Lyrikanalyse:
Zum Einschlafen zu sagen
Das Gedicht „Zum Einschlafen zu
sagen“, das 1900 von Marie Rilke im Buch der Bilder veröffentlich
worden ist, ist der Epoche der Romantik zuzuordnen, obwohl es nicht
zur Romantik-üblichen Zeit verfasst worden ist. Obwohl es etwa 60
Jahre nach dem Beenden der Romantik erschaffen worden ist, enthält
es eine Vielzahl von Motiven, die ausschließlich auf die Romantik
deuten lassen und sich deutlich von der Moderne und auch Vorreiter
der Romantik abgrenzen.
Rilke
blendet mit Hilfe des romantischen Motives des subjektiven Idealismus
(der Mensch ist Schöpfer des Seins) die Außenwelt aus und
konzentriert die gesamte Aufmerksamkeit auf das Leben des lyrischen
Ichs und dessen Liebe. Das lyrische Ich ist auf der Suche nach der
blauen Blume, wie Novalis es nennt. Er sehnt sich nach Liebe und wird
sich währenddessen auch der Zeit Vergänglichkeit bewusst. Das
lyrische Ich begreift darüber hinaus, dass Zeit und Liebe
zusammenhängen – vergehende Zeit kann Grund für ein Leben ohne
Ehepartner sein.
Im
Folgenden soll das Gedicht auf inhaltliche und sprachlich
stilistische Aspekte untersucht und gedeutet werden.1
Der Titel, „zum Einschlafen zu
sagen“, nimmt bereits einen großen Teil des Inhalts des Gedichts
vorweg. Das Motiv des Schlafes wird binnen der ersten sechs Verse
behandelt, in dem das lyrische Ich sich an eine außenstehen, dritte
Person richtet. Zusammengefasst kann man sagen, dass das lyrische Ich
nach einem Menschen sucht mit dem es die Nacht verbringen kann. Dazu
gehört für das lyrische ich das „[...] [E]insingen [...]“
(V.1), sowie auch das „[...] Wiegen [...]“ (V.3) dieser Person.
Darüber hinaus sehnt sich das lyrische Ich nach einer Person, die
voll und ganz ihm gehört, wie man in V. 5-6 sehen kann: „Ich
möchte der einzige sein im Haus der wüßte: die Nacht war
kalt.“.
Ab Vers 9
konzentriert sich das lyrische Ich weniger mehr auf die Liebe an
sich, sondern auf die Vergänglichkeit der Zeit und dessen
Auswirkungen auf die Liebe. Das lyrische Ich sieht „[...] der Zeit
auf den Grund.“ (V.10). Hierbei nimmt das Wort Grund eine simultane
Bedeutung wie der Grund des Wassers an. Ist das Wasser tief, so ist
der Grund sichtbar. Deshalb spricht hier das lyrische Ich, dass es
schon den Grund der Zeit sehen kann und die Zeit immer weiter
schwindet. In Vers 11-12 beobachtet sie einen Mann, der einen fremden
Hund stört. Ab Vers 14 adressiert das lyrische Ich seine Botschaft
plötzlich an das lyrische du: „Ich habe groß die Augen auf dich
gelegt;“. In Vers 15 erzählt das lyrische Ich, dass es das
lyrische Du beobachtet und wie die Verbindung des Blickes jener
Beiden unterbrochen wird.2
Wie bereits erwähnt wird in dem
Gedicht der Prozess der Liebesfindung aufgezeigt. Es geschieht anhand
des lyrischen Ich, dass sich stark nach einem Partner sehnt. Das
lyrische Ich zeigt in den ersten sechs Versen genau auf wonach es
sich sehnt. Die Aspekte, die das lyrische Ich aufzählt sind schlicht
und ergreifend alltägliche Bestandteile einer Liebesbeziehung, wie
z.B das Ausleben seiner eigenen Persönlichkeit. Die kann anhand Vers
2 erkannt werden: „Ich möchte [...] bei Jemanden sitzen und sein“.
