie beispielsweise Küssen,
die wie Schienen verankert sind und sich nicht ohne weiteres lösen oder lockern
lassen.
Das Symbol „fortklopfen der züge“ (v.8f.) lässt sich
mit dem immer andauernden Klopfen des menschlichen Herzens gleichsetzen und
verdeutlicht, dass das Leben immer weitergeht und nicht stoppt, auch wenn man
vielleicht einen Bahnhof erreicht hat, an dem man gerne für immer bleiben
würde.
Ellipsen wie „an den weichen geschiente küsse“ (v.6f.)
oder „gegen das fortklopfen der züge“ (v.8f.) lassen auf eine gewisse
Unsicherheit des lyrischen Ichs schließen und, dass es nicht sicher weiß,
welche Entscheidungen im Leben zu treffen sind.
In Goethes Gedicht wirkt die Reise durch die erwähnten
Stilmittel sehr aufregend, fröhlich und frei, wohingegen Uljana Wolfs Werte
eine gewisse Unendlichkeit, Ruhe und auch Abenteuerlust vermitteln, da man im
Leben nie still steht und das Herzklopfen bis zum Tod nicht verstummen wird.
„Glückliche Fahrt“ folgt auf ein zweites Gedicht,
welches Goethe „Meeres Stille“ nannte und in weiteren Veröffentlichungen immer
mit „Glückliche Fahrt“ gedruckt wurde.
Grund dafür ist ein Erlebnis Goethes während seiner
Italienreise 1786 bis 1788, bei der der Dichter von Neapel nah Sizilien mit dem
Schiff aufgebrochen war, doch auf der Reise eine schreckliche Angst vor einem
Schiffbruch erlebte, die sich zum Glück nicht bewahrheitete. Zuzuordnen wäre
dieses Gedicht aufgrund seiner vielen Naturbeschreibungen und seiner
unregelmäßigen Form in die Epoche des Sturm und Drangs, die eigentlich nur bis
circa 1785 anhielt, doch da die Übergänge der verschiedenen Epochen fließend
verlaufen, lässt es sich diese Einordnung nicht mit absoluter Sicherheit
treffen.
Schon von der Zeit, in welcher die beiden Gedichte
verfasst wurden, unterscheiden sich diese um Welten. Die Schriftstellerin wurde
am im April 1979 in Berlin geboren und studierte an der Humboldt- Universität
zu Berlin Germanistik und Kulturwissenschaft. Ihr Gedicht verfasste sie 2006,
in der Epoche der Postmoderne. Im selben Jahr wurde sie auch als jüngste
Autorin mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, da es ihr laut Jury gelinge,
in wenigen Strichen die Existenz ihrer Erlebniswelt traumhaft sicher in
sprachliche Miniaturen zu fassen. So kann man zusammenfassend feststellen, dass
beide Dichter das Motiv der Reise auf ihre Art und Weise in Worte gefasst
haben, auch wenn Uljana Wolfs Werk deutlich mehr Freiraum für Interpretationen,
aufgrund seiner schlichten Art, lässt.