Gedichtinterpretation
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Johann
Wolfgang Goethe: Wanderers Nachtlied ll (Ein Gleiches – 1780/1815)
Die
Naturlyrik
ist eine Sammelbezeichnung für alle Formen der Lyrik, in der die
Natur als zentraler Gegenstand der Dichtung erscheint. Die Natur wird
als Gegenwelt und Rückzugsort zur fehlerhaft empfundenen Realität
verherrlicht.
Das Gedicht Wanderers
Nachtlied ll. von Johann Wolfgang Goethe, auch bekannt als ein
Gleiches, ist der zweite Teil des Gedichts Wanderers Nachtlied und
stammt aus der Epoche Sturm und Drang. Geschrieben wurde es 1780,
aber von Goethe selbst erst 1815 veröffentlicht. Goethe schrieb
dieses Gedicht mit Blick auf Kickelhahn
und die Gegend an die Wand einer Jagdhütte und befasste sich mit der
in der Natur herrschenden Nachtruhe und Harmonie.
Das Gedicht vermittelt
den Eindruck eines lyrischen Ich’s, dass innerlich von Ruhe erfüllt
ist und diese eigene Ruhe auch in der Natur erfühlt. Eine gewisse
Harmonie wird verspürt, aber auch Einsamkeit. Der Begriffe Ruhe (in
Vers 8) verweist auf den Tod, der aber nicht bedrohlich wirkt, eher
wie eine Erlösung.
Der Mann sitzt nachdenklich auf der Veranda einer Waldhütte unter dem Sternenhimmel.
In dem Gedicht handelt
es um einen Wanderer, was wir am Titel erkennen können, der den
Moment der Stille in der Natur wahrnimmt. Er beobachtet die Natur,
mit Ausblick auf Gipfel (Vers 1), Wipfel (Vers 3), Walde und Vögelein
(Vers 6). Das lyrische Ich muss eine Sicht von oben haben den er
benutzt Bezeichnungen wie Gipfel und Wipfeln. Die jeweils einmal die
Spitze eines Berges (Gipfel) und die Spitze eines Baumes (Wipfel)
bezeichnen. Der Begriff Wipfel deutet auch, dass er auf einen Baum
bzw. mehrere Bäume die Sicht hat, was er (in Vers 6) verdeutlicht
durch den Begriff Walde. Durch die beschriebene Umgebung kann man
sich sicher sein, dass er einen Moment in der Natur beschreibt. Man
kann erkennen das er im Verlauf des Gedichtes von der weiten Ferne
(Gipfel) immer näher und niedriger (über Wipfel und Vögelchen) zum
Menschen kommt. Durch
den Titel erhalten wir die Information das es sich um die Nacht
handelt, welche sich deckt mit der im Gedicht beschriebenen Ruhe.
Mit der Ansprache „du“
in Vers 4, fühlt sich der Leser sehr vertraut, direkt angesprochen,
sodass er sich in die Situation einfühlen kann und obwohl der Leser
nie an dem beschriebenen Ort war, kann er es sich lebhafter
vorstellen. Die Situation des lyrischen Ichs wird persönlicher und
greifbarer. Dies wird auch bestätigt in Bezug auf die menschlichen
Sinne, dem Fühlen (Vers 4,5). Das lyrische Ich erspürt kaum einen
Hauch. Komplette Stille wird nicht nur in Gedanken aufgenommen,
sondern auch körperlich.
Die Natur hat sich zur
Nachtruhe niedergelassen. Das lyrische Ich geht auch auf die
Waldbewohner ein. „Die
Vögelein schweigen im Walde.“ (Vers 6). Normalerweise stehen Vögel
für lautes Gezwitscher und lebendiges Umherfliegen, aber zu diesem
Zeitpunkt sind auch sie verstummt. Die Prognose des lyrische Ichs
„Warte nur, balde/ Ruhest du auch.“ (Vers 7,8) nimmt Bezug auf
die verstummten Vögel in Vers 6. Dies kann auf verschiedene Weisen
interpretiert werden. Einmal kann damit gemeint sein das der Leser
und oder das lyrische Ich es der Natur gleichmachen und sich zur
Nachtruhe begeben. Hier wieder ein Bezug zum Titel „Wanderers
Nachtlied ll.) Aber die Ruhe steht nicht nur für Nachtruhe, sondern
auch für die ewige Ruhe, die durch den Tod herbeigeführt wird.
