Gedichtinterpretation
"Das
Mädchen" (von
Joseph von Eichendorff)
Stand
ein Mädchen an dem Fenster,
Da
es draußen Morgen war,
Kämmte
sich die langen Haare,
Wusch
sich ihre Äuglein klar.
Sangen
Vöglein aller Arten,
Sonnenschein
spielt' vor dem Haus,
Draußen
überm schönen Garten
Flogen
Wolken weit hinaus.
Und
sie dehnt' sich in den Morgen,
Als
ob sie noch schläfrig sei,
Ach,
sie war so voller Sorgen,
Flocht
ihr Haar und sang dabei:
„Wie
ein Vöglein hell und reine,
Ziehet
draußen muntre Lieb,
Lockt
hinaus zum Sonnenscheine,
Ach,
wer da zu Hause blieb‘!“
------------------------------------------------------------
Das
Gedicht "Das Mädchen" von Joseph von Eichendorff aus dem
Jahr 1815 thematisiert das starke Fernweh und den Wunsch nach
Freiheit um die Welt zu erkunden eines Mädchens, das am frühen
Morgen am Fenster steht, in den Garten blickt und anfängt ein Lied
zu singen. Diese Sehnsuchtsthematik charakterisiert deutlich die
Literaturepoche der Romantik. Enttäuscht vom Vernunftglauben der
Aufklärung wendet man sich wieder dem Gefühl und dem Verborgenem
zu.
Das
Gedicht besteht aus vier Strophen, welche jeweils aus vier Versen
zusammengesetzt sind. Nicht nur die einzelnen Verse sind in diese
klare Struktur eingebunden, sondern auf inhaltlicher Ebene auch das
Mädchen selbst. Ihr Alltag weist einen strikten und vorgegebenen
Ablauf auf, den ein Mädchen zu dieser Zeit verfolgen musste. Das
gewählte Metrum des Autors, der vierhebige Jambus, bewirkt durch
seine einheitliche Form eine gewisse Liedhaftigkeit sowie eine
dynamisierende und antreibende Wirkung. Außerdem erinnert dieser
Rhythmus an ein typisches Volks-, beziehungsweise Wanderlied, welches
das Fernweh des jungen Mädchens verdeutlicht und ebenfalls das
typische Motiv der Romantik bildet. Durch das angewandte Reimschema,
den Kreuzreim, wird die innere Zerrissenheit des Mädchens verstärkt
ausgedrückt. Einerseits hat es den Drang und die Sehnsucht, die Welt
zu erkunden und die Freiheit zu spüren, andererseits ist es Zuhause
"eingesperrt", da man, wie schon erwähnt, auf die
damaligen Verhältnisse bezogen, als Frau im Haushalt seine Pflichten
zu erfüllen hatte und im eigenen Willen eingeschränkt war. Auch die
sich regelmäßig abwechselnde Kadenz von weiblich auf männlich
betont diese Sehnsucht und spielt möglicherweise auch auf das damals
bevorzugte männliche Geschlecht, folglich also den Wunsch der Frauen
nach Gleichberechtigung an.
Betrachtet
man zu Beginn die Überschrift "Das Mädchen", so fällt
auf, dass diese sehr einfach gehalten wurde, was somit auch die
Einfachheit und den eintönigen Alltag des Mädchens, also ihre
kleinbürgerliche Welt ausdrückt. Liest man zuerst die Überschrift,
so hat man noch keinerlei Erwartungen an den Inhalt des Gedichts, was
eines der Grundthemen der Romantik, nämlich das Geheimnisvolle
widerspiegelt.
Das
lyrische Ich nimmt in diesem Gedicht eine beobachtende Person ein,
welches jedoch die Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte des Mädchens
kennt und diese widergibt. Da jedoch in der letzten Strophe das
Mädchen singt und somit die Rolle des lyrischen Ichs einnimmt, kann
man vermuten, dass das lyrische Ich seine Emotionen durch die des
Mädchens ausdrückt und sich somit selbst widerspiegelt.
Die
erste Strophe beschreibt die morgendlichen Schritte des Mädchens
nach dem Aufwachen. Schon im ertsen Vers tritt eine Ausnahme des
sonst regelmäßigen Reimschemas auf, da sich "Fenster" (V.
1) und"Haare" (V. 3) nicht reimen. Diese Abweichung hebt
das Fenstermotiv, also die Sehnsuchtsthematik des Gedichts stark
hervor. Ein weiteres Motiv der Romantik ist in der darauffolgenden
Metapher vorzufinden (V. 2). Es wird nämlich betont, dass es
"draußen
Morgen
war", woraus man schließen kann, dass im Inneren des Mädchens
noch Nacht herrscht und sie noch in ihren Träumen vertieft ist, was
man auf den Eskapismus, auf die Realitätsflucht übertragen kann.
Das "Kämm[en]" ihrer "Haare" (V. 3) spiegelt
ihren monotonen und eintönigen Alltag wider, was außerdem auch
durch den Parallelismus in der ersten Strophe ("Stand";
"Kämmte"; "Wusch") verstärkt wird. Die
Beschreibung der Haare mit dem Wort "lang[en]" drückt das
Streben nach Unendlichkeit aus, was normalerweise in der Romantik
durch das Symbol der "Blauen Blume" hervorgeht. Das
Diminutiv "Äuglein" (V. 4) weist darauf hin, dass ihre
Augen noch nicht viel von der Welt gesehen haben. Dadurch, dass das
Mädchen nun ihre "Äuglein" wäscht, versucht sie wieder
"klar" zu sehen und in die Realität zurückzukehren, also
ihre Träume und Sehnsüchte "wegzuwaschen".