Das lyrische Ich möchte so „sein“, wie es tatsächlich im
Inneren ist. Man kann mit Hilfe des Zitates auch sehen, dass es sich
in einer solchen Liebensbeziehung nach einem guten Verhältnis sehnt
bei dem man mit seinem Partner beisammensitzen kann und eventuell
Zeit verbringt. Im ersten Blick scheint dies abstrus, weil es normal
erscheint, allerdings sollte man bedenken, dass Menschen mit denen
man friedlich zusammensitzt und seine Zeit verbringen kann keineswegs
selbstverständlich sind und dies eben ein fehlender Aspekt in des
lyrischen Ichs Leben ist. Zusätzlich ist es auch der gemeinsame
Schlaf, der dem lyrischen Ich fehlt (vgl. V.4). Ob nur die Komponente
des Schlafes gemeint ist oder ob dem lyrischen Ich auch tatsächlich
auch die körperliche Komponente der Liebesbeziehung fehlt, bleibt
hierbei unklar. Man könnte hierbei allerdings noch zusätzlich
anbringen, dass „Schlaf“ ein enorm wichtiges Motiv der Romantik
ist. Einerseits kann man „Schlaf“ dem Motiv der Nacht zuordnen,
andererseits kann man es auch dem Motiv der Abkehr von der Tagewelt
zuordnen. Ein weiteres Thema, das in dem Gedicht behandelt wird ist
die Vergänglichkeit der Zeit. Diese wird am Besten in V. 9-10
erkenntlich gemacht: „Die Uhren rufen sich schlagend an, und man
sieht der Zeit auf den Grund.“. Bis kurz vor jene Stelle im
Gedicht, redet das lyrische Ich ausschließlich über Liebe. Das
plötzliche Reden über die Zeit, könnte also damit verstanden
werden, dass Liebe durch Zeit begrenzt wird. In V. 9-10 sieht man,
dass die Uhren bereits schlagen. Zu welchem Anlass die Uhren schlagen
bleibt in diesem Kontext offen; man könnte es im Kontext so
interpretieren, dass die Uhren erklingen, da es ab jetzt nicht mehr
viel Zeit für das Finden eines Partners bleibt. Vers 10 wurde diese
Interpretation unterstützten, dass man bereits den Grund der Zeit
erblicken kann, so dass nicht mehr viel Zeit übrigbleibt. Diese
Verbindung von Zeit und Liebe wird ab V. 11 deutlich: es tritt
plötzlich ein fremder Mann auf, der scheinbar das Interesse des
lyrischen Ichs weckt. Andernfalls wäre eine Erwähnung dieses
Fremden überflüssig gewesen. Es wird gezeigt, dass der Hund sich
durch den Fremden gestört fühlt (vgl. V.12), weshalb man vermutet,
dass dieser bellt. Nach Kurzem weitgehen des Mannes hört auch der
Hund auf zu bellen. Hierbei kann eine Parallele vom Bellen des Hundes
hin zum Finden der Liebe gefunden werden. So lange der Mann des
Hundes Revier passiert, kann dieser bellen. Aber auch nur so lange
der Mann das Revier des lyrischen Ichs passiert, bzw. in dessen
Reichweite ist, hat das lyrische Ich die Möglichkeit zum Aufbauen
des neuen Kontakts. Wartet das lyrische Ich zu lange, so schwindet
die Möglichkeit für das lyrische Ich, genauso wie das Bellen des
Hundes. Diese Parallele ist nicht nur eine reine Spekulation, sondern
wird auch als Schlussstrich im Gedicht aufgezeigt: „Dahinter wird
Stille. [...] „die Augen [...] lassen dich los“ (V.15). Man sieht
hier, dass sobald der Mann das Revier des Hundes passiert hat, der
Hund sein Bellen einstellt. Aber auch die Augen des lyrischen Ich
lassen den fremden Mann los, da dieser sich bereits entfernt hat.
Dass das lyrische Ich Interesse an diesem Mann hatte bleibt außer
Frage. Die kann deutlich erkannt werden, weil noch in V.11 das
lyrische Ich in der dritten Person von einem „fremden Mann“
spricht. In V.14 allerdings, spricht das lyrische Ich den fremden
Mann schon in Form des lyrischen Du an. Dieser Wandel muss Grund für
eine Charakterveränderung des lyrischen Ichs sein. Das Interesse an
dem „fremden Mann“ könnte man auch so deuten, dass das lyrische
Ich den Mann, obwohl dieser ein Fremder ist, „duzt“. „Duzen“
ist eine Art der Konversation, die man erst in innigeren Beziehungen
verwendet.