Beide dieser möglichen Interpretationen befassen aber das
Natürliche. Es wird von einer friedlichen Nachtruhe gesprochen, die
wir, wenn wir aufpassen jeden Abend beobachten können, ein
alltägliches Phänomen. Die Kulisse in der Natur wurde bewusst
ausgewählt. Die Natur ist ein Ort der Erholung und der Gegenwurf zur
hektischen Großstadt, zudem war Goethe bekannter weise ebenfalls ein
Wanderer und eng mit der Natur verbunden. So sind wahrscheinlich
seine Erfahrungen des Abends in dieses Gedicht miteingeflossen.
In der auf den Menschen bezogenen Vers 7 und 8, wird er in die Natur
eingebunden und mit ihr eng in Verbindung gebracht. Der Mensch selbst
ist ein Teil der Natur und findet irgendwann in die Ruhe, die er in
der Natur beobachtet, zurück. Dies kann die Verbundenheit mit der
Natur bedeuten, aber auch der Tod, den wir aber nicht fürchten
müssen.
Wenden wir uns der
sprachlichen Entfaltung Goethes zu. In dem Satzteil steht eine
bestimmte Form der Ruhe geschrieben. Angefangen mit „ist Ruh“
(Vers 2), weiter mit „Spürest du/ Kaum einen“ (Vers 4,5) hinüber
zu „schweigen“ (Vers 6), „wartest du“ (Vers 7), „Ruhest
auch du“ (Vers 8). Jede dieser Wörter umschreibt einen anderen
Zustand von Ruhe. Mit Hilfe von „spürest du“ erkennt man das es
sich um ein lyrisches Ich handelt, dass die Szene beobachtet und
verleiht ihm Perspektive. Der Schlusssatz enthält einen Appell. Eine
Aufforderung, dass das was diesem Ausdruck folgt, wichtig ist und
sich in Zukunft ereignet. In
dem „Warte“ spricht das lyrische Ich sich selbst an, aber auch
den Leser. Das „nur“ im selben Vers verstärkt den Sinn des
Wortest und legt das Augenmerk darauf. Die wichtigste Aussage dieses
Satzes ist aber das „balde / Ruhest du auch.“. Das „auch“
gehört zu dem „du“ und bindet den Satz „Ruhest du“ an das
zuvor Gesagte.
Wie die
gesamte Natur ruht bald auch das lyrische Ich und der Mensch. Die
Sätze sind sehr kurz gehalten und alle Sätze mit Ausnahme des
Dritten könnten in der allgemein üblichen Sprache in der gleichen
Weise gesprochen und auch geschriebenen werden. Dies unterstreicht
die Schlichtheit der Sprache. In dem Gedicht wird allgemein sehr
sachlich berichtet. Der ermüdete Wanderer (lyrisches Ich) beschreibt
fast emotionslos das Geschehen in der Natur, dabei verschmelzen
Emotionen und die Landschaft zu einem. Nur in Vers 4 wird es etwas
subjektiver und in Vers 7 kann eine Sehnsucht der Ruhe erahnt werden.
Wie der Satzbau ist auch die Wortwahl sehr einfach. Goethe hat keine
abstrakten Wörter benutzt und auch Metaphern und Vergleiche sind
hier nicht zu finden. Dennoch wirkt das Gedicht im Ganzen symbolhaft
für die Ruhe der Natur. Nirgendwo im Gedicht sind schmückende
Adjektive als Attribute zu finden. Das „Aller“ in Vers 1 und 3
wird als Verstärkung der Gesamtheit aller Bäume und aller Berge
genommen, eine Interversion. Goethe hat sich in der Wortwahl sehr
beschränkt und reduzierte sie nur aufs Wesentliche. Für
ausschmückende Wörter hat er keinen Platz gelassen.
