Formen des Zusammenlebens. Abschied vom Familienleben?
Inhalt
Formen des Zusammenlebens……………………………………S. 2
Familie gestern – Familie heute………………………………….S. 4
Familien in Deutschland………………………………………….S. 12
Keine Lust auf Kinder? .S. 19
Familie im Mittelpunkt………………………………………… .S. 24
Die Familie geht nicht unter S. 28
Singles: Eine hektische Jagd nach Anerkennung……………………….S. 30
Von der Groβfamilie zum Single-Haushalt:
Abschied vom Familienleben? .S. 31
Liebe auf Bewährung .S. 32
Das internationale Jahr der Familie: Ressoursen, Aufgaben,
neue Perspektiven .S. 34
Immer mehr alte, immer weniger junge Menschen:
VergreistdiedeutscheGesellschaft? S. 36
Andere Liebe, gleiches Recht S. 37
13.StrukturundEntwicklungderBevölkerung………………………… S. 38
14. Quellen …………………………………………………………….S. 48
15. Zusätzliche Quellen und Adressen ……………………………… .S. 48
FORMEN DES ZUSAMMENLEBENS
Aufgabe 1. Die folgenden Absätze eines Textes überverschiedene Lebensformen in Deutschland sind durcheinandergeraten. Lesen Sie die einzelnen Abschnitte schnell und achten Sie dabei auf verbindende Inhalte.
Unterstreichen Sie die Wörter, die eine Verbindung zwischen den Absätzen herstellen.
Aufgabe 2. Notieren Sie die richtige Reihenfolge der Absätze.
Aufgabe 3.Geben Sie den Inhalt der Textabschnitte in zusammengefasster Form wieder.
(aus „Blick auf Deutschland)
Familie gestern – Familie heute
Familien in Deutschland
Familien in Deutschland sehen sich - wie anderswoauch - tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber. Neue Lebens- und Beziehungsformen, der Wandel der Arbeitswelt und allerlei Hemmnisse von mangelnder Kinderbetreuung bis zu fehlenden finanziellen Ressourcen führen dazu, dass immer weniger junge Menschen sich den Wunsch nach einer eigenen Familie erfüllen. So schrumpft und altert die Bevölkerung - mit drastischen Folgen.
Das gemütliche Frühstück im Bett, mit frischem Obst und einem leckeren Müsli, dazu ein Croissant und ein ausgiebiger Blick in die Tageszeitung - fällt heute aus. Wie auch schon gestern und vorgestern und morgen und übermorgen. Gemütlich ist es nicht, unter der Woche, im Hause von Kerstin Decker. Um 6 Uhr klingelt der Wecker, aufstehen, Brote schmieren für die drei Kinder, Frühstück richten, und dann stürmt auch schon Tonio, 12, der Sohn aus ihrer ersten Ehe, die Treppe herunter.
Der war ausnahmsweise mal ganz auf Feiertag eingestellt und muss sich nun sputen, um die Straßenbahn zu seiner Schule noch zu erreichen. Wenig später ein Küsschen, „bis nachher“, dann verlässt ihr Lebensgefährte das Reihenhaus und mit ihm Tochter Valerie. Volker Herzberg, Leiter der Online-Redaktion der Leipziger Volkszeitung, bringt die Siebenjährige mit dem Auto zu einer Privatschule, wo sie bis gegen 15 Uhr lernen, Mittag essen, spielen, Musik und Hausaufgaben machen wird.
Und jetzt, nachdem rasch das Gröbste aufgeräumt und die Butter im Kühlschrank verstaut ist, nachdem bei Töchterchen Annabel, 2, die Schmusetiere versorgt und die Zähne geputzt sind, wird es auch Zeit für Kerstin Decker, sich mit dem Nesthäkchen auf den Weg in die Kinderkrippe zu machen. „Auf, auf“, treibt sie Annabel an, in der Redaktion der Leipziger Volkszeitung, wo Kerstin Decker für eine Stadtteil-Ausgabe verantwortlich ist, wartet ein Gesprächspartner.
