Der Kuss im Traume - Karoline von
Günderrode
Gedichtanalyse
Das vorliegende Gedicht „Der
Kuss im Traume“ wurde 1802 von Karoline von Günderrode geschrieben. Es behandelt
die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der Erfüllung seines Traumes, die aber nicht
erreichbar ist. Vermutlich sehnt es sich nach einem früheren Geliebten, über den
sie nicht hinweggekommen ist.
Das Gedicht ist ein Sonett,
es besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten. Das Reimschema der ersten beiden
Strophen ist ein umarmender Reim (abba) mit passenden Kadenzen (mwwm), bei den letzten
ein Schweifreim (abc abc) mit nur weiblichen Kadenzen (www). Das Metrum ist ein
5-hebiger Jambus. Auffällig ist, dass die Versenden immer mit dem Satzende übereinstimmen
und es keine Enjambements gibt. Außerdem sind es hauptsächlich Aussagesätze, abgesehen
von zwei eingeschobenen Ausrufen (V.3: „Komm, Dunkelheit!“, V.12: „Drum birg dich
Aug' dem Glanze ird'scher Sonnen!“).
Das Gedicht lässt sich in zwei
größere Inhaltsabschnitte unterteilen, die mit dem formalen Aufbau übereinstimmen.
Während es im ersten (V.1-8) um einen Traum geht, behandeln die anderen Strophen
das böse Erwachen in die Realität. Am Anfang (V.1-4) erzählt das lyrische Ich von
einem Kusserlebnis in seinem Traum. Seine Liebesbedürfnisse wurden gestillt (vgl.
V.2) und es sehnt sich nach einer weiteren solchen Erfahrung (V.3f.).
Anschließend erklärt es, das
es dies nur im Traum erfahren (V.5f.) und deswegen nur noch die Freuden der Nacht
wahrnehmen kann (V.6f.). Im letzten Teil erzählt das lyrische Ich zunächst von einer
Art 'bösem Erwachen'; es kann sich am Tag nicht mehr erfreuen, sondern empfindet
nur Schmerzen (vgl. V.9-11). Als Lösung sieht es die Flucht in die Nacht (V.13),
denn nur sie kann es retten (V.12f.).
Zu Beginn des Gedichts scheint
das lyrische Ich positiv zu denken. Es erzählt von einem positiven Erlebnis, das
seine Sehnsucht nach Liebe erfüllt hat. Um die Bedeutung dieses „Kusses“ (V.1) zu
verdeutlichen, wird er personifiziert, denn er hat ihm „Leben eingehaucht“ (V.1)
und ihr Verlangen „gestillt“ (V.2). Das Bedürfnis des lyrischen Ichs nach Liebe
scheint somit befriedigt, doch es hofft auf noch mehr. Darum fordert es die „Dunkelheit“
(V.3: „Komm, Dunkelheit!“) auf, es wieder das Erlebnis erfahren zu lassen. Durch
diese Apostrophe und Personifikation wird die Bedeutung der Dunkelheit bzw. Nacht
deutlich, denn ohne sie ist es lyrischen Ich nicht möglich, seine Sehnsüchte zu
stillen.
In der zweiten Strophe wird
offenbart, dass sich das Leben des lyrischen Ichs nur noch um diese Träume dreht.
Sie haben es für kurze Zeit glücklich und lebendig gemacht (vgl. V.5), deswegen
sind sie sein einziger Grund weiterzuleben. Diese Verbindung von Traum und Leben
wird durch einen Chiasmus (V.5: „In Träume…Leben eingetaucht“, V.6: „Drum leb ich,
ewig Träume…“) verdeutlicht. Außerdem wird der Kontrast Tag und Nacht aufgezeigt;
nur die Nacht, deren Wichtigkeit erneut durch eine Personifikation (V.8: „…die Nacht
so süßen Balsam haucht“) betont wird, kann das lyrische Ich fröhlich machen, doch
deswegen ist es ihm nicht möglich, irgendwelche anderen Freunden des Lebens wahrzunehmen
(V.7: „Kann aller andern Freuden Glanz verachten“). Das lyrische Ich lebt nur noch
für die Träume, die sein Verlangen stillen können. Dieses Verhalten erscheint bereits
krankhaft, das lyrische Ich scheint keinen Bezug mehr zur Realität zu haben und
vernachlässigt sein wirkliches Leben vollständig.
Mit der dritten Strophe wird
deutlich, wie schlimm das lyrische Ich den Tag empfindet. Er scheint nichts Gutes
mit sich zu bringen (V.9: „Tag ist karg an liebesüßen Wonnen“), stattdessen „schmerzt“
(V.10) das Licht und die „Gluten“ (V.11) der Sonne es. Der Tag bringt somit nur
Schmerz und negative Erfahrungen. Die Lösung des lyrischen Ichs ist die Flucht in
die Nacht; man kann dem Tag nur entkommen (vgl. V.12), indem man sich der Nacht,
der Dunkelheit hingibt (vgl. V.13). Dabei wird die Nacht erneut personifiziert,
sie „stillt das Verlangen“ (V.13) und „heilt den Schmerz“ (V.14).
Man könnte diese Flucht in
die Nacht auch nach dem Wunsch eines Todes verstehen. Der Leser wird aufgefordert,
vor der irdischen Sonne zu flüchten (V.12), von der Erde zu gehen und sich in die
Nacht und den Fluss der Vergessenheit (vgl. V.14: „Lethes kühle Fluten“) zu begeben.
Somit wird die schlimme psychische Situation des lyrischen Ichs, wie anfangs schon
vermutet, deutlich. Es hat sich so stark in seiner Traumwelt und Sehnsucht verfangen,
dass es als einzigen Ausweg den Tod sieht. Der Titel „Der Kuss im Traume“ passt
insoweit dazu, da er betont, dass alles irreal ist.
Der Inhalt des Gedichts lässt
sich gut auf das wirkliche Leben der Autorin, Karoline von Günderode, beziehen.
Obwohl sie nur schwer Beziehungen knüpfen konnte, versuchte sie zwei Mal, eine feste
Bindung einzugehen, die jedoch beide scheiterten. Dies verstärkte die sowieso schon
weltfremde und träumerische Frau in ihrer Sehnsucht und Verzweiflung, da sie nicht
so sein und leben konnte, wie sie es gerne wollte. Sie träumte ewig von einer glücklichen
Beziehung, einer Loslösung der damaligen Konventionen, doch konnte es nie erreichen.
Sie beendete ihr Leben mit 26 Jahren selbst durch einen Dolch. Daher kann man davon
ausgehen, dass mit dem lyrischen Ich sie selbst gemeint ist.