Die ersten Hälfte der
Gedichtes enthält einen Kreuzreim (abab) der zweite Abschnitt
enthält einen umarmenden Reim (cddc). Die Kadenz der jeweils letzten
Worte des Verses sind abwechselnd männlich und weiblich, angefangen
mit männlich. Der erste Satz des Gedichtes sind die ersten zwei
Verse. Der zweite Satz reicht von Vers 3 bis Ende Vers 5 und Vers 6
bis 8 bilden den letzten Satz. Durch das Reimen von Vers 1 und 3, 2
und 4 werden die Sätze 1 und 2 inhaltlich verbunden. Dadurch das der
zweite Satz über den Kreuzreim hinaus in den umarmenden Reim reicht,
wird der Inhalt nicht nur sprachlich rhythmisch, sondern auch
inhaltlich miteinander verknüpft. Infolge des starken Enjambements
am Ende von Vers 3 und Vers 4 ist der Rhythmus der Verse 3 bis 5
belebter als in den beiden Versen zuvor. Vom Reim her endet der erste
Satz im Leeren. Am Ende von Vers 5 liegt rhythmisch wie nach Vers 2
ein Einschnitt. Für einen Augenblick hält der Leser in seiner
Betrachtung inne: es folgt eine neue Beobachtung. Die längere Pause
wird durch ein Strichkomma sichtbar. Vers 6 folgt ohne eine
rhythmische Bindung zu Vers 5. Vers 5 fällt außerdem durch seine
herausstechende Länge auf, wodurch auch der Inhalt hervor gehoben
wird. In Vers 8 findet sich erst die Antwort auf den Reim von Vers 5.
Mit dem verzögerten Reimschluss findet das Gedicht seinen Schluss.
Alles wirkt ungezwungen, scheint natürlich und meidet das
Unnatürliche und Gekünstelte. Die Ruhe in den Versen geht vor allem
von den Pausen und vom Wechsel des Rhythmus aus. Längere Pausen
liegen nach den Versen 2, 3, 4, 5 und 6. Die Verse 1 und 2 sind durch
ein Enjambement eng miteinander verbunden. Auch die Satzzeichen
kennzeichnen die Länge der Pausen. Am Ende von Vers 2 steht ein
Komma darum ist die Pause kürzer, als die nach Vers 5.
Am Anfang habe ich
eine Interpretationshypothese aufgestellt die im Kurzen beinhaltet,
dass das Gedicht eine Ruhe, Harmonie, aber auch den Tod in einer
nicht bedrohlichen weise aufgreift. Diese Hypothese hat sich teils
bestätigt. Zwar kann das Gedicht wie vorher beschrieben auf zwei
verschiedene Art und Weisen interpretiert werden, dennoch werden
jeweils beide Gedanken aufgegriffen. Der Tod in seinem natürlichen
Vorkommen als Bestandteil des natürlichen Kreislaufs und auch die
Harmonie beziehungsweise die Ruhe durch den Abend und die Nachtruhe
ausgelöst. Die Ruhe der Nacht als Phänomen das jede Nacht
beobachtet werden kann und die auch Goethe vermutlich beobachtet hat.
Bei weiterer Recherche hast sich der Gedanke der Ruhe durch den Tod
nicht verworfen, denn die Vögel schweigen hier was einen fast schon
befremdlichen Eindruck macht untypisch. Dies Bestätigt den Gedanken
und somit die Vorahnung der „ewigen Ruhe“, also dem Tod. Die
Harmonie und Ruhe verspürt der Leser vor allem in den Versen 1 bis
4.
Als ich das Gedicht
das erste Mal gelesen habe war ich nicht sicher was für ein Thema es
aufgreift. Ich musste mich allgemein mit dem Gedanken der Naturlyrik
einfinden. Erst nach mehreren malen aufmerksamen Lesens bin ich der
Thematik nähergekommen und selber auf den Gedanken der Ruhe
gekommen. Was mir allerdings schon beim ersten Mal lesen aufgefallen
ist, ist die Todesahnung, den kurz vor dieser Stelle hat das Gedicht
seinen Höhepunkt und nimmt eine leichte Wendung vom zuvor erfühlten
harmonischen und ruhigen zur Todesahnung, die aber immer noch etwas
ruhiges und Harmonisches in sich hat dadurch das sie nicht bedrohlich
wirkt. Nach
der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Gedicht habe ich immer
mehr Gefallen daran genommen, vor allem an der Schlichtheit der
Sprache und der stark empfundenen ruhigen Stimmung. Vor allem gefällt
mir der Gedanke eines ruhigen und natürlichen Todes, der der
Nachtruhe ähnelt.