Es ist Mittwochmorgen, und in Leipzig, wie überall im Land, hat für Mütter und Väter das alltägliche Ringen begonnen: um Zeit für die Kleinen und Anerkennung des Chefs, um berufliches Fortkommenund privates Glück, um Erziehung, Einkommen und Ehe. Oft ist es auch ein Ringen um elementare Bedürfnisse, um ein gesundes Mittagessen und tragbare Kleidung.
Familie sein in Deutschland heißt auch heute noch in den meisten Fällen: die Mutter kümmert sich um Haushalt und Kinder, der Vater sorgt fürs Geld zum Leben. Doch der „Mythos Mutter“ bröckelt, Frauen - selbstbewusst und hervorragend ausgebildet - wollen beides: Kind und Karriere; Männer - geprägt vom „Balancing“, dem von Unternehmen und Arbeitsforschern propagierten Ausgleich zwischen Beruf und Privatem - verbringen immer mehr Zeit mit dem Nachwuchs; die Firmen - geplagt vom Verlust weiblichen Know-hows - sorgen für neue innerbetriebliche Betreuungsmöglichkeiten.
Und die Politik? Die hat nun auch ihr Herz für die Familien entdeckt. Abgeordnete aller Couleur übertrumpfen sich mit Forderungen nachmehr Geld für Kinder und Eltern, nach Krippenplätzen und Ganztagsschulen, nach Gleichberechtigung für Frauen. Familienpolitik ist wieder ein Thema, in der Politik wie in den Medien, wo seit Wochen „Zurück zur Familie“, „Abenteuer Kind“ und „Cabrio statt Kinderkarre“ getitelt wird.
Der Generationenvertrag auf der Kippe
Aufgeschreckt hat sie alle vor wenigen Wochen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das unmissverständlich deutlich machte: der Generationenvertrag, die Verantwortung der Jungen für die Alten und Schwachen, funktioniert nicht mehr. Die Pflegeversicherung, genauso wie die Renten- und große Teile der Krankenversicherung, bauen in Deutschland darauf, dass die Jungen mit ihren Beiträgen die Versorgung der Senioren garantieren.
Doch nun steht dieses Konzept auf der Kippe. Der Grund: Es fehlen die Kinder. Wie in den meisten modernen Gesellschaften geht auch in Deutschland die Schere Zwischen Sterbefällen und Geburten auseinander. Wurden 1964 in Gesamt-Deutschland noch 1,36 Millionen Kinder geboren, waren es 1999 nur noch 771 000. Die Zahl der Todesfälle lag mit 846000 erheblich über der Zahl der Geburten.
Die deutsche Bevölkerung schrumpft aber nicht nur, sie wird auch immer älter - ebenfalls in Europa kein singuläres Faktum. Noch 1997 waren 21,5 Prozent der deutschen Bevölkerung unter 20 Jahren alt, fast ebenso viele waren 60 und älter. Im fahre 2050 dürfte der Anteil der Unter-Zwanzigjährigen auf 15 Prozent gesunken und der der Alten auf 38 bis 40 Prozent gestiegen sein.
Kinderlose und Familien im Wettstreit
Was passieren müsste, um die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vor dem Kollaps zu bewahren, malte der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg aus. Entweder bringen alle Frauen im gebährfähigen Alter in den kommenden Jahrzehnten im Schnitt nicht mehr nur 1,3, sondern 3,8 Kinder zur Welt. Oder es wandern in den nächsten 50 Jahren rund 188 Millionen junge Ausländer ein.
Oder das Rentenalter steigt langfristig auf 73 Jahre. Für die Verfassungsrichter stand angesichts der nicht übermäßig realistischen Alternativen fest, dass die Sozialsysteme einer Generalüberholung bedürfen: Wer Kinder aufzieht und damit die Verantwortung für die Versorger der folgenden Generation auf sich nimmt, muss in Zukunft von Beiträgen für die Sozialkassen zumindest teilweise befreit sein.
Das wäre schon ein Fortschritt, findet Kerstin Decker. Für sie war klar, dass Sie nach der Geburt ihrer Kinder bald wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte - weil Sie gerne Redakteurin ist, aber auch, weil die Familie auf ihr Gehalt nicht allzu lange verzichten konnte. „Wenn es mehr Erziehungsgeld gäbe, wäre ich nach Annabels Geburt auch noch ein bisschen länger zu Hause geblieben“, räumt sie ein.