Es wurden
während des Hauptteils bereits immer wieder Motive der Romantik
genannt. Der Vollständigkeit halber gilt es deshalb noch den
subjektiven Idealismus zu nennen, dem besondere Aufmerksamkeit zu
kommt. Der subjektive Idealismus macht sich mit den Worten „Ich
möchte“ (V.1, 3, 5) bemerkbar. Das lyrische Ich soll Schöpfer
seines Selbst sein.3
Weiterhin kann man vom Gedicht auf
die Lebensumstände und eventuell das Geschlecht des lyrischen Ichs
schließen. Das lyrische Ich lebt ein vermutlich tristes Leben. Das
Gedicht beherbergt hauptsächlich negative Worte bzw. negative
Handlugen, wie z.B: „kalt“ (V.6), „fremd“ (V.11, 12),
„loslassen“ (V.15), „Dunkel“ (V.16), etc. Da das lyrische Ich
bereits bei der Partnerfindung das Lebensalter im Kopf hat und ihr
die Vergänglichkeit der Zeit bewusst wird, kann man definitiv von
einer älterlichen Person. Über das Geschlecht des lyrischen Ich
kann nur anhand einiger Aspekte spekuliert werden. Es könnte sein,
dass es sich um ein weibliches Geschlecht handelt, da z.B die Rede
von einem fremden Mann ist. Selbstverständlich wäre Homosexualität
auch möglich, sodass es sich wieder um einen Mann handelt,
allerdings scheint eine Heterosexualität zuerst wahrscheinlicher.
Ein weiteres, dennoch etwas primitives Argument, dass es sich bei dem
lyrischen Ich um eine Frau handelt, ist, dass sie diesen „Jemanden
einsingen“ (V.1) möchte. Man könnte deshalb eventuell vermuten,
dass es eher ein weibliches Geschlecht wäre, die ihren Partner in
den Schlaf einsingt, als andersrum. Wie gesagt handelt es sich
hierbei lediglich um Vermutungen und um keine Aussagen.4
Ein weiterer Punkt, der zu
behandeln ist, ist es, dass in dem Gedicht vermehrt
Sinneswahrnehmungen verdeutlicht werden oder direkte Handlungen, die
aus den Sinneswahrnehmungen resultieren. So ist z.B von Singen 2-mal
die Rede (V.1, 3). Auch wird über den Hörsinn berichtet: „horchen“
(V. 7), „Stille“ (V.13). Der Sehsinn wird in V.10 und V.14
angesprochen: „sieht“, „Augen“.5
Nun soll weiterhin das Gedicht auf
sprachlich stilistische Aspekte untersucht werden.
Besonders auffallend ist das
äußerst freie Schema des Gedichts. Das Gedicht beinhaltet keine
feste Einteilung von Strophen. Stattdessen werden die 16 Verse aus
dem das Gedicht besteht ohne Absatz aneinandergereiht. Auch die
Anzahl der Wörter pro Vers beinhaltet kein Muster, so existieren
Verse mit 4 Wörtern (V.1), aber auch Verse mit 8 Wörtern (V.10,
15). Auch beim Versmaß kann man keine Regelmäßigkeiten erkennen.
Es existieren zwar teilweise Daktylus-ähnliche Passagen (vgl. z.B
V.2), allerdings sind diese an einer Hand abzählbar, weshalb man
deshalb nicht von einem Gedicht im Daktylus reden kann, sondern von
einer freien Form. Die selbe freie Form ist auch in den Kadenzen
sichtbar. Es existieren weibliche, sowie auch männliche Kadenzen.
Die männlichen Kadenzen überwiegen mit 11 Versen die weiblichen,
die nur 5-mal zu finden sind, allerdings lässt sich dennoch auch
hier kein festes Muster erkennen. Das einzige feste Muster im Bereich
der Reime ist, dass es sich hierbei um Kreuzreime handelt. Doch auch
die Qualität der Reime ist in keinem erkenntlichen Muster
angeordnet. So ist beispielweiße der Kreuzreim von V.6 auf V.8 ein
reiner Kreuzreim, der Kreuzreim von V.1 auf V.3 allerdings nur
identisch. Eine mögliche Antwort auf diese völlig freie, formale
Form ist: Das lyrische Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen
aufgrund der Sorge ein alleiniges Leben zu führen, dass durch den
Druck der vergehenden Zeit erhöht wird. Daher kann sich das lyrische
Ich nicht konzentrieren an einer regelmäßigen Form im Gedicht
festzuhalten.
