Werner Bergengruen – Die heile Welt
Gedichtanalyse / Interpretation
Einleitung
„Nach Auschwitz ein
Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ (Adorno) Diesen berühmten Satz sagt
Adorno in Bezug auf die Frage, inwiefern es eine Lyrik geben sollte nach dem
zweiten Weltkrieg. Laut Adorno würde Lyrik die Grausamkeit des zweiten
Weltkrieges und des Holocausts beschwichtigen und durch künstlerische Elemente
überspielen. Dennoch hat sich eine eigene Gattung nach dem Krieg entwickelt:
die Nachkriegslyrik. Dazu gehört z.B. die Trümmerlyrik. Auch das Gedicht „Die
heile Welt“ von Werner Bergengruen gehört der Gattung der Nachkriegslyrik an,
da es im Jahre 1950 geschrieben wurde und die Gefühle der Menschen nach dem
zweiten Weltkrieg in der späten Nachkriegszeit behandelt. Inwiefern das
Gedicht von Werner Bergengruen den Kriterien Adornos widerspricht oder
entspricht, wird im weiteren Verlauf dieser Analyse erläutert.
(Inhaltsangabe) In
der ersten Strophe sagt Bergengruen aus, dass das Herz unverwundbar sei. Danach
sagt er aus, dass nur die Schale geritzt werden könne. In der dritten Strophe
heißt es, dass es eine Art ständig dauernden Wechsel zwischen Frucht und Blüte,
zwischen Vogelzug nach Süd und Nord gebe. Danach heißt es, dass es keine
Veränderung an natürlichen Gegebenheiten gebe. In der letzten Strophe sagt
Bergengruen, dass es Neues gebe.
Analyse Form
Auf den ersten Blick
erkennt man eine eindeutige Gedichtsstruktur, da das Gedicht in fünf Strophen
mit je 4 Versen eingeteilt ist. Auch den Kreuzreim kann man sofort erkennen.
Das Metrum in diesem Gedicht ist ein vierhebiger Jambus mit wechselnden
Kadenzen.
Daher ist dies eine
eindeutig klassische Gedichtform, die keiner expliziten Gattung angehört.
Aufgebaut ist das Gedicht
wie eine Art zeitlicher Verlauf, beginnend mit Andeutungen auf den zweiten
Weltkrieg und endend mit einem Ausblick in die Zukunft. Die Strophen sind daher
nach Sinn zusammengestellt. Die erste Strophe behandelt eine Art
Unverwundbarkeit, die zweite Strophe eine Zugehörigkeit, die Dritte eine
Wiederholung, die Vierte eine Vorausbestimmtheit und die letzte Strophe einen
Zukunftsausblick.
Bergengruen arbeitet
mit sehr vielen metaphorischen Bildern. „Das Blut [kann nicht] vom Herzen“ (Z.
2) spritzen, es ist das Organ des Menschen, welches für die Blutweiterleitung
zuständig ist. Die Welt hat zwar eine Schale, doch kann man diese nicht mit der
Schale einer Frucht vergleichen, daher ist der Vergleich in Zeile drei und vier
nicht ganz nachvollziehbar, da die „Schale der Welt“ der äußersten
Erdummantelung entspricht, welche mit Tälern und Bergen übersäht ist und daher
ein „Ritzen“ einen mehrere Kilometer tiefen Einschnitt bedeuten würde. Mit den
„Ringen“ (Z. 5) ist anscheinend ebenfalls die Erde gemeint, die Erdschichten
kann man auch als Ringe betrachten, dessen „Kern“ (Z. 6) er ebenfalls
anspricht. Felsen können laut Zeile 13 wachsen, in Wirklichkeit wachsen Felsen
nur durch das Auftragen neuer Schichten und nicht wie ein organischer Prozess.
Daher verwendet Bergengruen auffällig viele Metaphern. In Strophe 3 beginnen
zusätzlich zwei nicht aufeinander folgende Verse mit dem Wort „Ewig“ (Z.9 &
11).
Bergengruen bedient
sich in seiner Wortwahl sehr an romantischen Wörtern und verwendet keine
Fachwörter.
Analyse
Inhalt
Der Inhalt des
Gedichts lässt den Leser eine träumerische Atmosphäre erahnen, eine Art
Gedankenwelt. Die Wortwahl unterstützt dieses. Das lyrische Ich ist in diesem
Fall nicht eindeutig zu erkennen, jedoch wird der Leser in Zeile eins, acht, 15
und 20 direkt angesprochen. Auffällig ist, dass das lyrische Ich nie von sich
selbst spricht sondern immer nur von vollendeten Tatsachen, die allerdings
nicht unbedingt belegbar sind.
Der Titel des
Gedichts beschreibt in diesem Fall auch genau den Inhalt des Gedichts,
Bergengruen spricht stets von einer „heilen Welt“ in seinem Gedicht.