Auch wenn derzeit in der Republik ein bizarrer Wettstreit darüber ausgebrochen ist, ob sich Familien oder Kinderlose stärker ausgebeutet und sozial benachteiligt fühlen dürfen, fest steht, dass Kinder Geld kosten. Nach Berechnungen des Bundesfamilienminisreriums summieren sich bei einem Ehepaar mit einem Kind die öffentlichen und privaten Aufwendungen bis zum 18. Lebensjahr auf mehr als 715 000 Mark.
Etwa ein Drittel davon trägt der Staat. Zwar zahlen Kinderlose höhere Steuern, doch der meist unvermeidliche Verzicht eines Elternteils auf den Job wiegt unterm Strich schwerer. Nach Berechnungen des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberq von 1998 müssen junge Ehepaare mit Kindern „deutliche Einkommensnachteile“ gegenüber Kinderlosen in Kauf nehmen. So hatten kinderlose Paare pro Kopf 2545 Mark netto zur Verfügung.
Familien mit einem Kind kamen auf 1594 Mark, 37 Prozent weniger. Bei zwei Kindern waren es 49 Prozent, bei drei Kindern gar 57 Prozent weniger.
Nachdem die Familien jahrelang von der Politik eher stief-mütterlich behandelt wurden, erhöhte die rot-grüne Regierung nach dem Regierungswechsel 1998 das Kindergeld zunächst in zwei Stufen von 220 auf 270 Mark. Die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld von monatlich 600 Mark für die ersten beiden Lebensjahre des Kindes wurden deutlich angehoben. Anfang 2002 steht die nächste Kmdergelderhöhung um weitere 30 Mark für das erste und zweite Kind an.
Zudem können nun berufsbedingte Betreuungskosten steuerlich geltend gemacht werden, und die steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungs- und Ausbildungskosten wurde erweitert. „Wir sind auf dem richtigen Weg", sagt Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), doch weiß sie, dass kein Paar für Nachwuchs sorgt, nur weil es pro Kind 30 Mark mehr zum Ausgeben hat.
Mangelnde Betreuungsmöglichkeiten
„Wir müssen alles dafür tun, damit die Übernahme von Eltern-verantwortung vereinbar ist mit anderen Wünschen zur Lebensgestaltung“, sagt Ministerin Bergmann und meint vor allem die Kombination von Beruf und Familie, „eine der großen gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben“. Die Bundesregierung hat deshalb schon bald nach Regierungsantritt entsprechende Initiativen ergriffen: So können Eltern seit 1. Januar 2001 die „Elternzeit“, wie der Erziehungsurlaub seitdem heißt, gemeinsam in Anspruch nehmen und gleichzeitig auf Teilzeitarbeit bis zu 30 Wochenstunden umsteigen.
Vor allem in den alten Bundesländern ist das öffentliche Betreuungsangebot äußerst dürftig. Meist kommen dort die Schulkinder um die Mittagszeit hungrig nach Hause. Dabei wünschen sich 50 Prozent der Eltern für ihren Nachwuchs eine Ganztagsbetreuung
Kerstin Decker kann sich glücklich schätzen, im Osten Deutschlands zu leben. Hier profitieren die Frauen vom noch immer dichten Netz an Krippen, Kindergärten und Horten, das in der DDR geknüpft worden war, um Frauen in die Arbeitswelt zu integrieren und die systemkonforme Erziehung des sozialistischen Nachwuchses zu gewährleisten. Natürlich wünscht sich niemand die Verhältnisse in den sozialistischen Kinderkrippen, geprägt von staatlichen Plänen und autoritärer Pädagogik, zurück.
„Aber wir sind froh, dass wir diese Angebote haben“, sagt Kerstin Decker, „und nutzen sie auch“.
Zwar beschleicht sie bisweilen das „schlechte Gewissen, dass eines zu kurz kommt: der Job oder die Kinder.“ Kerstin Decker will dennoch auf keines verzichten und weiß sich durchaus in einer von vielen beneideten Stellung. Mit der guten Betreuungssituation, die zwei Jobs und zwei Gehälter ermöglicht - und mit zwei Elternteilen - gehört ihre Familie nicht zu den Unterprivilegierten im Land.
