Franz Kafka: Der Prozess -
Übungsklausur
Interpretation der Hinrichtung: Das Ende
Die vorliegende Textstelle entstammt
Franz Kafkas modernem Roman „Der Proceß“, aus dem Jahr 1935. In dieser Stelle,
S.209, Z.7-S.211, Z.8, ist der Wandel K.s vom ignoranten und arroganten, in
einer vorgetäuschten „Normalität“ lebenden Bürger, zu einem erstmals
selbstreflektierenden Menschen vollzogen, jedoch auf Kosten seines Lebens. Bis
dieser Punkt erreicht war, musste allerdings einiges geschehen. „Der Proceß“
beginnt mit der Verhaftung K.‘s am Morgen seines 30.Geburtstages. Da weder
Gründe für die Verhaftung vorgebracht werden, noch eine Beschneidung seiner
persönlichen Freiheit daraus hervorgeht, entschließt sich K. , die Tatsache
seiner Verhaftung zu ignorieren. Das Folgende lässt sich nun in drei Teile
untergliedern: Zuerst wird das Gericht wieder aktiv, indem es K. zu Terminen
vorlädt und er die „Gerichtsräume“ auf dem Dachboden kennenlernt. Durch den
Besuch seines Onkels wird K. selbst aktiv, legt sich einen Anwalt zu, erhält
Hilfe von diversen Frauen (Leni, Fräulein Bürstner,…), wendet sich an den Maler
Titorelli, um Informationen über das Gericht zu erlangen und behandelt den
Prozess wie ein Geschäft, das es erfolgreich abzuschließen gilt. Seine vergeblichen
Versuche führen zu nichts und schlussendlich mündet der Prozess ohne Aufklärung
darin, dass K. in der vorliegenden Textstelle in einem Steinbruch, am Vorabend
seines 31.Geburtstages, hingerichtet wird.
Wie der Großteil des Romans wird auch
die Hinrichtung über weite Teile von einem personalen Erzähler erzählt, der aus
der Sicht K.‘s die Situation überblickt. Dies ermöglicht Kafka zugleich Distanz
zu K. zu wahren, sowie in bestimmten Teilen durch die erlebte Rede die Handlung
zu fokussieren.
Obwohl es zu seiner Hinrichtung geht,
ist K. am Anfang der Stelle der tonangebende und handelnde Akteur. Während „die
Herren stockten“ (S.209,Z.11), als ein Polizist auf das seltsame Trio
aufmerksam wird, „zog K. mit Macht die Herren vorwärts“ (S.209, Z.12-13) und
ergreift somit ein letztes Mal die Initiative. Er behält sie, bis sich die
Gruppe seinem gewohnten Umfeld, der Stadt, entzieht und bei dem, auf freiem
Feld gelegenen, Steinbruch ankommt. Von da an bleibt K. der stille Beobachter,
der schicksalsergeben seinem Ender harrt, „Jetzt ließen sie K. los, der stumm
wartete“ (S.209, Z.23). Nachdem eine passende Stelle gefunden wurde, führt einer
der Männer K. zu seinem Richtort. Dies, sowie das Tötungsinstrument, „ein
langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser“ (S.210, Z.15-16) wecken
Assoziationen an ein Tier, das gerade zur Schlachtbank geführt wird. Statt
Widerstand bringt K. ihnen jedoch so viel Entgegenkommen dar, wie im möglich
ist [vgl. S.210, Z.5-10]. Nur vor dem finalen Schritt, der Selbsttötung, scheut
er sich und sucht stattdessen im letzten Moment noch nach einem Strohhalm, an
den er sich klammern kann, „War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen
hatte? Gewiss gab es solche.“(S. 210, Z.33-35) Und so kommt es, dass trotz
seiner Bemühungen stolz und würdig zu sterben, er aufgrund dieser Gedanken
abwehrend die Arme hebt und „Wie ein Hund!“ (S.211, Z.7) stirbt.
Trotz der recht nüchtern gehaltenen
Sprache des personalen Erzählers finden sich eine Vielzahl von Motiven und
Symbole, die ständig wiederkehren und die Bedeutung des Textes noch einmal
unterstreichen. Da wäre zum einen der Polizist, „mit buschigem Schnurrbart“(S.209,
Z.9). Der Bart ist ein sich wiederholendes Motiv, das auch schon beim Kaufmann
Block auftauchte. Dann der „Steinbruch, verlassen und öde“ (S.209, Z.19),
ebenso wie auch sein Leben, indem es keine wirklichen Ansprechpartner gibt, da
er weder Vater noch Mutter hat, sondern nur den Onkel als Vaterersatz und Frau
Grubach als Mutterersatz hat oder seine Freundin, die nie gestaltlich
auftaucht, ist K.s Ende ein einsames. Ohne Freunde, ohne Familie, nur er und
die beiden Vertreter des Gerichtes. Ein weiteres vorkommendes Motiv, das sich
durch den Proceß zieht, ist das Licht, welches die Stimmung K.s widerspiegelt.