Die
gesamte zweite Strophe akkumuliert die Natur. Vor allem die
Vogelmetaphorik wird zu Beginn angeführt und drückt die Sehnsucht
nach Freiheit aus, was zudem durch eine Personifikation verstärkt
wird ("Sangen Vögel", V. 5). Die folgende Alliteration von
"aller Arten" (V. 5) beschreibt die Vielfalt der Natur und
ruft den Drang hervor, dies alles zu erkunden und zu erleben. Auch
der personifizierte "Sonnenschein" (V. 6) bewirkt durch das
Wort "spiel[en]" eine freudige und spaßige Atmosphäre.
Jedoch wird darauffolgend ebenso betont, dass dies alles draußen
stattfindet und somit unerreichbar für das Mädchen ist "vor
dem Haus", V. 6 ; "Draußen", V. 7). Durch das
zeilenübergreifende Enjambement (V. 7-8) wird die Dynamik und das
Voranschreiten der Wolken pointiert. Die Wolken fliegen über den
Gartenzaun hinweg und überschreiten somit die gottgegebenen
irdischen Grenzen des Menschen, was somit das Motiv des Streben nach
Transzendenz sowie das Reisemotiv verdeutlicht. Ebenso stehen Wolken
metaphorisch auch für die Unbeschwertheit und die Freiheit, was hier
durch die W-Alliteration betont wird (V. 8). Das Mädchen,
beziehungsweise das Lyrische Ich strebt also nach Einklang mit der
gottgegebenen Natur, was typisch für die pantheistischen Romantiker
war.
In
der dritten Strophe wandert der Fokus wieder auf das Mädchen,
welches sich streckt und sich sorgenvoll ihr Haar flechtet. Die
Apokope "dehnt`" (V. 9) drückt aus, dass sich das Mädchen
ausdehne, ihr jedoch der nötige Freiraum fehlt, somit also wieder
der Freiheitsaspekt aufgegriffen wird. Die Begründung, sie "sei
noch schläfrig" ist aus einem Konjunktiv gebildet, woraus man
schließen kann, dass man diese "[S]chläfrig[keit]" nicht
wortwörtlich nehmen darf, sondern im übertagenden Sinne die
Müdigkeit vom monotonen Alltag gemeint ist. Dieser damit verbundene
Müßiggang ist auch eins der damaligen Motive der Romantik. Der nun
herrschende Gemütszustand des Mädchens wird explizit im
darauffolgenden Vers durch die anfängliche Interjektion ("Ach",
V. 11) sowie durch "sie war so voller Sorgen" beschrieben.
Das Flechten ihrer Haare (V. 12) unterstreicht ihren strengen und
strikten Alltag, das Singen dabei noch ihre Mädchenhaftigkeit und
ihre Unschuld. Der Grund dafür, dass sie so voller Sorgen sei liegt
daran, dass sie sich wie ein eingesperrter Vogel in einem Vogelkäfig
fühlt und sich somit nach Freiheit sehnt. Daraus entsteht ihr Neid,
beziehungsweise ihre Bewunderung für die Vögel, was in der letzten
Strophe, sobald sie anfängt zu singen, zum Ausdruck kommt.
In
der vierten Strophe erklärt sie durch einen Vergleich, dass die
Liebe draußen in der Natur wie ein Vogel existiere. Durch die
Apokope von "Lieb(e)" wird ausgedrückt, dass ihr
persöhnlich die Liebe fehlt und sie diese durch die Erkundung der
Natur erfahren möchte. Ihre Bewunderung zu den Vögeln wird durch
ein Oxymoron ("ein Vöglein hell und reine") erneut
verdeutlicht. Die durch eine Synästhesie veranschaulichte "muntre
Lieb" verstärkt den Drang des Mädchens nach draußen zu gehen
("Lockt hinaus zum Sonnenscheine", V. 15) und grenzt schon
fast an eine Art Verführung. Diese Sehnsucht wird durch ihr Seufzen
sowie durch die angewandte Exklamtio in Vers 16 betont ("Ach,
wer da zu Hause blieb´!"). Dieser Ausruf appelliert
gleichzeitig auch an den Leser, nicht zu Hause zu bleiben, sondern in
die Natur zu gehen und diese zu erforschen und zu erleben.
Abschließend
ist zu sagen, dass das Gedicht ein Gefühl von Harmonie und Freude
durch die angewandten positiven Adjektive und Substantive wie "klar"
(V. 4), "schönen" (V. 7), "hell" (V.13), "rein"
(V. 13), "muntre" (V. 14), "Vöglein" (V. 5),
"Sonnenschein" (V. 6) und "Lieb" (V. 14) bei dem
Leser bewirkt. Beim Analysieren der einzelnen Verse erkennt man
jedoch, dass das Gedicht von Sehnsüchten durchzogen ist und das
Mädchen ein neues Leben in Freiheit begehrt, was aber letztendlich
an der Wirklichkeit scheitert.
Betrachtet man nun das gesamte
Gedicht, so erinnert dieses stark an das Märchen "Rapunzel",
indem das Mädchen auch zu Hause eingesperrt ist und sich nach der
weiten Welt und Freiheit sehnt. Auch das Kämmen der langen Haare
weist Anspielungen auf dieses Märchen auf. Nicht nur das
Märchenhafte, sondern auch die Zuwendung zur Natur ist typisch
romantisch, welche, wie auch im Gedicht "Das Mädchen",
idyllisch verklärt wird. Dieser Drang zur Realitätsflucht ist die
Reaktion auf die nicht erwünschten Änderungen der Aufklärung sowie
der Industrialisierung, die den Menschen auf seinen wirtschaftlichen
Nutzwert reduzierte.