Viel härter trifft es da die steigende Zahl der allein Erziehenden, vor allem die Mütter. Sieweisen mit Abstand die höchsten Sozialhilfequoten auf. Jede dritte Frau, die ohne Partner zwei Kinder versorgt, bezieht Hilfe zum lebensunterhalt. Von den drei Millionen Sozialhilfeempfängern ist inzwischen jeder dritte unter 18 Jahren alt. Immer mehr Kinder und Jugendliche werden als „arm" eingestuft, und immer häufiger werden sie zum Armutsrisiko.
Die jungen Deutschen ficht die Statistik nicht an. Die Zahl derer, die Familie als „sehr wichtig“ einstufen, liegt bei rund 80 Prozent. Gar 90 Prozent der Jugendlichen träumen davon, später zu heiraten, und Frauen unter 20 Jahren möchten im Schnitt noch immer zwei Kinder haben. Doch die Realität hinkt hinterher: Zwar ist die Ehe nach wie vor die weitaus beliebteste Form des menschlichen Zusammenlebens.
Chancengleichheit für Frauen und Männer
In manchen Unternehmen scheint die Botschaft angekommen zu sein. Im inzwischen globalen „war for talents“, dem Kampf um die besten Köpfe, haben die Manager die Frauen entdeckt. „Noch nie gab es so gut qualifizierte Frauen wie heute“, sagt Familienministerin Bergmann. Frauen von der Erwerbstätigkeit auszuschließen, sei deshalb „eine Verschleuderung menschlicher Ressourcen", ergänzt ihre Parteifreundin Renate Schmidt.
Die Lufthansa etwa hat die Palette der Arbeitszeitmodelle um Teil- und Gleitzeit. Telearbeil. Jahresarbeitszeit und Sabbaticals erheblich erweitert. Alle Angebote richten sich an Männer wie Frauen. „Wer sich so genau überlegt, wie er arbeiten will, ist meist hoch motiviert und will beweisen, dass es klappt“, sagt Gerhard Weiß. Beauftragter für Chancengleichheit. Für den Luftfahrt-Konzern bedeutet Chancengleichheit, dass Frauen und Männer sowohl gute Mütter und Väter wie erfolgreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein können.
Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Geburtenrate eines Landes und der Erwerbsbeteiligung von Frauen verdeutlicht ein Blick in die Nachbarländer. Deutschland weist mit 1,37 Prozent eine der niedrigsten Geburtenraten innerhalb der EU und mit 65 Prozent eine niedrige Frwerbsbeteiligung von Frauen auf. In Frankreich etwa, wo Ganztagsbetreuung von der Vorschule bis zum Abitur garantiert ist, sind 79 Prozent der Frauen zwischen 25 und 49 Jahren berufstätig, erstaunliche 45 Prozent der Mütter von drei Kindern haben einen Job.
Wie also lässt sich vermeiden, dass sich Deutschland allmählich in eine Gesellschaft ohne Kinder verwandelt? Fest steht: Die Zukunft der Familie ist unmittelbar mit der Zukunft der Arbeit verknüpft. „Wenn Menschen gezwungen sind, zwischen einem glücklichen Familienleben und einer erfolgreichen Karriere zu wählen, haben wir alle von vornherein verloren“, sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Nur wer die zeitlichen und finanziellen Ressourcen hat, um Beruf und Baby miteinander zu vereinbaren, wird sich nicht für das eine oder das andere entscheiden. Es kann in Zukunft nicht mehr darum gehen, ein zeitliches Nacheinander von Familie und Beruf zu organisieren, vielmehr ist ein zeitliches Nebeneinander gefragt. Zudem gilt es, sich intensiver mit dem Thema „Mann und Familie“ und der traditionellen Rollenverteilung zu befassen.
Noch immer sind Frauen dreimal länger als Männer im Haushalt und mit den Kindern beschäftigt.
Dazu kommt, was Soziologen als Patchwork-Biographien beschreiben. Der Lebensweg verläuft immer seltener linear von der Ausbildung über die Erwerbsarbeit bis hin zum Ruhestand bei Frauen nur unterbrochen durch die Familienzeit. Die Individualisierung der Gesellschaft, die Verschiebung der Werte und der Wandel der Arbeitswelt mit der Notwendigkeit lebens1angen Lernens führen zu Biographien mit Brüchen, in denen sich Ausbildung, Erwerbsarbeit, ehrenamtliches Engagement, Familie, Weiterbildung und Sabbaticals ständig abwechseln.