„Der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe“ (S.209, Z.27) zeigt, dass
sich K. abgefunden hat mit seiner Rolle als Verurteilter und bereit ist seinem
Ende entgegenzugehen. Ebenso wie K.s viele Initiativen erfolglos blieben und
seine Situation letztlich noch verschlimmerten, ist es auch mit dem Versuch der
Herren ihn in eine geeignete Position zu legen, sodass er letztlich irgendwie
in einer Lage liegt, „die nicht einmal die beste von den bereits erreichten
Lagen war“ (S. 210 Z.12-13). Sein letzter Hoffnungsfunke wird wiederum mit dem
Licht verdeutlicht. Weit entfernt sieht er aufklappende Fensterflügel, als ob „ein
Licht aufzuckt“ (S.210, Z.28), doch letztlich hilft ihm auch das nicht und so
stirbt er mit der ergebenden Geste seiner gehobenen Hände und der gespreizten
Finger [vgl. Z. 1-3]
In vielerlei Hinsicht hat das Ende
eine große Bedeutung. Der Roman endet mit dem drastischsten Abschluss, dem Tod
K.s. Doch trotz dessen Tod ist der Prozess nicht unbedingt abgeschlossen. Versteht
man den Prozess wie K. als juristischen Ablauf, der mit einem Urteil endet,
könnte man dies denken, obwohl weder Richter, noch Anklage, noch Urteil bekannt
sind, abgesehen von dem Tod K.s. Doch man kann den Prozess auch als eine Art Wesensschau,
einen inneren Verständnisprozess deuten und der hat am Ende, kurz vor K.s Tod,
gerade erst begonnen. K. versuchte ein Jahr lang Unschuldsbeteuerungen vorzubringen,
seinen Prozess abzuhaken und sein „normales“ Leben wieder aufzunehmen, ohne
sich mit der Frage zu beschäftigen, worin seine Schuld bestand. Von
vorneherein lehnte er es ab an seine Schuld zu glauben, sondern empfand sich als
ungerecht behandeltes Opfer. Gerade in dieser Verleugnung könnte man die wahre
Schuld K.s sehen. Ebenso könnte man „Der Proceß“ auch als autobiographisches
Werk Kafkas ansehen, da zahlreiche Parallelen zwischen K. und ihm bestehen. Die
instabile Familienstruktur, die berufliche Tätigkeit als Prokurist, das
Verhältnis K.s zu Fräulein Bürstner und natürlich die fehlende Bindung zu
seinem Vater. Insofern könnte man den Prozess als Entwicklungsprozess ansehen,
durch den Kafka versucht, die wirkliche Welt zu verarbeiten. Doch ganz zum
Schluss zeigt sich in den Worten „Wie ein Hund!“ (S.211 Z.7), dass er die
fehlende Beziehung zu seinem Vater einfach nicht verarbeiten kann. Die
Willenlosigkeit K.s stände somit stellvertretend auch für die Resignation
Kafkas, der vielleicht bis zum Schluss noch die Hoffnung hatte die Beziehung zu
seinem Vater zu reparieren und dann letztlich doch versagte. Als letztes
übergeordnetes Thema kann auch K.s Versuch angesehen werden sein Leben zu
meistern. Er versucht in der fremden Welt des Gerichtes zu bestehen, scheitert
aber letztlich daran zu dieser anderen Denkweise durchzudringen. K. steht damit
stellvertretend für alle Gescheiterten, die sich im Leben zu behaupten
versuchen und dann doch scheitern.
Nicht nur die Figur K. in Kafkas „Der
Proceß“, sondern auch Kohlhaas in Kleists „Kohlhaas“ versucht sich im Leben zu
behaupten und gegen eine übergeordnete Macht zu bestehen, doch ihre Wege, um
ihre Ziele und Absichten durchzusetzen unterscheiden sich diametral. Während K.
ausschließlich den gesetzlichen Weg eines positiven Rechtsstaats beschreitet, verlegt
sich Kohlhaas sowohl durch gewaltsames Vorgehen, in Berufung auf das
Naturrecht, seine Interessen durchzusetzen, sowie auf den Versuch mit Luthers
Hilfe Rechtsmittel gegen eine Ungerechtigkeit einzulegen, die angesichts seiner
angerichteten Kollateralschäden verschwindend gering erscheint. Beiden wird
letztlich der Prozess gemacht und über beiden schwebt das Todesurteil. Doch
ebenso, wie sich die Wege ihrer Einflussnahme unterscheiden, unterscheidet sich
auch ihr Vorgehen im Angesicht des drohenden Todes. Während K. mehr oder weniger
unvorbereitet vor seinem 31.Geburtstag abgeholt wird und sich ohne Gegenwehr
hinrichten lässt und im Gegenteil seinen Henkern noch willfährig bei seiner
Positionierung, sowie dem Erreichen seines Richtplatzes am Steinbruch dient,
handelt Kohlhaas ganz anders. Durch den Brief der Zigeunerin hat er es in der
Macht, sich von seinem Urteil freizukaufen, doch er hat sich schon so weit in
seinen Konflikt hineingesteigert, dass er dazu nicht mehr fähig ist. Sein Ziel
ist nunmehr einzig allein die Rache. Statt also willig und schicksalsergeben
auf sein Ende zu harren, verschafft sich Kohlhaas die finale Genugtuung, indem
er dem Kurfürsten von Sachsen den Zettel, auf dem angeblich die Entwicklung
seiner Herrschaft und seiner Familie niedergeschrieben ist, verweigert und kurz
vor seiner Hinrichtung, im Beisein des Kurfürsten verspeist. Kohlhaas erhält
also zweifache Genugtuung. Die Wiederherstellung seines Rechtsanspruches in
Form der Rappen und den Sieg über den Kurfürsten. Der Preis dafür ist jedoch
sein Tod. K. auf der anderen Seite, der bis zu seinem Tod noch keine
vollständige Einsicht erlangte, geht hingegen leer aus. Weder hat irgendeine
seiner Initiative Erfolg gehabt, noch hat sich an seiner Situation oder seinem
Erkenntnisstand ausreichend viel geändert, um seinen Tod abzuwenden oder sein Vaterproblem
zu lösen.