Zum Aufbau
lässt sich abschließend noch sagen, dass das Gedicht fast
durchgängig in Parataxen geschrieben ist. Dies ist eine weitere
Begründung meiner These weshalb das lyrische Ich in einer freien
Form schreibt: Das lyrische Ich kann keinen klaren Gedanken mehr
fassen hochkomplizierte Sätze zu formulieren und beruht sich
stattdessen lieber auf kurze und einfache Parataxen, wie z.B in
V13-14.6
Es wurde bereits angedeutet, dass
in dem Gedicht vermehrt Passagen auftreten, die Sinneswahrnehmungen
behandeln. Folglich existieren auch in der Wortwahl dementsprechende
Muster. Es fällt deshalb auf, dass viele Verben mit Sehen oder Hören
zu tun haben, wie z.B „einsingen“ (V.1), „horchen“ (V.7),
„rufen“ (V.9), „sieht“ (V.10), etc.
Darüber
hinaus fallen Worte die im Bezug zu dem Nachtmotiv stehen auf.
Hierfür stellvertretend wären Worte, wie: „Nacht“ (V.6), „Wald“
(V.8), „Dunkel“ (V.16) zu nennen. Das Wort „Wald“ wurde zu
den Motiven der Nacht gezählt, da es in den Tiefen des Waldes dunkel
ist.
Wie bereits schon
in der inhaltlichen Analyse gezeigt worden ist beinhaltet das Gedicht
viele Wörter, die ein negativen Zustand ausdrücken. Dazu gehören
Wörter, wie z.B: „Dunkel“ (V.16), „fremd“ (V.11, 12), etc.
Diese Worte werden hier verwendet, da diese gute den Gefühlszustand
des lyrischen Ichs ausdrücken.
Nun wird abschließend noch auf
die Stilmittel eingegangen.
Schon
in V.1 bis in V.5 reichend fällt der Parallelismus auf, dem eine
enorm wichtige Rolle schon zu Beginn des Gedichts zukommt. Der
wiederholte Satzbau, der stets mit den Worten „Ich möchte“
beginnt legt somit einen besonderen Fokus auf den subjektiven
Idealismus, von dem schon im inhaltlichen Teil die Rede war.
Nicht
weniger wichtig und sehr auffallend ist die Anapher in V.8: „[...]
in dich, in die Welt, in den Wald.“.
Eine
wichtige Rolle im Gedicht kommt V.9 und 10 zu. Ab diesen Versen
behandelt das Gedicht erstmals das Thema der Zeit. Um diese
Wichtigkeit auszudrücken sind hier auf engen Raum (2 Verse) auch 2
enorm wichtige Stilfiguren hinterlegt. Auf der einen Seite lässt
sich eine Personifikation ausfindig machen: „Die Uhren rufen [...]“
(V.9). Auf der anderen Seite erkennt man eine Metapher: „[...] man
sieht der Zeit auf den Grund.” (V.10). Mit Hilfe dieser Metapher
wird auf eine einfache Art und Weise verdeutlicht, dass die Zeit
nicht noch so lang und ausreichend ist, wie sie scheint zu sein.
Zuletzt gilt es noch
die Synästhesie in V.14f. zu erwähnen: „[...] die Augen [...]
halten [...] und lassen [...] los“. 7
In der Einleitung schon habe ich
aufgezeigt, dass ein Liebesleben maßgeblich durch die Zeit
beeinflusst wird. Man könnte Liebe auch durch einen im Bahnhof
haltenden Zug metaphorisieren. Hält der Zug im Bahnhof, so können
wir ohne Probleme diesen erwischen und mit ihm fahren. Verpassen wir
ihn allerdings, gibt es kein zurück und wir müssen hoffen, dass ein
weiterer Zug dieselbe Strecke fahren wird. Analog zur Liebe bedeutet
das also, dass wenn wir die potentiellen Partner vor uns haben und
die Chance ergreifen, dass Liebe entstehen kann. Verpasst man
allerdings den Moment und der potentielle Partner verschwindet, so
„ist der Zug abgefahren.“
Man könnte dies auch als Problem
unserer heutigen Gesellschaft und Grund für den demografischen
Wandel nennen. Durch die völlig falsche Ansicht in unserer
Gesellschaft, dass jeder studieren muss, um ein glückliches Leben
zuführen verpassen wir viele potentielle Partner, weil wir bis ins
späte Alter mit unserer Ausbildung beschäftigt sind anstatt mit dem
Finden der richtigen Liebe. Dieses andauernde Abwarten kann zwar
später sich in Form durch eine gute Arbeit aufgrund des
abgeschlossenen Studiums deutlich machen, aber auch durch ein
unglückliches Leben aufgrund von fehlender Liebe im Leben.