Auf den Stress könnte sie verzichten, auf die Kinder niemals. „Bei der Arbeit kann dich eigentlich immer jemand ersetzen. Nur bei den Kindern, da hast du das Gefühl, dass du wirklich gebraucht wirst.“
Die „Groβfamilie“
Kerstin Decker, 39 (Redakteurin)
Volker Herzberg, 36 (Ohnline – Redakteur)
Tonio (12), Valerie (7) und Annabel (2)
aus Leipzig
Mit zwei Gehältern kommt die fünfköpfige Familie von Kerstin Decker und Volker Herzberg ganz gut über die Runden. Doch große Sprünge sind nicht drin. Kleidung und Essen, hier ein neuer Schulranzen, da ein neues Fahrrad, dazu die Zeit, die die Eltern über die Jahre in die Betreuung der Sprösslinge fürs Windelwechseln, Wäschewaschen oder Essenzubereiten investieren: Rund
900 000 Mark, so haben Experten im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfamilienministeriums ausgerechnet, entspricht der Erziehungsaufwand für ein Ehepaar mit drei Kindern, bis sie 18 Jahre alt sind. Noch einmal 700 000 Mark zahlt der Staat in Form von Kindergeld oder Steuerfreibetrag.
Die “Ein-Eltern-Familie“
Joanna Payar, 23 (Schülerin), Edda (2) aus Stuttgart
Die kleine Edda feiert demnächst ihren 3. Geburtstag, und im September beginnt für sie mit dem Kindergarten ein neuer Lebensabschnitt. Dann kann Mutter Joanna ein bisschen mehr Zeit fürs Lernen erübrigen, hat sie sich doch vorgenommen, das Abitur nachzuholen, um so ihre Chancen auf einen späteren Arbeitsplatz zu verbessern. Die allein Erziehende hält den dreijährigen Erziehungsurlaub bisweilen für kontraproduktiv: „Wer so lange raus aus dem Job
ist, hat es schwer wieder zurückzukommen“, glaubt sie und spricht sich für bessere Betreuungsmöglichkeiten, vor allem auch in den Firmen, aus. Joanna genießt jede Minute mit Edda, doch als allein Erziehende steht sie rund um die Uhr für ihre Tochter in der Verantwortung. Ausgehen und Freunde treffen? Am Wochenende, wenn Edda bei ihrem Vater ist.
Die “Vater-daheim-Familie”
Annedore Smith, 49 (Journalistin)
Nigel Smith, 62 (Toningenieur im Ruhestand)
Stefan (15) aus Oberursel
On Oberursel, am Rande der Bankenstadt, besucht Stefan nun die 10. Klasse der Internationalen Schule. Nigels Rente geht für das Schulgeld drauf. Das schmerzt, doch Annedore Smith denkt “britisch”: “In England legt man sich krumm für die Schulausbildung”. Bessere Betreuungsmöglichkeiten sollte es auch in Deutschland geben, meinen die Smiths. Doch jede Familie müsse entscheiden, ob auch ihre Kinder davon profitierte.
Michael Zipf ist Redakteur der Zeitschrift „Deutschland"
Deutschland, N 4, 2001
Keine Lust auf Kinder?
Die Deutschen werden immer älter,
aber der Nachwuchs fehlt
Steigende Lebenserwartung, geringe Geburtenraten: Der demographische Wandel gehört zu den tiefstgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Folgen für die Erwerbsgesellschaft und die sozialen Sicherungssysteme sind für Bevölkerungswissenschaftler schon deutlich absehbar.
Die deutsche Bevölkerung zählt am Ausgang des 2O. Jahrhunderts 82Millionen Menschen und nimmt damit unter den registrierten Staaten und Territorien den zwölften Platz in der nach Bevölkerungsgrößen geordneten Rangliste ein. Sie weist aber innerhalb Europas Besonderheiten und Problemlagen auf, was die Altersstruktur, das Verhältnis von Geburten und Sterbefällen und das Wunderungsgeschehen betrifft.