Die Metaphern dieses
Gedichts muss man allerdings kritisch hinterfragen, da selbst nach Ausdeutung
der Metapher kein reeller Sinnzusammenhang erkennbar ist. Die Schale der Welt
ist nicht verwundbar, da die oberste Schicht ganz natürlich aus Rissen, Kluften
und Bergen besteht. Der Kern im Innern besteht aus einer glühenden Masse
geschmolzenen Gesteins, diese Tatsache ist durchaus bestätigt. Der Vogelzug und
der Frucht-Blüte-Zyklus sind ebenfalls belegt. Fraglich ist, was mit einer
ewigen strengen Güte gemeint ist. Felsen können nicht im organischen Sinne
wachsen, Ströme können nicht gleiten, sie fließen. Der Tau kann nicht
unverletzt fallen, da Tau aus kondensiertem Wasser besteht und Wasser keine
Verletzungsmöglichkeit bietet. Welche Rast und Wanderbahn gesetzt ist, bleibe
ebenfalls offen. Wolken können ebenfalls nicht glühen, sie können durch das
Sonnenlicht angestrahlt hell schimmern und dadurch den Effekt erwirken, dass
sie glühen würden. Nie erblickte Sterne gibt es ebenfalls, doch was mit der
süßen Labung gemeint ist, bleibt ebenfalls offen.
Betrachtet man dieses
Gedicht allerdings einmal nicht in Bezug auf die Erde als Objekt, sondern denkt
sich die Erde als Symbol für die Menschen, so kann man einige weitaus
deutlichere Schlüsse ziehen. Dass man den Menschen und seine Gefühle durch
naturgegebene Objekte beschreibt, war zu dieser Zeit durchaus üblich, da eine
Sprachskepsis durch den zweiten Weltkrieg und die Propaganda entstanden war. Die
Schale des Menschen ist in diesem Fall das äußere Erscheinen und Verhalten der
Menschen, der Kern die inneren Gefühle. Doch alleine diese Vorstellung ist
aberwitzig und nicht korrekt. Die Menschen mögen zwar nach dem zweiten Weltkrieg
äußerlich ihre körperlichen und/oder seelischen Narben gezeigt haben, jedoch
sind diese Wunden im Inneren der Menschen auch vorhanden, da durch den zweiten
Weltkrieg viele Menschen Freunde und Verwandte verloren haben und dadurch
innerlich einen seelischen Schaden erlitten haben. Auch wenn man nicht direkt
betroffen war, hat man das Leid trotzdem erfahren und wurde durch die
allgemeine Situation des Krieges tief verwundet. Werner Bergengruen
widerspricht diesem aber, da er aussagt, dass nur die äußere Situation den
Krieg wiederspiegelt. Diese Aussage ist aber vollkommen falsch, da das innere
Leid der Menschen damals viel größer war als sie nach außen gezeigt hatten.
In den Anspielungen
auf den Zyklus in der dritten Strophe wird auch nicht ganz deutlich, ob
Bergengruen den Wiederaufbau der Menschen und des Landes meint oder ob er auf
eine Wiederkehr eines Krieges plädiert. In der vierten Strophe spielt
Bergengruen auf Naturphänomene an, die unaufhörlich stattfinden. Fraglich ist
jedoch ob der Autor mit dem dritten und vierten Vers der Strophe auf eine Art
Vorherbestimmung anspielen will. In der letzten Strophe macht Bergengruen einen
Ausblick in die Zukunft. Fraglich ist, was er mit den neuen Wolken meint.
Wolken stehen im Allgemeinen für eine Trübung des Himmels, eine Art Vorboten
für schlechtes Wetter, denn aus Wolken kann es regnen. Sieht Bergengruen in der
Zukunft also weitere dunkle Zeiten der Geschichte? Mit den neuen Gipfeln meint
der Autor anscheinend die verschiedenen Fronten nach dem zweiten Weltkrieg.
Deutschland steht ohne Regierung und Führung da und die Siegermächte streiten
sich vor allem um Territoriales. Mit den nie erblickten Sternen könnte
Bergengruen neue Horizonte meinen, neue Blickweisen, neue Perspektiven.
Back to the
roots & Schluss
Doch ist so ein
Gedicht wirklich angebracht nach dem Krieg? Sicherlich spielt Bergengruen in
seinem Gedicht auch auf die negativen Aspekte an, jedoch verpackt er sie in
sehr kunstvolle Worte und so erscheint das Gedicht auf den ersten Blick wie
eine Art Hoffnungsillustration. Laut Adorno müsse jegliche Lyrik nach dem Krieg
ohne Kunst sein. Doch Bergengruens Gedicht ist genau das Gegenteil. Es enthält
alle Merkmale des Gedichts, viele Symbole und Metaphern, jeglicher Vers muss
erst ausgedeutet werden. Ist Bergengruens Gedicht nach Adorno also barbarisch?
Obwohl Bergengruen am Ende zwar auf einen evtl. entstehenden Konflikt hinweist,
sagt er am Anfang des Gedichts aus, dass der Krieg die Menschen innerlich nicht
verwundet hätte. Diese Aussage ist beinahe eine Verleumdung der Gräueltaten des
Krieges. Daher würde Adorno diesem Gedicht harte Kritik entgegensetzen und
würde nicht mit seinen Aussagen konform sein. Auch Paul Celan, der ebenfalls
Lyrik verfasst hat, wäre skeptisch, solche Tatsachen in so kunstvolle Worte zu
packen und sogar den Krieg zu verharmlosen. Daher ist dieses Gedicht nicht als
gutes Beispiel für Nachkriegslyrik anzusehen.