•Deutschland hält seit einem Vierteljahrhundert eines der niedrigsten Geburtenniveaus, so dass sich seit 1973 jährliche Geborenendefizite zur realen Abnahme der deutschen Wohnbevölkerung häufen.
Die Geborenendefizite verstärken den Anteil der älteren Jahrgänge an der Gesamtbevölkerung und verschiebenim Verhältnis von Jung zu Alt die Gewichte zu den Altenjahrgängen hin.
Das „Bismarcksche Sozialsystem“ unterstellte eine ausreichende Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter und im beitragspflichtigen Arbeitsverhältnis, die eine geringere Zahl von Menschen in abhängigen Lebensphasen der Jugend und besonders des Alters unterhalten. Sobald Geborenendefizite die Reihen der Aktiven lichten, Arbeitslosigkeit das Beitragsaufkommen der Sozialversicherungssysteme mindert und die Altenjahrgänge anteilsmäβig wachsen, geht dieser Generationenvertrag in eine schwierige Phase.
Deutschland registriert eine stete Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland auf recht unterschiedlicher administrativer Grundlage. Die Netto-Zuwanderung, das ist der Saldo von Zu-und Abwanderung, kann um die 400 000 jährlich schwanken. Sie verdankt sich keiner Anwerbung von „Gastarbeitern“ mehr, wie noch in den 60er und frühen 70er Jahren, sondern gesetzlichen Bestimmungen, die den Ankömmlingen entweder Aufenthalt oder ein aufenthaltsbegründendes Verfahren garantieren.
Ursprünglich hatte die deutsche Bevölkerungsentwicklung den für westlich-europäische Länder typischen Verlauf genommen. Die groβen gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und die Zeit bis zur Weltwirtschaftskrise Ende der 20-er Jahre brachten eine Verdoppelung der Menschenzahl im Deutschen Reich mit 64 Millionen Einwohnern 1930 (gegenüber 32 Millionen um 1811 bezogen auf denselben Gebietsstand).
Doch scheint ein Rückblick auf die wechselvolle Bevölkerungsgeschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nützlich, die noch vor der Teilung des Landes mit der Aufnahme von zwölf Millionen deutschen Flüchtlingen aus östlichen Siedlungsgebieten begann.
Die Teilung Deutschlands belieβ 1950 in den Westzonen (Bundesrepublik Deutschland) 50 Millionen und der damaligen Sowjetzone (Deutsche Demokratische Republik) 18 Millionen Menschen. Mit dem Mauerbau 1961 wollte die DDR die Massenflucht ihrer Bewohner in die aufblühende Bundesrepublik stoppen. Bis zur Wiedervereinigung wuchs Westdeutschland auf 61 Millionen Mensehen an, die DDR zählte etwas über 17 Millionen Menschen.
Die Folgen für die Bevölkerungsentwicklung waren verblüffend. Zuerst beteiligten sich die Deutsehen am „Baby-Boom“; von Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre gab es eine Heirats- und Nachwuchswelle in allen westlichen Industrienationen, die in den USA besonders stark ausgeprägt war und von dort auch den Namen bezog für die vielen geschlossenen Jungehen mit drei bis vier Kindern.
In Deutschland war der Baby-Boom zwar nicht ganz so stark ausgeprägt wie in den USA, trotzdem ging die Geburtenziffer (18 auf Tausend der Bevölkerung) steil nach oben. Damit hatte Westdeutschland zumindest zwischen I960 und 1965 an die 20er Jahre angeknüpft, die zuletzt solche Geburtenzahlen aufwiesen: etwas mehr als zwei Kinder pro Frau, was demographisch ausreicht, die Elterngeneration zu ersetzen und eine Bevölkerungszahl zu stabilisieren.
Dieser „Baby-Boom" ist sicher auf den Optimismus und die Wirtschaftserfolge der Nachkriegsjahre zurückzuführen, die auch in den unteren sozialen Schichten in einem Umfang wie nie zuvor angekommen waren und den Lebensstil deutlich anhoben. Die Geburtenzahlen erreichten 1964 mit über einer Million die Spitze. Es gehört zu den rätselhaften Bewegungen. Was hier die „Fertilität“ nun in den Folgejahren vollführte.